Ein zeitgeschichtlicher Überblick über das tragische Schicksal des größten Volkes ohne Staat, der ihm bis heute verwehrt wird
von Birgit Cerha
Das kurdische Volk wurde nie objektiv gezählt. Es gibt nur
Schätzungen. Die wahrscheinlichsten sprechen von insgesamt mindestens 40
Millionen.
Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches haben die
Siegermächte die Grenzen im Orient - ohne Rücksicht auf die
Zusammensetzung und Präsenz der diversen Völker, die dort leben - nach
Eigeninteressen und auch willkürlich gezogen. Um die Rumpftürkei etwa
vom französischen Mandatsgebiet Syrien zu trennen und damit die bis
heute völkerrechtlich geltende Grenze zwischen der Türkei und Syrien zu
ziehen, wählten die Siegermächte die Eisenbahnlinie
Berlin-Bagdad-Basra.
Wo sich die Schienen durch Ortschaften
und kleine Städte zogen , teilte man diese und damit auch Stämme, Clans,
Familien und Freunde. Dies traf vor allem die Kurden in der Türkei, in
Syrien und im Irak. So etwa- um nur ein Beispiel zu nennen - ist die
kurdische Stadt Qamishli im Nordosten Syriens nur 30 Meter von dem
kurdischen Nusaybin in der Türkei getrennt – eine Grenze, die die Türkei
in Ostblockmanier durch kilometerlange Stacheldrahtzäune und Wachtürme
hermetisch abriegelte.
Die größte kurdische Bevölkerung ist in der
TÜRKEI etwa 22,5 Millionen, gefolgt vom IRAN mit 8-10
Mio., IRAK mit 4,5 Mio.; SYRIEN mit 2,5 Mio. In EUROPA leben
mehr als 2 Mio. und in Ländern der EX-SOWJETUNION eine halbe Million.
Es folgt ein ganz kurzer Überblick über die heutige Situation in den einzelnen Ländern:
In allen Ländern des Orients, in denen Kurden leben, hatten sich
Bewegungen formiert, die mehr oder weniger erfolgreich, mehr oder
weniger durch Einsatz von Waffen, um die ihrem Volk verwehrten
Grundrechte kämpften und mehr oder weniger brutale Repressionen – bis
zum Genozid vor allem im Irak, zuletzt die Yeziden in Sindjar und Kubani
in Syrien – erlitten und bis heute erleiden.
In der Türkei hat Abdullah Öcalan aus seinem
Gefängnis in der Imrali-Festung seiner PKK das Ende des Aufstandes
befohlen, um einen von Präsident Erdogan angebotenen Friedensprozess zum
Erfolg zu führen. In den vergangenen Jahren haben die Kurden – vor
allem auf Druck der EU – kleine Rechte errungen. Die Worte Kurde und
Kurdistan gelten nicht mehr – wie jahrzehntelang- als Tabu. Es gibt
kurdische TV-Sendungen und sogar Unterricht in der Sprache an
Universitäten – allerdings, wie etwa an der Universität der Kurdenstadt
Mardin nur in einem sog. „Institut für lebende Sprachen“. Dort werden
Kurdischlehrer ausgebildet, doch sie bekommen keine Arbeit, weil es
keinen Schulunterricht gibt. All diese Veränderungen sind nicht mehr als
Scheinreformen, um die Stimmung in Europa zu beeinflussen, um die im
geostrategisch so wichtigen Südosten der Türkei lebenden Kurden zu einer
Zeit zu beschwichtigen, da die Nachbarländer – Syrien, Irak – die
Region insgesamt im blutigen Aufruhr mit unabsehbarem Ausgang steht und
den bereits sehr erfolgreichen Assimilationsprozess fortzusetzen. In
Wahrheit werden auch heute noch in der Türkei kurdische Intellektuelle
verfolgt, Journalisten eingesperrt, vom Volk gewählte Bürgermeister
verhaftet und abgesetzt. In Wahrheit ist die Türkei der Bereitschaft
weit entfernt, den Kurden die heißersehnten menschlichen Grundrechte zu
gewähren. So bleibt – worüber hier wenig geredet wird – die Lehre der
kurdischen Sprachen in Schulen unverändert verboten.
