In rasantem Tempo zerstört der „Islamische Staat“ einzigartige
Zeugnisse des größten Kulturerbes der Menschheit, um den „Untertanen des
Kalifats“ ihre Identität zu rauben
von Birgit Cerha
[Bild: Stadtmauer von Niniveh]
Die humanitären Tragödien, das Grauen, das islamistische Fanatiker
in Syrien und im Irak verbreiten, schockiert eine weitgehend ohnmächtige
Welt. Die damit einhergehende Vernichtung einzigartiger Zeugnisse des
größten Kulturerbes der Menschheit findet vor dem Hintergrund von
Massenmord und unendlichem Leid von Millionen Menschen nur geringe
Beachtung. Wiewohl das volle Ausmaß der Zerstörungen in den vom
„Islamischen Staat“ (IS) kontrollierten Regionen Syriens und des Iraks
nicht erkennbar ist, solange die Terrormiliz dort wütet, stimmen
Experten mit UNESCO-Generaldirektorin Irina Bokova überein, dass noch
nie seit Beginn der Zeitrechnung ganze Kulturen in dieser „Wiege der
Menschheit“ von solch totaler Zerstörung bedroht gewesen seien, wie
heute. „Das gesamte immaterielle Kulturerbe der antiken christlichen
Gemeinden, der Yeziden und anderer Minderheiten, deren alte Traditionen
mit dem Land verwurzelt sind“, sei in höchstem Maße gefährdet.
In weniger als einem Jahr, nachdem er Iraks zweitgrößte Stadt Mosul
und ein Drittel des Landes unter seine blutige Kontrolle gezwungen
hatte, begann der IS mit der Vernichtung von Zeugnissen
jahrhundertealter Kulturen, wie er es bereits zuvor in Syrien getan
hatte. Der chaldäisch-katholische Patriarch von Bagdad, Louis Raphael
Sako, vergleicht den Vormarsch der Jihadisten mit dem Mongolensturm. Die
Kämpfer des IS seien aber noch grausamer als Dschinghis Khans und
dessen Enkel Hulagu, der 1258 mit seinen Heerscharen Bagdad geplündert
und vollends zerstört hatte. Schätzungen der Toten reichen von 100.000
bis zu einer Million. Bibliotheken mit reichen Schätzen antiker
Manuskripte über historische, medizinische und andere wissenschaftliche
Forschungen, wurden geplündert und die Werke im Tigris versenkt, dessen
Wasser sich nach der Überlieferung durch die aufgelöste Tinte schwarz
verfärbte.
Wie einst Hudalgus Kämpfer drangen IS-Schergen vor wenigen Tagen in
die Zentralbibliothek von Mosul ein, schafften Tausende Bücher,
darunter Märchen, Poesie, philosophische, kulturelle und
wissenschaftliche Publikationen in sechs Kastenwagen, ließen nur
islamisch-religiöse Werke zurück. „Die Bücher sind verboten, da sie
Unglauben und Ungehorsam gegenüber Allah fördern“, begründete laut
Nachrichtenagentur „AP“ einer der Militanten gegenüber Anrainern die
Aktion.
[Bild: Nabi Younis]
Die von IS kontrollierten Regionen beherbergen mehr als 4.000
archäologische Stätten, darunter Ninive, Nimrud, Dur Šarrukin und
Assur, die Hauptstädte des assyrischen Reiches, das von 1800 bis 609 v.
