Samstag, 22. August 2015

Ist Ägypten der Nil und der Nil Ägypten?

Uralte Privilegien zur Nutzung dieses Lebensquells versiegen  – Andere Anrainerstaaten erheben Ansprüche, schaffen Fakten und die Basis für gefährliche Konflikte
 
 von Birgit Cerha
 
 
„Seht Ich habe die beiden Ufer überschwemmt….Ihr Menschen! Seht mich: Ich bin der Nil, der vorgeburtliche, der das Seiende schafft und das Nichtseiende entstehen läßt…. Denn ich bin der Nil der breitgesichtige, der Schöpfer der Götter, der König der Unwesen…., der, auf dessen Geheiß alle Götter leben. Ich ließ Beseeltheit über die Länder kommen. Wenn sie kommt so wachsen Kräuter.“ Sprüche, wie dieser, eingraviert auf altägyptischen Särgen drücken die Fruchtbarkeit aus, den Inbegriff allen Lebens, aber auch des Urzeitlichen, den die Menschen Ägyptens von alters her mit ihrem Nil verbinden. Die alten Ägypter glaubten, der Nil komme aus dem Nun, einem Urgewässer, aus dem die Welt entsprungen ist. „Geschenk des Nils“ nannte der Grieche Herodot Ägypten. Der Strom inspirierte Künstler und Literaten seit Jahrtausenden und heute auch Musiker aus den Staaten in seinem Einzugsgebiet, die durch ein einzigartiges gemeinsames Musikprojekt explosive Konflikte um den Fluss überwinden und eine gemeinsame Identität schaffen wollen.
Der Nil ermöglichte die Geburt einer der ältesten Zivilisationen der Menschheit und er verschaffte Ägypten bis in die jüngste Zeit hegemonialen Status in der Region. So verwundert es nicht, dass das offizielle Ägypten und seine Menschen diesen Strom als den ihren erachten, auch wenn seine Oberläufe durch zehn andere Staaten fließen, bis sie der Erde Ägyptens Fruchtbarkeit und Leben schenken. Bis heute drückt ein populärer ägyptischer Segensspruch den Wunsch aus, dass der Gesegnete „stets aus dem Nil zu trinken vermag“.
Dabei sind mehr als 160 Millionen Menschen direkt vom Wasser dieses längsten Stroms Afrikas abhängig und mehr als 400 Millionen leben in seinen Arainerstaaten, nur knapp 85  Millionen davon in Ägypten. Einige von ihnen zählen zu den ärmsten Ländern der Welt. Alle sind – allerdings in unterschiedlichem Maße -  für ihre ökonomische und soziale Entwicklung auf den Nil angewiesen. Doch das Wasser reicht nicht mehr, um allen Nahrungsmittelsicherheit zu garantieren. Internationale Experten identifizieren das Einzugsgebiet des Nils deshalb als eine zunehmend krisengefährdete Region, vor allem auch, weil die Wasserressourcen höchst ungleich verteilt sind.  Wie lässt sich dieser Lebensquell auf faire Weise teilen, wenn manche Regionen mehr Wasser haben als andere?
 