Diyarbakir ist mit mehr als einer Million Einwohnern die heimliche
Hauptstadt Kurdistans in der Türkei. Die Stadt besitzt eine der größten
und besterhaltenen antiken Befestigungsanlagen der Welt. Sie besteht zum
größten Teil aus Basalt.
Im Iran ist zwar die kurdische Sprache nicht
verboten. Es gibt auch eine Provinz Kurdistan. In Buchhandlungen werden
auch kurdische Bücher verkauft, doch vor allem die in den Kurdengebieten
lebenden Menschen werden massiv unterdrückt. Dort herrscht ein Klima
der Angst, denn der Staat schlägt gnadenlos mit Gefängnis und
Exekutionen, zunehmend auch von Minderjährigen, zu. Nach Angaben der
unabhängigen „Iran Human Rights“ wurden seit der Machtübernahme des als
so gemäßigt geltenden Präsidenten Rouhani im August 2013 1193 Menschen
hingerichtet, Besonders betroffen sind die Kurden, aber auch andere
Minderheiten wie Belutschen und Bahais. Das „Verbrechen“ lautet häufig
„Feindschaft gegen Gott“.
In Syrien lebten und leben die Kurden in keinem
geschlossenen Siedlungsgebiet, sondern in drei voneinander durch
arabische Dörfer getrennten Gebieten im Norden des Landes, an der Grenze
zur Türkei, viele aber auch in Damaskus und in dem inzwischen in großen
Teilen zerstörten Aleppo. In den Kurdengebieten im Norden und
Nordosten, den Regionen Afrin, Kobani und Cezire, hat die größte
Kurdenpartei, die „Demokratische Unionspartei“ (PYD) im November 2013
das autonome „Rojava“ (übersetzt „West-Kurdistan“, gemeint ist der
westliche Teil eines vereinten Kurdistan) ausgerufen und praktiziert ein
in der Region einzigartiges Experiment, das so manche begeistert als
Vorbild für den Nahen Osten sehen wollen. Sie nennen es „Demokratie von
unten“, eine wie sie es nennen „neue politische Ordnung“, in der
Nationalitäten, Volkszugehörigkeiten, keine Rolle spielen sollen.
Tatsächlich fühlen sich die dort lebenden Minderheiten, insbesondere
Christen, aber auch Araber, nach eigenen Aussagen, wie – natürlich nicht
repräsentative Umfragen, die angesichts der kriegerischen Turbulenzen
nicht durchgeführt werden können – ergaben, sicher und gleichberechtigt.
Das gilt insbesondere auch für die Frauen. Viele Kurdinnen engagieren
sich aktiv in diesem neuen politischen Experiment, für dessen Sicherheit
der militärische Arm von PYD, die Volksverteidigungseinheiten (YPG)
sorgen. Einzigartig im Mittleren Osten, hat die YPG eigene
Fraueneinheiten, die einen wichtigen Beitrag um Kampf um die Befreiung
Kobanis geleistet hatten. Von den ungefähr 40.000 YPG-Kämpfern dürften
etwa 10.000 Frauen sein.
Die Kurden im Nord-Irak schafften es als einzige –
allerdings nach gigantischen Opfern – sich seit 1991 und zunehmend seit
2003 selbst zu verwalten. Ihre Region im Norden, die drei irakische
Provinzen umfasst – aber nicht angrenzende sog. „umstrittene Gebiete“
(umstritten zwischen Kurden und Bagdad), die mehrheitlich von Kurden
bewohnt sind – war nach dem Sturz von Diktator Saddam Hussein 2003
jahrelang eine „Oase der Ruhe“, im Begriff, sich dank des Ölreichtums
unter seinem Boden zum Dubai des Nordens aufzubauen und zugleich die
ökonomische Basis für einen unabhängigen Staat zu schaffen. Dieses seit
Jahrzehnten sehnsuchtsvoll verfolgte Ziel ist nahegerückt wie nie zuvor.
