Montag, 30. März 2015

Kurden: Immer noch „die Waisen des Universums“

Ein zeitgeschichtlicher Überblick über das tragische Schicksal des größten Volkes ohne Staat, der ihm bis heute verwehrt wird
 
von Birgit Cerha
 

Das kurdische Volk wurde nie objektiv gezählt. Es gibt nur Schätzungen. Die wahrscheinlichsten sprechen von insgesamt mindestens 40 Millionen.
Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches haben die Siegermächte die Grenzen im Orient  - ohne Rücksicht auf die Zusammensetzung und Präsenz der diversen Völker, die dort leben - nach Eigeninteressen und auch willkürlich gezogen. Um die Rumpftürkei etwa vom französischen Mandatsgebiet Syrien zu trennen und damit die bis heute völkerrechtlich geltende Grenze zwischen der Türkei und Syrien zu ziehen, wählten die Siegermächte die Eisenbahnlinie Berlin-Bagdad-Basra.   
 
Wo sich die Schienen durch Ortschaften und kleine Städte zogen , teilte man diese und damit auch Stämme, Clans, Familien und Freunde. Dies traf vor allem die Kurden in der Türkei, in Syrien und im Irak. So etwa- um nur ein Beispiel zu nennen -  ist die kurdische Stadt Qamishli im Nordosten Syriens nur 30 Meter von dem kurdischen Nusaybin in der Türkei getrennt – eine Grenze, die die Türkei in Ostblockmanier durch kilometerlange Stacheldrahtzäune und Wachtürme hermetisch abriegelte.
Die größte kurdische Bevölkerung ist  in der                      TÜRKEI     etwa 22,5 Millionen, gefolgt vom IRAN            mit  8-10 Mio.,     IRAK      mit 4,5 Mio.;  SYRIEN mit 2,5  Mio. In EUROPA leben  mehr als 2 Mio. und in Ländern der  EX-SOWJETUNION eine halbe Million.
Es folgt ein ganz kurzer Überblick über die heutige Situation in den einzelnen Ländern:
In allen Ländern des Orients, in denen Kurden leben, hatten sich Bewegungen formiert, die mehr oder weniger erfolgreich, mehr oder weniger durch Einsatz von Waffen, um die ihrem Volk verwehrten Grundrechte kämpften und mehr oder weniger brutale Repressionen – bis zum Genozid vor allem im Irak, zuletzt die Yeziden in Sindjar und Kubani in Syrien – erlitten und bis heute erleiden.
In der Türkei hat Abdullah Öcalan aus seinem Gefängnis in der Imrali-Festung seiner PKK das Ende des Aufstandes befohlen, um einen von Präsident Erdogan angebotenen Friedensprozess zum Erfolg zu führen. In den vergangenen Jahren haben die Kurden – vor allem auf Druck der EU – kleine Rechte errungen. Die Worte Kurde und Kurdistan gelten nicht mehr – wie jahrzehntelang- als Tabu. Es gibt kurdische TV-Sendungen und sogar Unterricht in der Sprache an Universitäten – allerdings, wie etwa an der Universität der Kurdenstadt Mardin nur in einem sog. „Institut für lebende Sprachen“. Dort werden Kurdischlehrer ausgebildet, doch sie bekommen keine Arbeit, weil es keinen Schulunterricht gibt. All diese Veränderungen sind nicht mehr als Scheinreformen, um die Stimmung in Europa zu beeinflussen, um die im geostrategisch so wichtigen Südosten der Türkei lebenden Kurden zu einer Zeit zu beschwichtigen, da die Nachbarländer – Syrien, Irak – die Region insgesamt im blutigen Aufruhr mit unabsehbarem Ausgang steht und den bereits sehr erfolgreichen Assimilationsprozess fortzusetzen. In Wahrheit werden auch heute noch in der Türkei kurdische Intellektuelle verfolgt, Journalisten eingesperrt, vom Volk gewählte Bürgermeister verhaftet und abgesetzt. In Wahrheit ist die Türkei der Bereitschaft weit entfernt, den Kurden die heißersehnten menschlichen Grundrechte zu gewähren. So bleibt – worüber hier wenig geredet wird – die Lehre der kurdischen Sprachen in Schulen unverändert verboten.
 
