Vier Jahre nach Kriegsbeginn droht Syrien von innen zu erodieren – Eine Bilanz des Grauens
von Birgit Cerha
Die Bilanz kann kaum grauenvoller sein: Als am 12. März 2011 der
„Arabische Frühling“ auch die lange so stabile Diktatur Baschar el
Assads erfasste, ahnte niemand, dass in diesem kleinen, doch strategisch
so wichtigen arabischen Staat unvorstellbare menschliche Qualen
begannen, deren Ende auch vier Jahre später nicht abzusehen ist, während
die zivilisierte Welt mit schockierender Ohnmacht zusieht.
Internationale und unabhängige syrische Institutionen, wie die UNO
und das „Syrian Centre for Policy Research“ (SCPR), präsentieren eine
Bilanz systematischer Vernichtung unvorstellbaren Ausmaßes: 210.000
Tote, 840.000 Verwundete, das entspricht zusammen sechs Prozent der
Bevölkerung. Humanitäre Organisationen sprechen von der größten
humanitären Katastrophe seit Jahrzehnten. Der Krieg trieb mehr als zehn
Millionen Menschen in die Flucht, davon schafften es rund drei Millionen
ins Ausland. Die Statistik ist schockierend: die Bevölkerung schrumpfte
von 20,87 Mio. 2010 auf 17,65 Mio., 80 Prozent davon stürzte in totale
Armut.
In seinem verzweifelten Ringen um das politische Überleben des
Assad-Clans und mit ihm des Regimes, verpfändet der schwerbedrängte
Präsident die Zukunft des Staates, der nach vier Kriegsjahren von innen
erodiert. Die nördlichen und östlichen Regionen, insgesamt etwa die
Hälfte des syrischen Territoriums, hat das Regime vollends verloren und
mit ihm, sowie durch Flucht aus anderen Landesteilen, rund ein Drittel
der Bevölkerung. Lokale Milizen und Komitees, darunter auch die
Terror-Organisation des „Islamischen Staates“ (IS) liefern sich
erbitterte, für die Zivilbevölkerung extrem verlustreiche Kämpfe, um das
Machtvakuum zu füllen. Doch der dichtbesiedelte Rumpfstaat steht immer
noch voll unter Kontrolle des Regimes. Er erstreckt sich von der
nordwestlichen Küstenstadt Lattakia über das von den Regierungstruppen
zurückeroberte Homs nach Damaskus und bis Suwaida im Süden. Doch an zwei
strategisch bedeutenden Fronten, bei der einst blühenden
Wirtschaftsmetropole Aleppo und südlich? Von Damaskus toben seit Monaten
heftige Kämpfe.
Selbst dort aber, wo in Assads Rumpfstaat der Krieg die Menschen
weitgehend verschont, wird das Leben immer verzweifelter. Die Wirtschaft
ist durch die Gewalt, den Verlust der Ölfelder und der entscheidenden
Handelsrouten in den Irak und in die Türkei, total zusammengebrochen.
Nach einem UN-Bericht übersteigen die ökonomischen Verluste seit
Kriegsbeginn 200 Mrd. Dollar. Das Regime hat keine internen
Einnahmequellen mehr und versucht die ohnehin bitterarme Bevölkerung
durch Steuererhöhungen und Senkung von Subventionen für lebenswichtige
Güter noch mehr zu belasten. Laut SCPR haben drei Millionen Syrer ihre
Arbeit verloren, die Arbeitslosigkeit liegt bei fast 60 Prozent. Das
Bildungssystem ist zusammengebrochen: Mehr als die Hälft der
schulpflichtigen Kinder geht nicht mehr zum Unterricht und der Großteil
von ihnen bereits seit drei Jahren.
Nur die materielle und militärische Hilfe aus Russland und dem Iran
ermöglicht dem Assad-Regime das Überleben. Moskaus Unterstützung aber
dürfte sich weitgehend auf Waffen beschränken, für die Assads engster
Verbündeter Iran 2013 vier Mrd. Dollar gezahlt hatte. Im Mai 2013 gab
die syrische Zentralbank bekannt, dass der Iran dem Land einen Kredit
von vier Mrd. Dollar gewährt hätte. Im Dezember 2014 sucht Syrien um ein
neues Darlehen in derselben Höhe an.
Assad steht heute in totaler Abhängigkeit von Teheran, nicht nur
finanziell, sondern auch militärisch. Die „Al-Quds“-Brigaden der
iranischen Revolutionsgarden kontrollieren die Regierungsstreitkräfte
und für Assad kämpfende schiitische Milizen und finanzieren die
libanesischen Hisbollah-Kämpfer, die dem Regime bereits zu
entscheidenden Gewinnen verhalfen. „Assad hat Syrien den Iranern
verkauft“, klagt der abgesprungene General Manaf Tlass. „Bashar hat sich
niemals zu ernsthaften Reformen durchgerungen, sondern entschied sich
stattdessen, das Land zu zerstören, um nicht die Macht zu verlieren.“
Bis heute verstand es der Diktator, die Minderheiten – seine
Alawiten, ebenso wie die Christen und Drusen – mit der Warnung vor
Todesgefahr im Falle seines Sturzes bei der Stange zu halten, - ein
Argument, das durch das blutige Wüten des IS noch an Dramatik gewann.
Und dennoch zeigen sich selbst unter den Alawiten, die die Säule der
staatlichen und militärischen Strukturen des Landes bilden, Anzeichen
wachsender Frustration und Unzufriedenheit. Alarmierendes Signal für
Assad ist die schwindende Bereitschaft junger Syrer, ihren
Militärdienst zu absolvieren. Dass das Regime mit Repression, totaler
Ausreisesperre und Gefängnis antwortet, steigert noch das Unbehagen,
das sich in sozialen Netzwerken erkennen lässt. Hier liegt die größte
Gefahr für Assad und seinen Clan.
Militärisch könnte sich der Krieg noch lange hinziehen. Assad setzt
auf eine Abnützungsstrategie und intensive Verteidigung seine
Positionen, die ihm in den vergangenen Monaten kleine, aber stetige
Erfolge gebracht hat. Damit wäre tatsächlich, so meinen Militärexperten –
irgendwann – ein Sieg des Diktators zumindest über einen zentralen Teil
des Landes gar nicht ausgeschlossen. Sicher aber ist, dass selbst dann
der syrische Staat in seiner einstigen Form nicht mehr existieren wird.
Assad wird über ein schwaches Gebilde mit unzureichenden Ressourcen
herrschen, das schwerstens verschuldet ist und nicht mehr, wie
jahrzehntelang, über das Gewaltmonopol verfügt, um eine zunehmend
verärgerte Bevölkerung zu kontrollieren, die enorme Opfer an
Menschenleben und materiellen Werten für die kleine Assad-Clique
gebracht hat.
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