Doch der rasante Aufstieg der Terrormiliz des „Islamischen Staates“
(IS) bedeutet auch für die Kurden und ihr Reich eine tödliche Gefahr.
Kurdistan bietet heute Flüchtlingen aus dem Rest des Iraks Schutz – Hunderttausende sind es bereits.
Die Zitadelle von Erbil wurde am 21. Juni 2014 zum UNESCO
Weltkulturerbe erklärt. Nach Schätzungen geht die Zitadelle auf das 5.
Jahrhundert v,Chr. zurück und ist eine der am längsten durchgehend
bewohnten Siedlungen der Welt.
Im Boden irakisch-Kurdistans liegen noch gigantische öl- und
Gasschätze. Trotz dieses Segens bewahrheitet sich auch heute wieder der
von Mulla Mustafa Barzani, dem legendären Kämpfer für kurdische
Grundrechte, für kurdische Freiheit und Selbstbestimmung – geprägte
Ausspruch: „Die Kurden sind die Waisen des Universums“, ihre einzigen
Freunde sind die Berge. Bis heute sind sie das größte Volk geblieben,
dem die internationale Gemeinschaft, die Regionalstaaten und die
Weltmächte das Grundrecht auf Selbstbestimmung und einen eigenen Staat
verwehrt haben und immer noch verwehren. Einer der Gründe dafür ist die
Geografie: ohne Zugang zum Meer, umschlossen von Feinden – Türken,
Persern, Arabern -, die sie in ihrer langen Geschichte für ihre eigenen
Machtspiele missbrauchten – und die Kurden ließen sich oft nur allzu
willig missbrauchen – und sich dann aber auch immer wieder gemeinsam
gegen sie verbündeten, damit sie nur ja nicht an Stärke gewännen.
Immer waren die Kurden, die sich keinem fremden Joch beugen
wollten, erst die Bauern auf dem Schachbrett der Großen, dann die
„Bauernopfer" zugunsten höherer Machtinteressen; mal politischer
Spielball, mal politischer Sündenbock: Syrien setzte seine Kurden gegen
die Türkei ein, die Türkei operierte gegen ihre Kurden mit Hilfe des
Irak, der Iran setzte seine Kurden als Sprengsatz gegen den Irak ein.
Doch keiner wollte ihnen das zugestehen, was sie spätestens seit dem
Zusammenbruch des Osmanischen Reiches anstrebten: den eigenen Staat.
Stattdessen wurden sie immer wieder zwischen den Mühlsteinen zerrieben.
Barzanis Lebenskampf ist symptomatisch für das Schicksal dieses von
der Geschichte, den Regional- und den Weltmächten immer und immer
wieder verratenen Volkes. Ich möchte deshalb ein wenig darüber erzählen.
Mustafa Barzani wurde am 14. März 1903 in dem kleinen Dorf Barzan,
hoch in den Bergen Kurdistans geboren. Sein Vater war einer der Gründer
einer sufistischen Bewegungen, eines Zweiges des Nakschbandi-Ordens,
die den Namen des Dorfes Barzan trägt und im Freiheitskampf der Kurden
im 20. Jahrhundert eine große Rolle spielte. Die Barzan-Bewegung setzte
sich als ihr Hauptziel soziale Gleichheit in der Gesellschaft, den
Verzicht auf Reichtum. Auf der Basis dieser Regel haben sieben Führer
großer kurdischer Stämme in einer einzigartigen Aktion ihr Land auf ihre
Stammesmitglieder aufgeteilt.
