Schiitenmilizen rüsten sich zur Rückeroberung Ramadis und
versetzen damit die Sunniten in der Region in Panik – Ist der IS das
„kleinere Übel“?
von Birgit Cerha
„Innerhalb von Tagen“, beteuert Iraks Premier Abadi gegenüber der
BBC, würden die irakischen Streitkräfte Ramadi, die am 17. April von der
Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) eroberte Hauptstadt der
überwiegend von arabischen Sunniten bewohnten West-Provinz Anbar,
zurückgewinnen. Empört weist Abadi den Vorwurf des
US-Verteidigungsministers Ashton Carter zurück, dass die irakischen
Regierungssoldaten nicht kampfwillig seien. Vielmehr habe die
„Schock-Strategie“ der nur 200 IS-Kämpfer, die mit Sprengstoff beladenen
Lkws in die Stadt eingezogen waren, die Verteidiger in die Flucht
getrieben. Nachdem die 2000 Mann starke Polizeieinheit rasch und
kampflos ihre Positionen aufgegeben hatte, brach die gesamte
Verteidigung zusammen. Die Elite-Einheit der Armee, „Goldene Brigaden“
flüchtete ebenso, wie die tausend Mann starke Truppe sunnitischer
Stämme. Sie überließen für die Verteidigung Ramadis entscheidende, von
den USA gelieferte Panzer und schwere Waffen dem IS.
Der dem Fall Ramadis unmittelbar folgende offizielle Besuch des
iranischen Verteidigungsministers in Bagdad, der dort erstmals offen die
Koordination einer Gegenoffensive schiitischer Milizen der
„Volks-Mobilisierungs-Truppen“ (VMT) übernahm, gibt dem Krieg gegen den
IS im Irak eine neue – durchaus nicht ungefährliche – Richtung.
Erstmals zeigt sich auch der zunehmend bedrängte Premier Abadi bereit,
die Führung einer Gegenoffensive gegen den IS vom Iran gelenkten
Schiitenmilizen zu überlassen. Der Verlust Ramadis und damit fast der
gesamten Provinz Anbar ist für Abadi und vor allem auch für die USA
eine so schwere Schlappe, dass sie sich nun gezwungen fühlen, den
Einsatz der Schiiten unter Führung des iranischen Meisterstrategen,
Generalmajor der „Quds-Brigaden“ der iranischen Revolutionsgarden, Qasem
Suleimani, zu akzeptieren.
Unter Suleimanis Anleitung hatte die VMT, der auch einige wenige
Sunniten angehören, im April die strategisch wichtige Sunniten-Stadt
Tikrit vom IS zurückerobert. Doch brutale Racheakte und Massenmorde
durch siegreiche VMT-Kämpfer steigerten die Ängste der Sunniten vor den
fanatischen Milizionären, die schon in der Vergangenheit schwere
Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hatten. Ausschlaggebend für
einen erfolgreichen Kampf gegen den IS ist die volle Einbindung der
jahrelang schwer diskriminierten arabischen Sunniten in den von Schiiten
in Bagdad dominierten politischen Prozess, eine Strategie, zu der die
USA Abadi intensiv – doch bisher ohne Erfolg – drängen. Vielmehr
konnten starke radikale Schiitengruppen in Bagdad ihre Position
durchsetzen: Eine von den USA geforderte Bewaffnung sunnitischer Stämme
für den Kampf gegen den IS wäre ein gravierender Fehler. Der IS bedrohe
nicht die von schiitischen Milizen geschützten Schiitenregionen des
Iraks. Hingegen könnten stark bewaffnete Sunniten-Stämme längerfristig
die Macht der Schiiten gefährden. So appellierten vom IS bedrängte
sunnitische Stämme unzählige Male vergeblich an Abadi endlich die von
ihm und den USA versprochenen Waffen zu liefern.
Der Fall von Ramadi verstärkt dramatisch die Gefühle der Sunniten,
Bagdad, aber auch die USA ließen sie kläglich im Stich. Zugleich aber
gerät auch Abadi zunehmend in die Schusslinie radikaler Schiitengruppen,
die ihm die Schuld am Verlust von Ramadi zuschieben, da er sie so
beharrlich an der Verteidigung der Stadt gehindert hatte. Die
Entwicklungen geben der These Nahrung, Ramadi sei ein Opfer eines vom
Iran gesteuerten Komplotts. Danach sollte der Fall der Stadt Abadi und
seine amerikanischen Verbündeten in Schock versetzen, dass sie ihren
Widerstand gegen ein offenes Militärengagement des Irans und der mit ihm
verbündeten schiitischen Milizen aufgeben. Immerhin dominieren in der
aus Ramadi so rasch geflüchteten Polizeieinheit radikale pro-iranische
Schiiten, die zudem dem von Schiiten geführten Innenministerium
unterstehen. Folgten sie Suleimanis Anordnung? Jedenfalls kann Teheran
nun seinen Einfluss im Irak entscheidend ausbauen. Schon seit Monaten
haben die Iraner Zug um Zug Bodentruppen für den Kampf gegen den IS
eingeschleust und sind tatsächlich in der Lage, der Terrormiliz
empfindliche Niederlagen zuzufügen.
Dennoch könnte sich diese Strategie als Bumerang erweisen. Die
Angst vor den radikalen Schiitenmilizen, die wegen echter oder
vermeintlicher Kollaboration mit dem IS brutale Racheakte verüben
würden, droht viele Sunniten in die Arme der Terrormiliz zu treiben.
Zudem empfinden die meisten Sunniten die zunehmende Dominanz des
schiitischen Irans als Alptraum. Ja selbst nationalistisch orientierte
Schiitengruppen, wie jene höchst einflussreiche des Geistlichen Muqtada
Sadr, lehnen den wachsenden Einfluss Teherans entschieden ab. In diesem
Hickhack triumphiert der IS.
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