Seinen Besitzanspruch auf den Nil aber hat Ägypten bereits1929 in einem Vertrag mit Großbritannien der damaligen Kolonialmacht der anderen Anrainer, garantieren lassen. Ägypten wurden jährlich von den  insgesamt 84 Mrd. m3 Nilwasser  48 Mrd. zugesprochen, dem Sudan vier Mrd. Vor allem aber sicherte sich Kairo das Vetorecht gegen alle Bauvorhaben am Oberen Nil, die seinen Wasseranteil schmälern könnten. Und von diesem Recht machte Ägypten bis heute Gebrauch. Nachdem Sudan 1959 die Unabhängigkeit erhielt, wurden die Quoten in einem bilateralen Abkommen auf 55,5 Mrd. m3 für Ägypten und den Sudan 18,5 Mrd. erhöht, insgesamt rund 90 Prozent der Gesamtmenge.
Die anderen Nilstaaten empfinden diese koloniale Regelung – insbesondere das Vetorecht, das alle Bewässerungs- und Energieprojekte in ihren Staaten blockiert -  seit langem als zutiefst ungerecht und drängen auf eine Neuregelung, insbesondere angesichts der sich dramatisch veränderten klimatischen und demographischen Verhältnisse. Unfair fühlt sich vor allem Äthiopien behandelt, dessen „Blauer Nil“ Ägypten 85 Prozent des Wassers liefert. „Die Ägypter glauben der Nil gehört ihnen allein“ klagt der Jazzmusiker im gemeinsamen Nilprojekt, Jorga Mesfin. „Dabei versorgt er uns alle, selbst wenn bei uns Dürre herrscht, ernährt er die anderen Länder.“ Doch keiner der anderen Anrainer ist so ausschließlich vom Nil abhängig wie Ägypten.
Erbittert über Kairos hegemoniale Haltung, nutzte Äthiopien die Wirren nach dem Sturz Präsident Mubaraks in Kairo 2011, um das außenpolitisch gelähmte Ägypten zu überrumpeln. Nahe der sudanesischen Grenze begannen 8000 Arbeiter das lange geplante, von Kairo immer wieder blockierte Projekt des „Great Ethopian Renaissance-Dam“ (GERD) am Blauen Nil in Angriff zu nehmen.  Es soll das größte Wasserkraftwerk des Kontinents werden und 6000 Megawatt produzieren, das bitterarme Äthiopien zum größten Energieproduzenten Afrikas machen und durch Export an die Nachbarländer die magere Staatskasse füllen. 2013 begann Äthiopien, ungeachtet unverhohlener Kriegsdrohungen des damaligen ägyptischen Präsidenten Mursi,  den Flusslauf um 500 Meter zu verlegen.
In Ägypten geht die Angst um. Der Nil ist die einzige Wasserquelle für 40 Millionen ägyptische Farmer und sein Wasser reicht heute schon bei weitem nicht, um die Bevölkerung zu ernähren. Laut Kairoer Wasserministerium hat das Wasserdefizit die 20 Mrd. m3-Grenze erreicht. Man versucht, das Problem durch Recycling zu lösen, doch Experten halten dies langfristig nicht für ratsam.  Und die Prognosen sind schockierend. Bis 2020, warnen Experten, werde Ägypten um 20 Prozent mehr Wasser konsumieren als es zur Verfügung hat. Regen bringt jährlich nur zwischen 200 und 20 mm Wasser, in den vergangenen Jahren durch den Klimawandel immer weniger. Die UNO warnte jüngst vor einem gravierenden Wassermangel bis 2025. Hinzu kommt ein Bevölkerungswachstum, das Ägypten bis heute nicht in den Griff bekommen hat und das nach offiziellen ägyptischen Statistiken derzeit bei 2,5 Prozent liegt. Selbst wenn es gelänge, diese Rate drastisch zu senken, würden nach Schätzungen der UNO bis spätestens 2036 hundert Millionen Ägypter am Nil leben und bis 2050 mindestens 105 Millionen, was laut Experten einem „nationalen Selbstmord“ gleichkäme. Der Staat wäre nicht mehr in der Lage so viele Menschen zu erhalten, warnt der Chef des „Nationalen Bevölkerungsrats“, Magued Osman.
Doch auch Äthiopien, mit 99 Millionen Menschen nach Nigeria das bevölkerungsreichste Land Afrikas, leidet unter quälenden Zukunftssorgen. Bis heute hat Addis Abeba den Blauen Nil weder für die Landwirtschaft, zur Bewässerung seines reichen fruchtbaren Bodens, noch für die so dringend nötige Energieversorgung genutzt und erlitt jahrelang katastrophale Hungersnöte. Ein Bevölkerungswachstum von derzeit fast drei Prozent verschlimmert die Zukunftsaussichten dramatisch. Die Bevölkerung wird sich nach Schätzungen in den nächsten 30 Jahren verdoppeln. Schon jetzt ist Äthiopien eines  der ärmsten Länder der Welt. Und dennoch, so fragen sich manche Experten, zieht es das gigantische Prestigeprojekt des GERD, das mindestens fünf Mrd. Dollar verschlingt und zur Gänze aus eigenen Mitteln finanziert wird, hartnäckig durch.