 
Diyarbakir ist mit mehr als einer Million Einwohnern die heimliche Hauptstadt Kurdistans in der Türkei. Die Stadt besitzt eine der größten und besterhaltenen antiken Befestigungsanlagen der Welt. Sie besteht zum größten Teil aus Basalt.
 
Im Iran ist zwar die kurdische Sprache nicht verboten. Es gibt auch eine Provinz Kurdistan. In Buchhandlungen werden auch kurdische Bücher verkauft, doch vor allem die in den Kurdengebieten lebenden Menschen werden massiv unterdrückt. Dort herrscht ein Klima der Angst, denn der Staat schlägt gnadenlos mit Gefängnis und Exekutionen, zunehmend auch von Minderjährigen, zu. Nach Angaben der unabhängigen „Iran Human Rights“ wurden seit der Machtübernahme des als so gemäßigt geltenden Präsidenten Rouhani im August 2013 1193 Menschen hingerichtet, Besonders betroffen sind die Kurden, aber auch andere Minderheiten wie Belutschen und Bahais. Das „Verbrechen“ lautet häufig „Feindschaft gegen Gott“.
 

In Syrien lebten und leben die Kurden in keinem geschlossenen Siedlungsgebiet, sondern in drei voneinander durch arabische Dörfer getrennten Gebieten im Norden des Landes, an der Grenze zur Türkei, viele aber auch in Damaskus und in dem inzwischen in großen Teilen zerstörten Aleppo.  In den Kurdengebieten im Norden und Nordosten, den Regionen Afrin, Kobani und Cezire, hat die größte Kurdenpartei, die „Demokratische Unionspartei“ (PYD) im November 2013 das autonome „Rojava“ (übersetzt „West-Kurdistan“, gemeint ist der westliche Teil eines vereinten Kurdistan) ausgerufen und praktiziert ein in der Region einzigartiges Experiment, das so manche begeistert als Vorbild für den Nahen Osten sehen wollen. Sie nennen es „Demokratie von unten“, eine wie sie es nennen „neue politische Ordnung“, in der Nationalitäten, Volkszugehörigkeiten, keine Rolle spielen sollen. Tatsächlich fühlen sich die dort lebenden Minderheiten, insbesondere Christen, aber auch Araber, nach eigenen Aussagen, wie – natürlich nicht repräsentative Umfragen, die angesichts der kriegerischen Turbulenzen nicht durchgeführt werden können – ergaben, sicher und gleichberechtigt. Das gilt insbesondere auch für die Frauen. Viele Kurdinnen engagieren sich aktiv in diesem neuen politischen Experiment, für dessen Sicherheit der militärische Arm von PYD,  die Volksverteidigungseinheiten (YPG) sorgen. Einzigartig im Mittleren Osten, hat die YPG eigene Fraueneinheiten, die einen wichtigen Beitrag um Kampf um die Befreiung Kobanis geleistet hatten. Von den ungefähr 40.000 YPG-Kämpfern dürften etwa 10.000 Frauen sein.
 
 
Die Kurden im Nord-Irak schafften es als einzige – allerdings nach gigantischen Opfern – sich seit 1991 und zunehmend seit 2003 selbst zu verwalten. Ihre Region im Norden, die drei irakische Provinzen umfasst – aber nicht angrenzende sog. „umstrittene Gebiete“ (umstritten zwischen Kurden und Bagdad), die mehrheitlich von Kurden bewohnt sind – war nach dem Sturz von Diktator Saddam Hussein 2003 jahrelang eine „Oase der Ruhe“, im Begriff, sich dank des Ölreichtums unter seinem Boden zum Dubai des Nordens aufzubauen und zugleich die ökonomische Basis für einen unabhängigen Staat zu schaffen. Dieses seit Jahrzehnten sehnsuchtsvoll verfolgte Ziel ist nahegerückt wie nie zuvor. Doch der rasante Aufstieg der Terrormiliz des „Islamischen Staates“ (IS) bedeutet auch für die Kurden und ihr Reich eine tödliche Gefahr.
Kurdistan bietet heute Flüchtlingen aus dem Rest des Iraks Schutz – Hunderttausende sind es bereits.
 