Mulla Mustafa folgte seinem älteren Bruder, Sheikh Ahmed, der den
Nationalkampf der Kurden vom Ersten Weltkrieg an bis in die späten
1930er Jahre anführte. Gemeinsam kämpften sie gegen den ersten großen
Betrug der Geschichte: Im Vertrag von Sevres zwischen der Entente und
den Überresten des zusammengebrochenen Osmanischen Reiches wurde den
Kurden 1920 Selbstbestimmung versprochen, doch Mustafa Kemal, genannt
Atatürk,führte einen erfolgreichen Unabhängigkeitskrieg um den
türkischen Rumpfstaat, konsolidierte die türkische Macht in Anatolien
und Nord-Kurdistan und stärkte damit die Position der Türken bei den
Verhandlungen, die 1923 zum Friedensvertrag von Lausanne führten. Die
Kurden wurden darin nicht einmal mehr erwähnt und die Grenzen wurden neu
gezogen – zwischen Irak, Syrien und der Türkei, ohne historische Basis,
ohne Rücksicht auf die ethnische Zusammensetzung der dort lebenden
Menschen.
Doch die Kurden wollten sich mit diesem Diktat der Weltmächte nicht
abfinden. Mustafa Barzani stellte sein ganzes Leben in diesen Kampf.
1941 besetzten britische und sowjetische Truppen den Iran, um Teheran
daran zu hindern, auf deutscher Seite in den Weltkrieg einzutreten. Sie
teilten das Land in zwei Zonen auf und die Sowjets, die den Nordwesten
kontrollierten, gewährten den in ihrer Zone lebenden Kurden de facto
Unabhängigkeit. Die Republik Mahabad wurde gegründet und 1946 wurde
Barzani dort zum Militärkommandanten ernannt. Um diesen ersten
kurdischen Staat gegen die vielen Feinde, insbesondere den Iran,
abzusichern, bat Barzani die sowjetische Schutzmacht um Panzer und
schwere Waffen. Doch Moskau schickte nur ein paar Gewehre und eine
Druckerpresse. Nicht kurdische Rechte waren sowjetisches Interesse,
sondern Ölkonzessionen im Iran (ein Verhaltensmuster, das sich gegenüber
den Kurden immer und immer wieder wiederholen sollte, bis heute. Der
Kreml manipulierte separatistische Aktivitäten der Kurden und der
Azeris, um Teheran unter Druck zu setzen. Als er schließlich 1946 die
Ölkonzessionen bekam, zog er rasch die sowjetischen Truppen aus dem Iran
ab. Die Armee Schah Reza Pahlevis attackierte Mahabad. Die Republik
brach zusammen Barzani und 400 seiner besten Kämpfer flüchteten in die
Sowjetunion, wo er 1946 die heute von seinem Sohn Massoud im Irak
geführte “Kurdische Demokratische Partei” gründete. Der Präsident
Mahabads, Qazi Mohammed, und einige seiner Minister wurden 1947 erhängt.
Hilfe und Manipulation für Eigeninteressen, Missbrauch und Verrat
mit katastrophalen Folgen bestimmten seither das Schicksal der Kurden
insbesondere im Irak. Ich möchte die wichtigsten Beispiele nennen.
Die Kurden des Iraks haben sich nie als Teil eines Staates
empfunden, in den sie hineingezwungen wurden, weil es nach den Ölfunden
in Kirkuk den Interessen der britischen Mandatsmacht entsprochen hatte,
den kurdischen Norden voll in ihr Mandatsgebiet Irak zu integrieren.
Der Preis an Menschenleben und Sicherheit, den die
aufeinanderfolgenden Herrscher in Bagdad den Kurden aufzwangen, um sie
in ihrem Staat als Bürger zweiter Klasse zu halten, ist gigantisch. Über
Jahrzehnte wiederholte sich dasselbe Muster: Kurden verlangten
Selbstverwaltung, Bagdad sagte zu. Barzani legte die Waffen nieder,
Bagdad hielt die Versprechen nicht, verstärkte massiv die Repression,
der bewaffnete Aufstand begann von neuem. Besonders schlimm wurde es für
die Kurden, als äußere Mächte – wie so oft in der Geschichte – sie
wieder für ihre Interessen missbrauchten.
