Schiiten hoffen auf den „Retter vor dem IS“ – Doch eine militärische Intervention Russlands könnte das Land endgültig zerreißen
von Birgit Cerha
Seit russische Jets in Syrien massive Bombenangriffe gegen
Rebellen, darunter auch die Terrormiliz des „Islamischen Staates“ (IS)
fliegen, ist unter der schiitischen Mehrheit des benachbarten Irak neue
Hoffnung in einer seit Monaten quälenden politischen und militärischen
Stagnation entflammt. Kommentatoren sprechen von einer „Putinmanie“, die
sich über soziale Netzwerke entlädt. Dort posten Schiiten ihre
sehnsuchtsvolle Erwartung des „Hadschi Putin“, der sie von dem Terror
des IS erlösen werde. „Putin of Arabia“ nennen ihn manche, oder gar
„Putin, der Schiite“, und einige stellen sein Foto anstelle des ihren
ins Facebook.
Das ist der soziale Hintergrund vor dem politischen und
militärischen, der den schiitischen Premier Abadi massiv unter Druck
setzt. Denn die mächtigen schiitischen Milizen – allen voran die dem
Iran stark loyalen Badr Brigaden, Asaib Ahl al Haq und Kataeb Hezbollah -
drängen den Regierungschef mit allen Mitteln, endlich Russland
offiziell zum Luftkrieg gegen den IS im Irak einzuladen. Tief beunruhigt
hatte der neue Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs der USA, General
Joseph Dunford, bei einem Besuch in Bagdad am 20. Oktober Iraks Premier
ultimativ gewarnt, er müsse zwischen den USA oder Russland als
Schutzmacht wählen. Abadi, stellte Dunford anschließend klar, hätte
einen Hilfsappell an Putin ausgeschlossen. Abadi, der vor einem Jahr mit
Unterstützung der USA und des Irans an die Macht gekommen war, braucht
aber dringend jede Hilfe gegen die Terrormiliz, doch einen Bruch mit
Washington will er keinesfalls riskieren.
In seinem ersten Regierungsjahr konnte Abadi weder an den IS
verlorenes Territorium durch den Einsatz der staatlichen
Sicherheitskräften zurückerobern, noch konnte er die tiefe Kluft
zwischen Schiiten und Sunniten schließen, um so eine gemeinsame Basis
für den Kampf gegen den IS und den Aufbau eines stabilen politischen
Systems zu schaffen. Vielmehr verschärfte sich das Misstrauen zwischen
den beiden Bevölkerungsgruppen. Denn der Vormarsch des IS, der zum
Zusammenbruch der irakischen Streitkräfte geführt hatte, stärkte die
radikalen, militärisch stark von Teheran unterstützten Schiitenmilizen
in einem Maße, dass sie heute militärisch weit effizienter sind als die
einst von den Amerikanern aufgebauten Regierungstruppen. Zugleich gelang
es den Milizen, Teile der Streitkräfte und des staatlichen
Sicherheitsapparats unter ihre Kontrolle zu zwingen und häufig völlig
unabhängig von der Staatsführung zu operieren. Abadis Macht ist damit
drastisch eingeschränkt.
Führer der Badr Brigaden kritisieren heftig die ihrer Meinung nach
viel zu geringen und wirkungslosen US-Luftschläge gegen den IS. Dies
sei auf die strikten Befehlsprotokolle zurückzuführen, die die
US-Piloten zu befolgen hätten. Sie dürften weder Privatautos und
Brücken, aber auch keine Moscheen und Schulen attackieren, obwohl der IS
diese Gebäude als Hauptquartiere benütze, erläutert dazu ein irakischer
Offizier gegenüber dem Online Nachrichtenportal „Middle East Eye“. Die
US Luftwaffe folge strikten Anordnungen, die Ziele ihrer Attacken zuvor
genau zu identifizieren. Damit gewännen die IS-Terroristen in den
meisten Fällen ausreichend Zeit, um ihre Waffen und sich selbst in
Sicherheit zu bringen. Dies sei aber „ein außergewöhnlicher Krieg, in
dem sich unser Feind an keine Regeln hält“, betont der Offizier. Die
Russen hätten „keine roten Linien“, deshalb setzten die schiitischen
Milizen nun auf sie. Ende September versprach zudem Ruß´lands
Außenminister Lavrov, dem Irak moderne Waffen, auch Bomber, zu liefern –
ohne politische Bedingungen, wie er mit einem Seitenhieb auf die USA
bemerkte.
In manchen radikaleren Schiitenkreisen zweifelt man überhaupt an
Washingtons Entschlossenheit, den IS zu besiegen. So hätten die
Amerikaner wiederholt eine Befreiungsaktion der im Juni 2014 von der
Terrormiliz besetzten Stadt Mosul aufgeschoben.
Es sind jedoch sorgfältige politisch-strategische Überlegungen, die
die USA zu der so heftig kritisierten Vorsicht zwingen. Wie 2007, als
sie sunnitische Stämme zu dem sehr erfolgreichen Kampf gegen den
IS-Vorgänger „Al Kaida im Irak“ gewannen, sind die USA auch nun davon
überzeugt, dass ein langfristiger Erfolg gegen den IS nur mit
prominenter aktiver Beteiligung der Sunniten möglich ist. Um dafür ihr
Vertrauen zu gewinnen, ist es zwingend, dass die wegen wiederholter
Massaker unter Sunniten zutiefst verhassten Schiitenmilizen eine
sekundäre Rolle im Krieg gegen den IS spielen. Intensiv bemühen sich die
USA in persönlichen Begegnungen, Stammesführer für die Kampagne gegen
den IS zu gewinnen. Dennoch kommt der Aufbau sunnitischer
Militäreinheiten nur zögernd voran. Deshalb hat Washington die Offensive
gegen Mosul aufgeschoben.
Für die Luftschläge gegen den IS besitzen die USA im Irak, aber
auch in Syrien dank ihrer alten Kontakte zu den sunnitischen Stämmen
einen entscheidenden Informationsvorsprung gegenüber dem Kreml, der sich
nur auf Iraks Schiiten und deren iranische Verbündete stützen kann.
Würde Putin im Irak ohne Koordination mit den USA Luftschläge gegen den
IS beginnen, sind große Verluste unter der Zivilbevölkerung höchst
wahrscheinlich und damit würde eine derartige Kampagne der Terrormiliz
in die Hände spielen. Schon jetzt sehen viele Sunniten Putin als ihren
Feind. Ein russischer Luftkrieg birgt zudem die enorme Gefahr, dass der
Irak zum Schlachtfeld eines Rivalitätskampfes der Großmächte um
Einfluss im Mittleren Osten wird. Der Irak, so klagt der sunnitische
Politiker Atheel al Nujaifi in der irakischen Website „Niqash“, „unsere
Gesellschaft kann solche von außen auf unseren Boden getragene Konflikte
nicht mehr verkraften“.
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