 
Die Zitadelle von Erbil wurde am 21. Juni 2014 zum UNESCO Weltkulturerbe erklärt. Nach Schätzungen  geht die Zitadelle auf das 5. Jahrhundert v,Chr. zurück und ist eine der am längsten durchgehend bewohnten Siedlungen der Welt.
Im Boden irakisch-Kurdistans liegen noch gigantische öl- und Gasschätze. Trotz dieses Segens bewahrheitet sich auch heute wieder der von Mulla Mustafa Barzani, dem legendären Kämpfer für kurdische Grundrechte, für kurdische Freiheit und Selbstbestimmung – geprägte Ausspruch: „Die Kurden sind die Waisen des Universums“, ihre einzigen Freunde sind die Berge. Bis heute sind sie das größte Volk geblieben, dem die internationale Gemeinschaft, die Regionalstaaten und die Weltmächte das Grundrecht auf Selbstbestimmung und einen eigenen Staat verwehrt haben und immer noch verwehren. Einer der Gründe dafür ist die Geografie: ohne Zugang zum Meer, umschlossen von Feinden – Türken, Persern, Arabern -, die sie in ihrer langen Geschichte für ihre eigenen Machtspiele missbrauchten – und die Kurden ließen sich oft nur allzu willig missbrauchen – und sich dann aber auch immer wieder gemeinsam gegen sie verbündeten, damit sie nur ja nicht an Stärke gewännen.
Immer waren die Kurden, die sich keinem fremden Joch beugen wollten, erst die Bauern auf dem Schachbrett der Großen, dann die „Bauernopfer" zugunsten höherer Machtinteressen; mal politischer Spielball, mal politischer Sündenbock: Syrien setzte seine Kurden gegen die Türkei ein, die Türkei operierte gegen ihre Kurden mit Hilfe des Irak, der Iran setzte seine Kurden als Sprengsatz gegen den Irak ein. Doch keiner wollte ihnen das zugestehen, was sie spätestens seit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches anstrebten: den eigenen Staat. Stattdessen wurden sie immer wieder zwischen den Mühlsteinen zerrieben.
Barzanis Lebenskampf ist symptomatisch für das Schicksal dieses von der Geschichte, den Regional- und den Weltmächten immer und immer wieder verratenen Volkes. Ich möchte deshalb ein wenig darüber erzählen.
 