Die USA folgten dem Beispiel von Missbrauch und Verrat, den die
Sowjetunion in den 1940er Jahren in Mahabad an den Kurden begangen
hatte. Beunruhigt über den wachsenden Einfluss der Sowjetunion im Irak,
entschieden sich die USA Anfang der 1970er Jahre, gemeinsam mit dem Iran
und Israel, die Kurden zu einem verstärkten Guerillakampf der von
Barzani aufgebauten Peschmerga zu drängen, um Bagdad empfindlich zu
schwächen. Bagdad hatte wieder, wie so oft in der Geschichte, die
Zusagen zu einer weitgehenden Autonomien, die es 1970 in einem Abkommen
nach langen Kämpfen den Kurden gemacht hatten, nicht eingehalten und die
USA versprachen Barzani Unterstützung zur Durchsetzung ihrer Rechte.
Es war ein derart geheimes Unterfangen, des US-Geheimdienstes, dass
nicht einmal das US-State-Department darüber informiert wurde. Um
keine Spuren nach Washington zu hinterlassen, lieferten die Amerikaner
den Kurden sowjetische Waffen, die sie in Vietnam und die Israelis
sowjetische Waffen die sie aus dem Krieg gegen die Araber 1972 erbeutet
hatten. Der Iran leistete intensive praktische Hilfe. Doch den
Amerikanern ging es – wie einst den Sowjets – keineswegs um die
Grundrechte der Kurden. Ein unabhängiger Staat gefährdete in ihren Augen
die Stabiltiät in der Region – eine Ansicht, an der Washington bis
heute, trotz IS, festhält. So dosierten sie ihre Hilfe so vorsichtig,
dass die Kurden keinesfalls siegen würden. Dennoch gelang es Barzanis
Peschmergas, Bagdad empfindlich unter Druck zu setzen. Während Barzani
dem Iran zutiefst misstraute – ein kurdischer Spruch lautet: „Der Iran
gibt uns entweder Honig mit Gift oder Gift mit Honig“ – war sein
Vertrauen zu den USA grenzenlos:. 1973 erklärte er einem amerikanischen
journalisten: „Ich vertraue Amerika. Amerika ist eine zu große Macht, um
ein kleines Volk wie uns Kurden zu verraten.“ Diese Einschätzung
sollte sich als ein fataler, schicksalhafter Fehler erweisen, dem auch
sein Sohn erlag.
In Wahrheit spielte Washington ein „zynisches“ Doppelspiel, wie
auch ein Bericht des „House Select Intelligence Committee“ über illegale
Aktivitäten der amerikanischen Geheimdienste feststellte. Während der
damalige Nationale Sicherheitsberater Henry Kissinger Barzani zur
verstärkten Rebellion gegen Bagdad drängte, versuchte er gleichzeitig
geheim Konflikte zwischen Irak und Iran zu schlichten. Das gelang ihm
schließlich für die Öffentlichkeit völlig unerwartet, als Bagdad und
Teheran am 5. März 1975 in Algiers ein Abkommen schlossen, das einen
wichtigen Grenzstreit und die Schiffahrtsrechte des Irans im Grenzfluß
Schatte l Arab regelte.
Sofort beendete der Schah seine Hilfe an die Kurden und riegelte
die Grenze ab. Barzani und seine Peschmerga gerieten in die Falle,
hilflos der attackierenden irakischen Armee ausgeliefert. Die Türkei
beteiligte sich an dem üblen Spiel und schloss ebenfalls die Grenze.
Verzweifelt rief Barzani die USA zu Hilfe. Kissinger reagierte nicht.
Die kurdische Rebellion wurde niedergeschmettert. Die irakische Armee
zerstörte zahllose Dörfer, Zehntausende Kurden – Kämpfer und ihre
Familien – fanden schließlich im Iran Zuflucht. Von den USA verraten,
von Teheran verlassen war Barzanis Kampfgeist gebrochen. Er erkrankte an
Krebs, fand schließlich in den USA medizinische Hilfe und starb dort
1979 in einem Krankenhaus. .