Die schwer irritierten Ägypter beschwichtigt Äthiopiens Premierminister Hailemariam Desalegn Bosche: „Der Bau des GERD wird unseren drei  Staaten, vor allem Ägypten (neben Äthiopien und Sudan), keinerlei Schaden zufügen.“ Das Wasser werde nur zur Stromgewinnung genutzt und bliebe den Ländern am Unterlauf erhalten.
Ägyptens Präsident Sisi zeigt sich überraschend versöhnlich. In einer offenbaren Abkehr von der bisherigen Hegemonialpolitik Kairos unterzeichnete er im März gemeinsam mit dem Sudan und Äthiopien eine „Grundsatzerklärung“ zur Lösung der gemeinsamen Wasserprobleme, insbesondere in Zusammenhang mit dem Bau von GERD. Während alle seine Vorgänger Äthiopien durch deutliche Kriegsdrohungen eingeschüchtert hatten, reiste Sisi als erster ägyptischer Staatsführer seit 30 Jahren nach Addis Abeba, wo er vor dem  Parlament ein „neues Kapitel“ in den Beziehungen beider Staaten verkündete und die Äthiopier aufforderte, „gemeinsam die Grundlagen einer besseren Zukunft für unsere Kinder und Enkel“ zu legen.  Und Außenminister Sameh Shoukry stellte klar, „niemals“ werde Ägypten Krieg über den Nil führen. Während dieser Schritt die Spannungen zwischen beiden Staaten wesentlich entschärfte, bleiben Einzelheiten des Abkommens unklar. Bedeutet es einen Verzicht Sisis auf die historischen Vorrechte auf den Nil, eine Zustimmung zu GERD und den ersten Schritt zur Neuaufteilung des Wassers zwischen allen Anrainern?
Ägyptische Medien und zahlreiche Experten zeigen sich seit Monaten schwer irritiert. Der Einsatz einer unabhängigen Expertenkommission zum Studium des Dammprojekts und der möglichen Folgen für die Umwelt und die Wirtschaft Ägyptens trägt nur wenig zur Beruhigung bei, zumal die beiden mit der Expertise betrauten Firmen aus den Niederlanden und Frankreich bis heute keine Ergebnisse präsentierten und sich in Kairo der Verdacht verstärkt, Äthiopien spiele nur auf Zeit. Denn Addis Abeba hat sich die Fortsetzung des Dammbaus ausbedungen. GERD ist heute bereits zu 50 Prozent fertiggestellt, die ersten zwei Turbinen sollen im September in Betrieb gehen und noch vor Ende dieses Jahrzehnts dürfte Äthiopien mit dem Füllen des riesigen Reservoirs beginnen. Dann ist auch die militärische Option ausgeschlossen, will Ägypten nicht eine humanitäre Katastrophe und Umweltschäden in gigantischem Ausmaß auslösen.
Die Auswirkungen von GERD auf Ägypten sind bisher völlig unklar. Ahmed Abu Zeid, Afrikaexperte im Kairoer Außenministerium, hält „die Situation für gefährlich, da zwischen Sudan, Äthiopien und Ägypten keine technischen Studien von GERD vereinbart wurden. Ägyptische Medien und Wasserexperten befürchten enorme Verdunstungen bei dem riesigen Stausee, wodurch der hinter dem Assuan aufgestaute See, der den ägyptischen Bauern seit Jahrzehnten die Bewässerung ihres Landes garantiert, nicht mehr bis zur nötigen Höhe gefüllt werden könnte.  Nader Nouredin, Professor für Landwirtschaft an der Kairo Universität, meint gar, GERD sei nur das erste Glied einer ganzen Kette von Staudämmen, die Äthiopien am Blauen Nil plane. Andere beunruhigt, dass Äthiopien die Kontrolle über Ägyptens Lebensquell an sich reiße und Kairo mit der Wasserwaffe jederzeit erpressen könne. Hatte Äthiopien nicht in der Vergangenheit ägyptische Kriegsdrohungen mit Warnungen beantwortet, den Nil zu barrikadieren? In jedem Fall beginnt nun eine neue Phase, die die Stabilität in der gesamten Region ernsthaft bedrohen könnte. Nur wenn sich eine Vision der gemeinsamen Nutzung des Nils zum Vorteil aller durchsetzt, kann eine Katastrophe an diesem zweitgrößten Strom der Welt vermieden werden.

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