 Mustafa Barzani wurde am 14. März 1903 in dem kleinen Dorf Barzan, hoch in den Bergen Kurdistans geboren. Sein Vater war einer der Gründer einer sufistischen Bewegungen, eines  Zweiges des Nakschbandi-Ordens, die den Namen des Dorfes Barzan trägt und im Freiheitskampf der Kurden im 20. Jahrhundert eine große Rolle spielte. Die Barzan-Bewegung setzte sich als ihr Hauptziel soziale Gleichheit in der Gesellschaft, den Verzicht auf Reichtum. Auf der Basis dieser Regel haben sieben Führer großer kurdischer Stämme in einer einzigartigen Aktion ihr Land auf ihre Stammesmitglieder aufgeteilt.
Mulla Mustafa folgte seinem älteren Bruder, Sheikh Ahmed, der den Nationalkampf der Kurden vom Ersten Weltkrieg an bis in die späten 1930er Jahre anführte. Gemeinsam kämpften sie gegen den ersten großen Betrug der Geschichte: Im Vertrag von Sevres zwischen der Entente und den Überresten des zusammengebrochenen Osmanischen Reiches wurde den Kurden 1920 Selbstbestimmung versprochen, doch Mustafa Kemal, genannt Atatürk,führte einen erfolgreichen Unabhängigkeitskrieg um den türkischen Rumpfstaat, konsolidierte die türkische Macht in Anatolien und Nord-Kurdistan und stärkte damit die Position der Türken bei den Verhandlungen, die 1923 zum Friedensvertrag von Lausanne führten. Die Kurden wurden darin nicht einmal mehr erwähnt und die Grenzen wurden neu gezogen – zwischen Irak, Syrien und der Türkei, ohne historische Basis, ohne Rücksicht auf die ethnische Zusammensetzung der dort lebenden Menschen.
Doch die Kurden wollten sich mit diesem Diktat der Weltmächte nicht abfinden. Mustafa Barzani stellte sein ganzes Leben in diesen Kampf. 1941 besetzten britische und sowjetische Truppen den Iran, um Teheran daran zu hindern, auf deutscher Seite in den Weltkrieg einzutreten. Sie teilten das Land in zwei Zonen auf und die Sowjets, die den Nordwesten kontrollierten, gewährten den in ihrer Zone lebenden Kurden de facto Unabhängigkeit. Die Republik Mahabad wurde gegründet  und 1946 wurde Barzani dort zum Militärkommandanten ernannt. Um diesen ersten kurdischen Staat gegen die vielen Feinde, insbesondere den Iran, abzusichern, bat Barzani die sowjetische Schutzmacht um Panzer und schwere Waffen. Doch Moskau schickte nur ein paar Gewehre und eine Druckerpresse. Nicht kurdische Rechte waren sowjetisches Interesse, sondern Ölkonzessionen im Iran (ein Verhaltensmuster, das sich gegenüber den Kurden immer und immer wieder wiederholen sollte, bis heute.  Der Kreml manipulierte separatistische Aktivitäten der Kurden und der Azeris, um Teheran unter Druck zu setzen. Als er schließlich 1946 die Ölkonzessionen bekam, zog er rasch die sowjetischen Truppen aus dem Iran ab. Die Armee Schah Reza Pahlevis attackierte Mahabad. Die Republik brach zusammen Barzani und 400 seiner besten Kämpfer flüchteten in die Sowjetunion, wo er 1946 die heute von seinem Sohn Massoud im Irak geführte “Kurdische Demokratische Partei” gründete. Der Präsident Mahabads, Qazi Mohammed, und einige seiner Minister wurden 1947 erhängt.
 
Hilfe und Manipulation für Eigeninteressen, Missbrauch und Verrat mit katastrophalen Folgen bestimmten seither das Schicksal der Kurden insbesondere im Irak. Ich möchte die wichtigsten Beispiele nennen.
Die Kurden des Iraks haben sich nie als Teil eines Staates empfunden, in den sie hineingezwungen wurden, weil es nach den Ölfunden in Kirkuk den Interessen der britischen Mandatsmacht entsprochen hatte, den kurdischen Norden voll in ihr Mandatsgebiet Irak zu integrieren.
 
Der Preis an Menschenleben und Sicherheit, den die aufeinanderfolgenden Herrscher in Bagdad den Kurden aufzwangen, um sie in ihrem Staat als Bürger zweiter Klasse zu halten, ist gigantisch. Über Jahrzehnte wiederholte sich dasselbe Muster: Kurden verlangten Selbstverwaltung, Bagdad sagte zu. Barzani legte die Waffen nieder, Bagdad hielt die Versprechen nicht, verstärkte massiv die Repression, der bewaffnete Aufstand begann von neuem. Besonders schlimm wurde es für die Kurden, als äußere Mächte – wie so oft in der Geschichte – sie wieder für ihre Interessen missbrauchten.
 