Aufgrund seines Charismas und seiner Unbeugsamkeit gilt er vielen
Kurden jedoch als herausragende Figur der kurdischen
Unabhängigkeitsbewegung. Kissinger rechtfertigte später ungerührt sein
mörderisches Machtspiel mit den Worten „ein Geheimdienst ist keine
soziale Organisation“.
Als Saddam Hussein 1988 den Genozid an den Kurden begann, um sie –
mit Giftgas – für die Kollaboration mit dem iranischen Feind im
achtjährigen Krieg (1980 bis 88) zu bestrafen, mußte Mulla Mustafas Sohn
Massoud ähnlichen Zynismus erleben. Das Giftgas für die Operation
Anfal, die im Grenzort zum Iran, Halabja, ihren Anfang nahm und Tausende
Menschen in einen grauenvollen Tod trieb, mit vom Westen gelieferten
Chemikalien, blieb der internationale Aufschrei aus. Die
gesundheitlichen Folgen auch für die neue Generation sind bis heute
katastrophal und die internationale Hilfe bleibt mager. Westliche
Regierungen wussten über diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit
Bescheid und dennoch sahen sie schweigend zu – ein Verhaltensmuster, das
sich weiter fortsetzte und den türkischen Soziologen und intensiven
Verfechter kurdischer Rechte, Ismail Besikci zu der Analyse veranlasst,
es herrsche eine „anti-kurdische Ordnung“, die alles verhindere, was den
Kurden zu ihren Grundrechten verhelfen würde.
David Phillips, außenpolitischer Berater Präsident Obamas und
vorangegangener US-Präsidenten, der sich intensiv mit dem Nahen Osten
und den Kurden befasste, vertritt die zweifellos richtige Ansicht, dass
die Kurden zu den besten und verlässlichsten Freunden der USA im
Mittleren Osten zählen“. Und dennoch behandeln hohe Beamte im State
Department, insbesondere Arabisten, die Kurdenfrage als ein
Minderheitenproblem und nicht als eine Frage von Demokratie,
Selbstbestimmung und Gerechtigkeit“. Sie nähmen die Unterstützung durch
die Kurden als etwas Selbstverständliches und schätzten sie nicht als
einen der wichtigsten Verbündeten in der Region. Amerikanische Politik,
so klagt Phillips in einem eben erschienen Buch, setzt absolute
Priorität in die sichere Energieversorgung und die Stabilität. So hatten
die Amerikaner Saddam als Bollwerk gegen den Iran aufgebaut und immer
wieder die Kurden verraten.
Nachdem „US-Präsident Bush der erste“ 1991 die irakische
Invasionsarmee aus Kuwait vertrieben hatte, wollte er den Vormarsch nach
Bagdad nicht wagen und rief offen die Iraker zur Rebellion auf, Kurden
und Schiiten konnten diesen Appell nur als Ankündigung amerikanischer
Hilfe interpretieren. Doch diese blieb auch aus, als Saddams Schergen
vor den Augen der US-Armee im Südirak die rebellierenden Schiiten zu
Tausenden niedermetzelten. Eine ähnliche Dramatik ereignete sich etwas
später im kurdischen Norden. Ich habe sie miterlebt. Ich habe die
Euphorie miterlebt, als die Kurden die irakische Armee aus ihrer Region
vertrieben hatten und ich habe miterlebt, wie diese Stimmung abrupt ins
Gegenteil umschlug, als plötzlich die irakische Armee gen Norden zog, um
das verlorene Gebiet zurück zu erobern. Das Rezept dafür war in dem von
den Amerikanern diktierten Waffenstillstandsabkommen niedergeschrieben:
Flugzeuge durften die Iraker nicht einsetzen, doch Helikopter waren
gestattet. Mit Helikoptern hatte Saddam Halabja eingegast und andere
Orte bombardiert. Ich sah die Helikopter über Siedlungen kreisen und die
gigantische Panik der Menschen. Ich flüchtete mit ihnen in die Berge.
