Mittwoch, 22. April 2015

Massenelend im libyschen Chaos

Der Zusammenbruch des Staates öffnete die Schleusen für eine menschliche Flut – Bleibt ein kleiner Hoffnungsschimmer?
 
von Birgit Cerha
 
„Verglichen mit westlichen Ländern“ bewiesen die Staaten des Mittleren Ostens und Nordafrikas „eine enorme Gastfreundschaft angesichts einer beispiellosen Flüchtlingskrise“. Vor allem Tunesien, betont der Libyen-Experte Megan Bradley gegenüber dem arabischen Sender „Al-Jezira“, halte seine Grenzen trotz gravierender eigener Probleme stets offen für all jene, die dem libyschen Chaos zu entkommen suchen. Das UN-Flüchtlingshochkommissariat schätzt die Zahl der intern Vertriebenen  auf etwa 400.000, während mehr als eineinhalb Millionen Libyer seit der Ermordung Diktator Gadafis im Oktober 2011 ins Ausland geflüchtet sind. Allein im Vorjahr kamen 2.800 Menschen bei Kämpfen zwischen rivalisierenden Milizen im Lande ums Leben.
Experten sind sich seit langem einig, dass der Zusammenbruch des libyschen Staates, das darauf folgende Massenelend und vor allem auch die Perspektivlosigkeit der Jugend Hauptursache sind für die Flut Verzweifelter, denen das Risiko des Ertrinkens im Mittelmeer auf dem Weg in den europäischen Hafen erträglicher erscheint als der Verbleib in der blutigen Gesetzlosigkeit eines weitgehend isolierten Libyens, dessen Pro-Kopf-Einkommen 30 Mal unter jenem der EU liegt.  Allzu lange hatten die Katastrophen in Syrien und im Irak die Tragödien dieses nordafrikanischen Staates aus dem Bewusstsein der Weltöffentlichkeit verdrängt. Fast alle Botschaften sind längst geschlossen, internationale Firmen und selbst humanitäre Organisationen abgezogen. Einige wenige suchen noch von Tunesien aus im Nachbarstaat Hilfe zu leisten. Spendenaufrufe stoßen weitgehend auf taube Ohren, zumal Milizen insbesondere in Ost-Libyen internationalen Helfern meist den Zugang zu Bedürftigen verwehren.  Das Chaos im Lande schafft den Nährboden für Kriminalität und  hemmungslosen Menschenschmuggel.
Seit die Übergangsregierung 2013 zusammenbrach und ein Krieg zwischen zahlreichen Fraktionen das Land immer tiefer ins Elend stürzt, stehen die Grenzen , die Gadafi einst als Gegenleistung für seine internationale Reintegration für Flüchtlinge aus Afrika nach Europa hermetisch abgeriegelt hatte, ungehindert offen.
Durch das Scheitern des politischen Übergangsprozesses schlitterte Libyen immer tiefer in die Anarchie, die zum Zusammenbruch der zentralen Staatsautoritäten und zwei rivalisierenden Machtzentren führte. Zwei nationale Parlamente sprechen einander die Legitimität ab. Das eine ging aus dem 2014 gewählten islamisch dominierten „Allgemeinen Nationalkongress“ mit Sitz in Tripolis, wird von der Türkei und Katar unterstützt. Der „Nationalkongress  verfügt über eine militärische Allianz genannt „Libysche Morgenröte“,  an der sich Stämme und andere Gruppen beteiligen, die keine radikal-islamistische  Linie vertreten. Das andere, von den meisten internationalen Staaten anerkannte Parlament versucht von der ostlibyschen Hafenstadt Tobruk aus zu regieren und stützt sich dabei auf den ehemaligen Armeegeneral Haftar und seine aus einstigen Regierungstruppen und irregulären Kämpfern zusammengesetzte Miliz, die sich mit ihrer „Operation Würde“ den Islamisten in Benghazi den Krieg erklärte und von vielen Libyern unterstützt wird, die ein Ende des Chaos ersehnen. Seit vielen Monaten tobende teils heftige Kämpfe zwischen diesen beiden militärischen Kräften und rivalisierenden Gruppen haben ein Machtvakuum geschaffen, das sich Dschihadisten und zunehmend auch Sympathisanten der Terrormiliz des „Islamischen Staates“ zunutze machen. Insgesamt treiben derzeit an die 1.700 bewaffnete Gruppen – teils islamistisch, teils ethnisch oder nach Stämmen orientiert - in Libyen ihr Unwesen.
In diesem blutigen Chaos klammern sich so manche an die Hoffnung, dass die seit August 2014 unter UN-Vermittlung laufenden Friedensgespräche tatsächlich, wie der UNO-Beauftragte Bernardino Leon vergangenen Sonntag ankündigte, einer endgültigen Einigung „sehr nahe“ stünden. In monatelangen indirekten Gesprächen hatte Leon versucht, rivalisierende Fraktionen für einen Sechspunkteplan, der vor allem eine Regierung der nationalen Einheit vorsieht, zu vergattern. Anfang Mai sollen sich erstmals in Marokko die diversen politischen Kräfte und die Führer von Milizen an einen Verhandlungstisch zusammensetzen. Denn mehr und mehr dürfte sich die Erkenntnis durchsetzen, dass dieser Krieg mit Waffengewalt nicht zu gewinnen ist.

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