Die USA folgten dem Beispiel von Missbrauch und Verrat, den die Sowjetunion in den 1940er Jahren in Mahabad an den Kurden begangen hatte. Beunruhigt über den wachsenden Einfluss der Sowjetunion im Irak, entschieden sich die USA Anfang der 1970er Jahre, gemeinsam mit dem Iran und Israel, die Kurden zu einem verstärkten Guerillakampf der von Barzani aufgebauten Peschmerga zu drängen, um Bagdad empfindlich zu schwächen. Bagdad hatte wieder, wie so oft in der Geschichte, die Zusagen zu einer weitgehenden Autonomien, die es 1970 in einem Abkommen nach langen Kämpfen den Kurden gemacht hatten, nicht eingehalten und die USA versprachen Barzani Unterstützung zur Durchsetzung ihrer Rechte.
Es war ein derart geheimes Unterfangen, des US-Geheimdienstes, dass nicht einmal das  US-State-Department darüber informiert wurde. Um keine Spuren nach Washington zu hinterlassen, lieferten die Amerikaner den Kurden sowjetische Waffen, die sie in Vietnam  und die Israelis sowjetische Waffen die sie aus dem Krieg gegen die Araber 1972 erbeutet hatten. Der Iran leistete intensive praktische Hilfe. Doch den Amerikanern ging es – wie einst den Sowjets – keineswegs um die Grundrechte der Kurden. Ein unabhängiger Staat gefährdete in ihren Augen die Stabiltiät in der Region – eine Ansicht, an der Washington bis heute, trotz IS, festhält. So dosierten sie ihre Hilfe so vorsichtig, dass die Kurden keinesfalls siegen würden. Dennoch gelang es Barzanis Peschmergas, Bagdad empfindlich unter Druck zu setzen. Während Barzani dem Iran zutiefst misstraute – ein kurdischer Spruch lautet: „Der Iran gibt uns entweder Honig mit Gift oder Gift mit Honig“ – war sein Vertrauen zu den USA grenzenlos:. 1973 erklärte er einem amerikanischen journalisten: „Ich vertraue Amerika. Amerika ist eine zu große Macht, um ein kleines Volk wie uns Kurden zu verraten.“  Diese Einschätzung sollte sich als ein fataler, schicksalhafter Fehler erweisen, dem auch sein Sohn erlag.
In Wahrheit spielte Washington ein „zynisches“ Doppelspiel, wie auch ein Bericht des „House Select Intelligence Committee“ über illegale Aktivitäten der amerikanischen Geheimdienste feststellte. Während der damalige Nationale Sicherheitsberater Henry Kissinger Barzani zur verstärkten Rebellion gegen Bagdad drängte, versuchte er gleichzeitig geheim Konflikte zwischen Irak und Iran zu schlichten. Das gelang ihm schließlich  für die Öffentlichkeit völlig unerwartet, als Bagdad und Teheran am 5. März 1975 in Algiers ein Abkommen schlossen, das einen wichtigen Grenzstreit und die Schiffahrtsrechte des Irans im Grenzfluß Schatte l Arab regelte.
 