Eineinhalb Millionen sammelten sich im Schnee an der verschlossenen
Grenze zur Türkei. Es dauerte Tage, bis Ankara den Elenden zu Hilfe kam
und sie ins Land ließ. Hier sei bemerkt, dass der Iran damals, und fast
immer, seine Grenzen für die kurdischen Flüchtlinge offen ließ. Bush
fürchtete, der Sturz Saddams würde die Region gefährlich
destabilisieren. Den Preis dafür mussten Zehntausende Menschen zahlen.
Die von den Amerikanern und Briten schließlich eingerichtete
Flugverbotszone im Nord-Irak, über jenem heute von den Kurden
selbstverwalteten Gebiet, ermöglichte den Beginn einer Autonomie – doch
mit gigantischen Hindernissen, denn die UNO behielt die seit der
Invasion Kuwaits verhängten Sanktionen auch gegen die Kurden bei (was
etwa den Aufbau der Landwirtschaft unmöglich machte, weil auch
Düngemittel nicht geliefert werden durften, um nur ein Beispiel zu
nennen. Zudem verhängte Bagdad gegenüber Kurdistan seine eigenen
Sanktionen und die Kurden gerieten in totale Abhängigkeit von
humanitärer Hilfe – das zwölf Jahre lang. Ihre Widerstandskraft, ihr
Kampfgeist, waren gebrochen. Die psychologischen Auswirkungen dieses
jahrzehntelangen Leids, der Zerstörungen, der Vertreibungen, der
Vernichtung jeder Lebensbasis bedürfen einer eigenen Studie, die bisher
niemand in Angriff genommen hat, wie man im Irak auch bis heute den so
dringend nötigen Prozess der Aufarbeitung der Vergangenheit, der
nationalen Versöhnung nach südafrikanischem Vorbild etwa sträflich
verabsäumt hat. Saddam wurde viel zu schnell exekutiert.
Ungeachtet all dieser Enttäuschungen setzte Massoud Barzani weiter
sein Vertrauen in die USA und leistete ihr 2003 die entscheidende
militärische Hilfe für den Krieg zum Sturz Saddam Husseins. Als
Belohnung sorgte Washington dafür, dass die Selbstverwaltung der Kurden
in der Verfassung verankert wird, beharrte aber weiter entschieden auf
der Einheit des Iraks, die im Grunde längst nicht mehr existierte. Und
die Kurden beugten sich Washingtons Wunsch. Doch unterdessen hat der IS
neue Fakten geschaffen. So dramatisch diese auch sind, die Haltung des
Westens, der USA nimmt tragen ihnen nicht Rechnung. Zwar hat man
anerkannt, dass die fast durchwegs laizistisch, pro-westlich und
politisch gemäßigt eingestellten Kurden die wichtigste, die
verläßlichste lokale Kampfkraft gegen die Fanatiker des IS sind, doch
wie einst die Sowjets gegenüber Mahabad oder Kissinger in den 1970er
Jahren bleibt – so scheint es – die Unterstützung begrenzt. Das alte
Verhaltensmuster lebt fort.
Die Peschmergas dürfen eine tausend Kilometer lange Grenze gegen IS
verteidigen, sie sollen ihr Leben einsetzen und wenn nötig auch lassen,
um irakische (auch arabische) Städte zu befreien – mehr als 700
Peschmerga verloren dabei bisher ihr Leben. Doch westliche Länder wollen
ihnen die für eine effiziente Verteidigung nötigen schweren Waffen
verweigern. Denn Washington ist im Denken der Vergangenheit verankert:
die Kurden sollen nicht zu stark werden, die Einheit des Iraks muß
erhalten bleiben, wiewohl in der Region selbst dieses lange Tabu seit
dem Aufstieg von Is durchbrochen ist. Arabische Gegner der Kurden im
Irak wagen erstmals offen die Ansicht auszusprechen, dass die Kurden ja
nie Teil dieses Staates sein wollten und ihn immer nur destabilisiert
hätten. Es wäre wohl besser sie würden sich endlich lossagen. Und sogar
die Regionalmacht Türkei beginnt sich umzustellen. Vielleicht ist ein
unabhängiger, gemäßigter, stabiler kurdischer Pufferstaat gegenüber dem
in Aufruhr stehenden Irak und den Terroristen des Is, gar eine
Sicherheitsgarantie für die Türkei?
