Der Zusammenbruch des Staates öffnete die Schleusen für eine menschliche Flut – Bleibt ein kleiner Hoffnungsschimmer?
von Birgit Cerha
„Verglichen
mit westlichen Ländern“ bewiesen die Staaten des Mittleren Ostens und
Nordafrikas „eine enorme Gastfreundschaft angesichts einer beispiellosen
Flüchtlingskrise“. Vor allem Tunesien, betont der Libyen-Experte Megan
Bradley gegenüber dem arabischen Sender „Al-Jezira“, halte seine Grenzen
trotz gravierender eigener Probleme stets offen für all jene, die dem
libyschen Chaos zu entkommen suchen. Das UN-Flüchtlingshochkommissariat
schätzt die Zahl der intern Vertriebenen auf
etwa 400.000, während mehr als eineinhalb Millionen Libyer seit der
Ermordung Diktator Gadafis im Oktober 2011 ins Ausland geflüchtet sind.
Allein im Vorjahr kamen 2.800 Menschen bei Kämpfen zwischen
rivalisierenden Milizen im Lande ums Leben.
Experten
sind sich seit langem einig, dass der Zusammenbruch des libyschen
Staates, das darauf folgende Massenelend und vor allem auch die
Perspektivlosigkeit der Jugend Hauptursache sind für die Flut
Verzweifelter, denen das Risiko des Ertrinkens im Mittelmeer auf dem Weg
in den europäischen Hafen erträglicher erscheint als der Verbleib in
der blutigen Gesetzlosigkeit eines weitgehend isolierten Libyens, dessen
Pro-Kopf-Einkommen 30 Mal unter jenem der EU liegt. Allzu
lange hatten die Katastrophen in Syrien und im Irak die Tragödien
dieses nordafrikanischen Staates aus dem Bewusstsein der
Weltöffentlichkeit verdrängt. Fast alle Botschaften sind längst
geschlossen, internationale Firmen und selbst humanitäre Organisationen
abgezogen. Einige wenige suchen noch von Tunesien aus im Nachbarstaat
Hilfe zu leisten. Spendenaufrufe stoßen weitgehend auf taube Ohren,
zumal Milizen insbesondere in Ost-Libyen internationalen Helfern meist
den Zugang zu Bedürftigen verwehren. Das Chaos im Lande schafft den Nährboden für Kriminalität und hemmungslosen Menschenschmuggel.
Seit
die Übergangsregierung 2013 zusammenbrach und ein Krieg zwischen
zahlreichen Fraktionen das Land immer tiefer ins Elend stürzt, stehen
die Grenzen , die Gadafi einst als Gegenleistung für seine
internationale Reintegration für Flüchtlinge aus Afrika nach Europa
hermetisch abgeriegelt hatte, ungehindert offen.
Durch
das Scheitern des politischen Übergangsprozesses schlitterte Libyen
immer tiefer in die Anarchie, die zum Zusammenbruch der zentralen
Staatsautoritäten und zwei rivalisierenden Machtzentren führte. Zwei
nationale Parlamente sprechen einander die Legitimität ab. Das eine ging
aus dem 2014 gewählten islamisch dominierten „Allgemeinen
Nationalkongress“ mit Sitz in Tripolis, wird von der Türkei und Katar
unterstützt. Der „Nationalkongress verfügt über eine militärische Allianz genannt „Libysche Morgenröte“, an der sich Stämme und andere Gruppen beteiligen, die keine radikal-islamistische Linie
vertreten. Das andere, von den meisten internationalen Staaten
anerkannte Parlament versucht von der ostlibyschen Hafenstadt Tobruk aus
zu regieren und stützt sich dabei auf den ehemaligen Armeegeneral
Haftar und seine aus einstigen Regierungstruppen und irregulären
Kämpfern zusammengesetzte Miliz, die sich mit ihrer „Operation Würde“
den Islamisten in Benghazi den Krieg erklärte und von vielen Libyern
unterstützt wird, die ein Ende des Chaos ersehnen. Seit vielen Monaten
tobende teils heftige Kämpfe zwischen diesen beiden militärischen
Kräften und rivalisierenden Gruppen haben ein Machtvakuum geschaffen,
das sich Dschihadisten und zunehmend auch Sympathisanten der Terrormiliz
des „Islamischen Staates“ zunutze machen. Insgesamt treiben derzeit an
die 1.700 bewaffnete Gruppen – teils islamistisch, teils ethnisch oder
nach Stämmen orientiert - in Libyen ihr Unwesen.
In
diesem blutigen Chaos klammern sich so manche an die Hoffnung, dass die
seit August 2014 unter UN-Vermittlung laufenden Friedensgespräche
tatsächlich, wie der UNO-Beauftragte Bernardino Leon vergangenen Sonntag
ankündigte, einer endgültigen Einigung „sehr nahe“ stünden. In
monatelangen indirekten Gesprächen hatte Leon versucht, rivalisierende
Fraktionen für einen Sechspunkteplan, der vor allem eine Regierung der
nationalen Einheit vorsieht, zu vergattern. Anfang Mai sollen sich
erstmals in Marokko die diversen politischen Kräfte und die Führer von
Milizen an einen Verhandlungstisch zusammensetzen. Denn mehr und mehr
dürfte sich die Erkenntnis durchsetzen, dass dieser Krieg mit
Waffengewalt nicht zu gewinnen ist.
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