 
Sofort beendete der Schah seine Hilfe an die Kurden und riegelte die Grenze ab. Barzani und seine Peschmerga gerieten in die Falle, hilflos der attackierenden irakischen Armee ausgeliefert. Die Türkei beteiligte sich an dem üblen Spiel und schloss ebenfalls die Grenze. Verzweifelt rief Barzani die USA zu Hilfe. Kissinger reagierte nicht. Die kurdische Rebellion wurde niedergeschmettert. Die irakische Armee zerstörte zahllose Dörfer, Zehntausende Kurden – Kämpfer und ihre Familien – fanden schließlich im Iran Zuflucht.  Von den USA verraten, von Teheran verlassen war Barzanis Kampfgeist gebrochen. Er erkrankte an Krebs, fand schließlich in den USA medizinische Hilfe und starb dort 1979 in einem Krankenhaus. .
Aufgrund seines Charismas und seiner Unbeugsamkeit gilt er vielen Kurden jedoch als herausragende Figur der kurdischen Unabhängigkeitsbewegung. Kissinger rechtfertigte später ungerührt sein mörderisches Machtspiel  mit den Worten „ein Geheimdienst ist keine soziale Organisation“.
Als Saddam Hussein 1988 den Genozid an den Kurden begann, um sie – mit Giftgas – für die Kollaboration mit dem iranischen Feind im achtjährigen Krieg (1980 bis 88) zu bestrafen, mußte Mulla Mustafas Sohn Massoud ähnlichen Zynismus erleben.  Das Giftgas für die Operation Anfal, die im Grenzort zum Iran, Halabja, ihren Anfang nahm und Tausende Menschen in einen grauenvollen Tod trieb, mit  vom Westen gelieferten Chemikalien, blieb der internationale Aufschrei aus. Die gesundheitlichen Folgen auch für die neue Generation sind bis heute katastrophal und die internationale Hilfe bleibt mager. Westliche Regierungen wussten über diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit  Bescheid und dennoch sahen sie schweigend zu – ein Verhaltensmuster, das sich weiter fortsetzte und den türkischen Soziologen und intensiven Verfechter kurdischer Rechte, Ismail Besikci zu der Analyse veranlasst, es herrsche eine „anti-kurdische Ordnung“, die alles verhindere, was den Kurden zu ihren Grundrechten verhelfen würde.
David Phillips, außenpolitischer Berater Präsident Obamas und vorangegangener US-Präsidenten, der sich intensiv mit dem Nahen Osten und den Kurden befasste, vertritt die zweifellos richtige Ansicht, dass die Kurden zu den besten und verlässlichsten Freunden der USA im Mittleren Osten zählen“.  Und dennoch behandeln hohe Beamte im State Department, insbesondere Arabisten, die Kurdenfrage als ein Minderheitenproblem und nicht als eine Frage von Demokratie, Selbstbestimmung und Gerechtigkeit“.  Sie nähmen die Unterstützung durch die Kurden als etwas Selbstverständliches und schätzten sie nicht als einen der wichtigsten Verbündeten in der Region.  Amerikanische Politik, so klagt Phillips in einem eben erschienen Buch, setzt absolute Priorität in die sichere Energieversorgung und die Stabilität. So hatten die Amerikaner Saddam als Bollwerk gegen den Iran aufgebaut und immer wieder die Kurden verraten.
Nachdem „US-Präsident Bush der erste“ 1991 die irakische Invasionsarmee aus Kuwait vertrieben hatte, wollte er den Vormarsch nach Bagdad nicht wagen und rief offen die Iraker zur Rebellion auf, Kurden und Schiiten konnten diesen Appell nur als Ankündigung amerikanischer Hilfe interpretieren. Doch diese blieb auch aus, als Saddams Schergen vor den Augen der US-Armee im Südirak die rebellierenden Schiiten zu Tausenden niedermetzelten. Eine ähnliche Dramatik ereignete sich etwas später im kurdischen Norden. Ich habe sie miterlebt. Ich habe die Euphorie miterlebt, als die Kurden die irakische Armee aus ihrer Region vertrieben hatten und ich habe miterlebt, wie diese Stimmung abrupt ins Gegenteil umschlug, als plötzlich die irakische Armee gen Norden zog, um das verlorene Gebiet zurück zu erobern. Das Rezept dafür war in dem von den Amerikanern diktierten Waffenstillstandsabkommen niedergeschrieben: Flugzeuge durften die Iraker nicht einsetzen, doch Helikopter waren