Und das Bild von Kobani drängt sich auf – die wochenlangen Dramen sind ein weiteres Symbol für das kurdische Schicksal.
Die strategisch wichtige Grenzstadt von Panzern des IS auf drei
Seiten belagert, die vierte Seite offen zur Türkei, einem anderen Feind
der Kurden.IS rückt näher und näher, die Bewohner Kobanis haben nur
leichte Waffen und wenige Kämpfer, IS modernes amerikanisches
Kriegsgerät. Wer hilft den unschuldig Eingeschlossenen? Türkische Panzer
rollen zur Grenze. Einer neben dem anderen, die Kanonen auf Kobani
gerichtet. Doch die Soldaten sitzen auf den Panzern und beobachtet
gemächlich das Geschehen, tage-, wochenlang. Immer mehr Bomben und
Raketen schlagen in Kobani ein. Warum kommen US-Flugzeuge den Kurden
nicht zu Hilfe? Könnten sie nicht die im menschenleeren Gebiet um Kobani
stationierten Panzern des IS ohne sog. „Kollateralschäden“, wie der Tod
von Zivilisten im Militärchargon so gerne genannt wird, ausschalten.
Die Eingeschlossenen kämpfen mit unfassbarer Energie. Doch es fehlt an
Waffen, sie appellieren um Nachschub. Doch niemand reagiert. Die
kurdischen Kämpfer gehören der den „Volksverteidigungseinheiten“ (YPG)
an, die mit der türkisch-kurdischen PKK verbündet sind. Die Türken
betrachteten die PKK jahrzehntelang als „Erzfeind Nummer Eins“, heute
ist sie „Partner“ in einem sog. Friedensprozess. Doch die PKK steht auf
der amerikanischen Terrorliste. YPG aber nicht, hat auch nie einen
Terrorakt verübt und schon gar nicht gegen US-Interessen, dies auch
niemals angekündigt. Dennoch…. – keine Waffen. Schließlich kündigt
Washington Hilfe seiner Kampfjets aus der Luft an, doch sie kommt
nicht. Endlich ist es so weit, zögernd, nur ein wenig. Dann dringt der
IS in Kobani ein, immer tiefer in die Stadt und die Amerikaner schlagen
zu aus der Luft, auf die Stadt. Hinter der Stacheldrahtgrenze warten in
der Türkei lebende Kurden, darunter wohl auch Verwandte der Bürger von
Kobani, verzweifelt, um den Eingeschlossenen beizustehen. Ankara lässt
sie nicht über die Grenze.
Erst nach langer Zeit, wohl auf amerikanischen Druck, gestattet die
Türkei den Durchmarsch einer unbewaffneten Einheit irakisch-kurdischer
Peschmerga nach Kobani. Schließlich gelingt es den IS zu vertreiben.
Kobani ist frei.
Doch was bleibt, ist ein Trümmerhaufen. Es war ein zynisches
Spiel. Schon schreiben so manche Kommentatoren, die Amerikaner sollten
sich in ihrer Nahoststrategie nicht weiter so stark von der Türkei unter
Druck setzen lassen. Kobani, diese strategisch wichtige Grenzstadt ist
den Türken seit langem ein Dorn im Auge. Hier war die Sehnsucht nach
Freiheit und Selbstbestimmung besonders stark ausgeprägt. Es hätte ein
Zentrum für kurdische Selbstverwaltung bilden können. Nun hausen die
Bewohner in elenden Zeltlagern jenseits der Grenze. Ob sie je
zurückkehren können? Eine menschenleere „Sicherheitszone“ in diesem
syrischen Gebiet entlang der hunderte Kilometer langen Grenze - davon
träumen die türkischen Führer seit langem.
Wer kann sich ein Freund der Kurden nennen?
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