Chr. über dieses Land herrschte. Minarette aus dem frühen 20 Jahrhundert
bis zu jahrtausendealte Kulturschätze, Grabstätten, Statuen, für
Christen, Juden und Muslime bedeutende Heiligtümer hat der IS bereits
zerstört oder beschädigt. Gnadenlose Besessenheit, dem von ihnen
erstrebten Reich „religiöse Reinheit“, wie sie sie verstehen,
aufzuzwingen, alle Spuren des „Unglaubens“ auszumerzen treibt die
Jihadis. Alle Gedenkstätten für Verstorbene sind ebenso Ziel dieser
„kulturell-historischen Säuberung“, wie Statuen von Dichtern oder
anderen vom Volk verehrten Persönlichkeiten. Denn nach ihrer
radikal-salafistischen Überzeugung kommt die Verehrung von Toten
„teuflischem“ Polytheismus gleich. Schiitische und Sufi-Heiligtümer
dienten ebenso der „Götzenverehrung“ wie die Relikte aus assyrischer
und babylonischer Zeit. Zunehmend werden auch sunnitische Stätten
attackiert, wenn sie vom IS nicht akzeptierten religiösen Praktiken
dienen.
Der Feldzug gegen die antiken Kulturgüter dient auch der
Propaganda, sollen doch Sprengungen von Moscheen, Kirchen und antiken
Palästen die Macht und Unbesiegbarkeit des IS und seiner Ideologie
untermauern und damit junge Kämpfer aus aller Welt anziehen.
IS „beraubt die Menschen ihrer Kultur, ihrer Geschichte und ihres
Kulturerbes“, klagt Irina Bokova. Ziel ist die Bande zu durchtrennen,
die Gemeinschaften zusammenhalten. Ziel ist der Verlust der Identität.
Doch zugleich nutzt der IS den gigantischen Reichtum an antiken
Schätzen als Einkommensquelle zur Finanzierung seines barbarischen
Machtstrebens. Schon im Juni 2014 konnte der irakische Geheimdienst
Beweise liefern. Hunderte Computersticks, die er einem festgenommenen
IS-Jihadi abgenommen hatte enthielten Informationen, dass die
Organisation – wie andere Rebellengruppen und Regierungssoldaten - seit
Beginn des Krieges in Syrien 2011 intensiv Antiquitätenschmuggel
betreibt und allein mit in den Qalamoun-Bergen bei Damaskus versteckten
Objekten u.a. aus dem Museum in Aleppo 36 Mio. Dollar eingenommen hatte.
Seither bedient sich der IS eifrig an den reichen Schätzen im Mosul und
anderen irakischen Museen, zunehmend auch an archäologischen Stätten.
Nach der Eroberung Mosuls und eines Drittels des irakischen
Territoriums überließen die Jihadis zunächst Raubgrabungen Freiwilligen –
häufig von Hunger bedrohten Bürgern - und zwangen diese zur Abgabe
von „khums“ einer 20-prozentigen Steuer, die nach alter islamischer
Tradition, moslemische Soldaten auf Kriegsbeute zu entrichten hatten.
Doch vor einigen Monaten nahm der IS laut Berichten aus der Region das
höchst lukrative Schmuggelgeschäft direkt in die Hand, engagiert Fahrer
für Lkw und Bulldozer, die Ausgrabungsstätten nach unschätzbaren
Reichtümern durchwühlen. Das Gefundene wird dann Mittelsmännern
übergeben, die gleich bezahlen und die Schätze in die Nachbarländer –
insbesondere Türkei und Libanon – schmuggeln. Endziele sind Europa, die
USA und Superreiche am Persischen Golf. Bürger, die jahrelang im
irakischen Chaos aus eigener Kraft wertvolle Kulturgüter geschützt
hatten, werden zunehmend von IS ermordet.
[Bild: Buckliges Minarett in Mosul]
Raubgrabungen sind nichts neues in der Region, insbesondere seit
Beginn der Turbulenzen nach dem Sturz des irakischen Diktators Saddam
Hussein . Doch nun hat diese Form des Diebstahls nach Einschätzung von
Experten ein „einzigartiges Ausmaß“ erreicht. „Diese Region“, klagt
Candida Moss, Professor für Neues Testament, gegenüber der „New York
Times“, „bildete seit Beginn der Geschichtsschreibung für alle großen
Reiche das Zentrum der Welt. Wir sprechen von der Geschichte
zahlreicher aufeinanderfolgender Generationen an einem Ort, die nun mit
einem Schlag zerstört wird.“
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