gestattet. Mit Helikoptern hatte Saddam Halabja eingegast und andere Orte bombardiert. Ich sah die Helikopter über Siedlungen kreisen und die gigantische Panik der Menschen. Ich flüchtete mit ihnen in die Berge. Eineinhalb Millionen sammelten sich im Schnee an der verschlossenen Grenze zur Türkei. Es dauerte Tage, bis Ankara den Elenden zu Hilfe kam und sie ins Land ließ. Hier sei bemerkt, dass der Iran damals, und fast immer, seine Grenzen für die kurdischen Flüchtlinge offen ließ. Bush fürchtete, der Sturz Saddams würde die Region gefährlich destabilisieren. Den Preis dafür mussten Zehntausende Menschen zahlen.
Die von den Amerikanern und Briten schließlich eingerichtete Flugverbotszone im Nord-Irak, über jenem heute von den Kurden selbstverwalteten Gebiet, ermöglichte den Beginn einer Autonomie – doch mit gigantischen Hindernissen, denn die UNO behielt die seit der Invasion Kuwaits verhängten Sanktionen auch gegen die Kurden bei (was etwa den Aufbau der Landwirtschaft unmöglich machte, weil auch Düngemittel nicht geliefert werden durften, um nur ein Beispiel zu nennen. Zudem verhängte Bagdad gegenüber Kurdistan seine eigenen Sanktionen und die Kurden gerieten in totale Abhängigkeit von humanitärer Hilfe – das zwölf Jahre lang. Ihre Widerstandskraft, ihr Kampfgeist, waren gebrochen. Die psychologischen Auswirkungen dieses jahrzehntelangen Leids, der Zerstörungen, der Vertreibungen, der  Vernichtung jeder Lebensbasis bedürfen einer eigenen Studie, die bisher niemand in Angriff genommen hat, wie man im Irak auch bis heute den so dringend nötigen Prozess der Aufarbeitung der Vergangenheit, der nationalen Versöhnung nach südafrikanischem Vorbild etwa sträflich verabsäumt hat. Saddam wurde viel zu schnell exekutiert.
Ungeachtet all dieser Enttäuschungen setzte Massoud Barzani weiter sein Vertrauen in die USA und leistete ihr 2003 die entscheidende militärische Hilfe für den Krieg zum Sturz Saddam Husseins. Als Belohnung sorgte Washington dafür, dass die Selbstverwaltung der Kurden in der Verfassung verankert wird, beharrte aber weiter entschieden auf der Einheit des Iraks, die im Grunde längst nicht mehr existierte. Und die Kurden beugten sich Washingtons Wunsch. Doch unterdessen hat der IS neue Fakten geschaffen. So dramatisch diese auch sind, die Haltung des Westens, der USA nimmt tragen ihnen nicht  Rechnung. Zwar hat man anerkannt, dass die fast durchwegs laizistisch, pro-westlich und politisch gemäßigt eingestellten Kurden die wichtigste, die verläßlichste lokale Kampfkraft gegen die Fanatiker des IS sind, doch wie einst die Sowjets gegenüber Mahabad oder Kissinger in den 1970er Jahren bleibt – so scheint es – die Unterstützung begrenzt. Das alte Verhaltensmuster lebt fort.
Die Peschmergas dürfen eine tausend Kilometer lange Grenze gegen IS verteidigen, sie sollen ihr Leben einsetzen und wenn nötig auch lassen, um irakische (auch arabische) Städte zu befreien – mehr als 700 Peschmerga verloren dabei bisher ihr Leben. Doch westliche Länder wollen ihnen die für eine effiziente Verteidigung nötigen schweren Waffen verweigern. Denn Washington ist im Denken der Vergangenheit verankert: die Kurden sollen nicht zu stark werden, die Einheit des Iraks muß erhalten bleiben, wiewohl in der Region selbst dieses lange Tabu seit dem Aufstieg von Is durchbrochen ist. Arabische Gegner der Kurden im Irak wagen erstmals offen die Ansicht auszusprechen, dass die Kurden ja nie Teil dieses Staates sein wollten und ihn immer nur destabilisiert hätten. Es wäre wohl besser sie würden sich endlich lossagen. Und sogar die Regionalmacht Türkei beginnt sich umzustellen. Vielleicht ist ein unabhängiger, gemäßigter, stabiler kurdischer Pufferstaat gegenüber dem in Aufruhr stehenden Irak und den Terroristen des Is, gar eine Sicherheitsgarantie für die Türkei?
Und das Bild von Kobani drängt sich auf – die wochenlangen Dramen sind ein weiteres Symbol für das kurdische Schicksal.
 
 
Die strategisch wichtige Grenzstadt von Panzern des IS auf drei Seiten belagert, die vierte Seite offen zur Türkei, einem anderen Feind der Kurden.IS rückt näher und näher, die Bewohner Kobanis haben nur leichte Waffen und wenige Kämpfer, IS modernes amerikanisches Kriegsgerät. Wer hilft den unschuldig Eingeschlossenen? Türkische Panzer rollen zur Grenze. Einer neben dem anderen, die Kanonen auf Kobani gerichtet. Doch die Soldaten sitzen auf den Panzern und beobachtet gemächlich das Geschehen, tage-, wochenlang. Immer mehr Bomben und Raketen schlagen in Kobani ein. Warum kommen US-Flugzeuge den Kurden nicht zu Hilfe? Könnten sie nicht die im menschenleeren Gebiet um Kobani stationierten Panzern des IS ohne sog. „Kollateralschäden“, wie der Tod von Zivilisten im Militärchargon so gerne genannt wird, ausschalten. Die Eingeschlossenen kämpfen mit unfassbarer Energie. Doch es fehlt an Waffen, sie appellieren um Nachschub. Doch niemand reagiert. Die kurdischen Kämpfer gehören der den „Volksverteidigungseinheiten“ (YPG) an, die mit der türkisch-kurdischen PKK verbündet sind. Die Türken betrachteten die PKK jahrzehntelang als „Erzfeind Nummer Eins“, heute ist sie „Partner“ in einem sog.  Friedensprozess. Doch die PKK steht auf der amerikanischen Terrorliste. YPG aber nicht, hat auch nie einen Terrorakt verübt und schon gar nicht gegen US-Interessen, dies auch niemals angekündigt. Dennoch…. – keine Waffen. Schließlich kündigt Washington  Hilfe seiner Kampfjets aus der Luft an, doch sie kommt nicht. Endlich ist es so weit, zögernd, nur ein wenig. Dann dringt der IS in Kobani ein, immer tiefer in die Stadt und die Amerikaner schlagen zu aus der Luft, auf die Stadt. Hinter der Stacheldrahtgrenze warten in der Türkei lebende Kurden, darunter wohl auch Verwandte der Bürger von Kobani, verzweifelt, um den Eingeschlossenen beizustehen. Ankara lässt sie nicht über die Grenze.
 
Erst nach langer Zeit, wohl auf amerikanischen Druck, gestattet die Türkei den Durchmarsch einer unbewaffneten Einheit irakisch-kurdischer Peschmerga nach Kobani. Schließlich gelingt es den IS zu vertreiben. Kobani ist frei.

 Doch was bleibt, ist ein Trümmerhaufen. Es war ein zynisches Spiel. Schon schreiben so manche Kommentatoren, die Amerikaner sollten sich in ihrer Nahoststrategie nicht weiter so stark von der Türkei unter Druck setzen lassen. Kobani, diese strategisch wichtige Grenzstadt ist den Türken seit langem ein Dorn im Auge. Hier war die Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung besonders stark ausgeprägt. Es hätte ein Zentrum für kurdische Selbstverwaltung bilden können. Nun hausen die Bewohner in elenden Zeltlagern jenseits der Grenze. Ob sie je zurückkehren können? Eine menschenleere „Sicherheitszone“ in diesem syrischen Gebiet entlang der hunderte Kilometer langen Grenze  - davon träumen die türkischen Führer seit langem.
Wer kann sich ein Freund der Kurden nennen?

 


 

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