Im wachsenden Chaos von Arabiens ärmsten, doch strategisch
wichtigstem Land gewinnt Al-Kaidas gefährlichster Ableger unverhofft
neue Chancen
von Birgit Cerha
Schon oft im Laufe seiner jüngeren Geschichte stand der Jemen, am
„Tor der Tränen“ (der wichtigsten Schifffahrtsverbindung vom Persischen
Golf, dem Indischen Ozean nach Europa) gelegen, kurz vor dem Sturz in
den Abgrund. Doch nun ist die Gefahr real wie kaum zuvor. Dem ärmsten
arabischen Land mit seinen 25 Millionen Menschen der Staatszerfall,
nachdem die schiitische Huthi-Miliz im September die Kontrolle über die
Hauptstadt Sanaa übernommen, vor zwei Wochen ihren de facto Putsch durch
die Auflösung der Regierung und des gewählten Parlaments formalisiert
und Präsident Hadi – einem engen Verbündeten der USA - sowie die
Kabinettsmitglieder unter Hausarrest gestellt hatte. Sie verkündeten die
Gründung eines fünfköpfigen Präsidentschafts- und eines aus 551
Mitgliedern zusammen gesetzten Übergangs-Nationalrates, die das Land
regieren und in eine „neue Ära“ der Stabilität und Sicherheit führen
sollten. Doch die große Schar der internen und externen Gegner beginnt
sich zu formieren. Das politische Chaos droht sehr rasch den Jemen in
einen offenen Bürgerkrieg zu reißen, mit gravierenden Folgen weit über
die Landesgrenzen hinaus.
Um die Huthis von der Macht zu drängen, haben eine Reihe westlicher
Länder, darunter Deutschland und die USA, ihre Botschaften geschlossen
und die arabischen Golfstaaten appellieren eindringlich an die UNO, die
Huthis , wenn nötig mit schärfsten Sanktionen, zum Rückzug von der Macht
zu zwingen. Doch davon wollen die Rebellen nichts wissen und zögern
auch nicht, mit Härte protestierende Bürger einzuschüchtern.
Der Zeitpunkt dieser Krise könnte für die durch die sich stetig
ausbreitende islamistische Terrorgefahr extrem besorgte internationale
Gemeinschaft kaum schlimmer sein. Denn der Jemen beherbergt mit der
„Al-Kaida auf der Arabischen Halbinsel“ (AKAH) den gefährlichsten
Ableger dieses Terrornetzwerkes, das u.a. auch einen der Attentäter des
Anschlags gegen die Redaktion von „Charlie Hebdo“ in Paris ausgebildet
hatte. Der rasante Aufstieg der bis vor wenigen Jahren im Westen völlig
unbekannten Huthis bedeutet einen dramatischen Rückschlag der
Anti-Terrorstrategie der USA, deren Aktionen im Jemen Präsident Obama
erst jüngst als das erfolgreichste Modell präsentierte. Die nun
international isolierten Huthis beteuern zwar ihre Bereitschaft zur
weiteren Zusammenarbeit mit US-Sondereinheiten, die in den vergangenen
Jahren bei rund hundert Droneneinsätzen gegen AKAH-Ziele hunderte
Menschen, darunter unzählige Zivilisten, getötet hatten. Doch Washington
traut diesen Rebellen nicht, die zwar Erzfeinde der sunnitischen
Terroristen sind, ihren Sieg in Sanaa aber mit Slogans „Tod den USA, Tod
Israel“ – dem zentralen Wahlspruch der „Islamischen Revolution“ im
Iran, gefeiert hatten.
Die Huthi-Milizionäre mit ihrer politischen Bewegung „Ansar Allah“
(Partisanen Gottes) bekennen sich zum Zaidismus, einem Zweig des
schiitischen Islam, dem etwa 30 Prozent der Bevölkerung des Jemen, im
Norden des Landes konzentriert, anhängen. Die Bewegung benennt sich
nach Hussein Badr al-Din al-Huthi, der 2004 den ersten Aufstand der
Zaiditen gegen die Zentralregierung leitete, um Autonomie für ihr
Kernland, die nördliche Provinz Saada und den Schutz der religiösen und
kulturellen Traditionen angesichts des sich ausbreitenden sunnitischen
Islamisten zu erringen. Nachdem das jemenitische Militär 2004 Badr
al-Din getötet hatte, übernahm die Familie die Führung von fünf weiteren
Rebellionen, bis sie 2010 einen Waffenstillstand mit Sanaa schloss. Im
Jahr darauf nahmen die Houthis an monatelangen Demonstrationen gegen
Präsident Saleh teil und nutzten das durch die Unruhen entstandene
Machtvakuum, um ihre Kontrolle in Saada und der Nachbarprovinz Amran
auszuweiten und zu stärken. Nach dem Sturz Salehs 2012 nahmen sie an der
„Nationalen Dialogkonferenz“ teil. Als Präsident Hadi im Februar 2014
Pläne zur Gründung einer staatlichen Föderation von sechs Regionen
verkündete, lehnten die Huthis diese Reformen ab, da sie ihrer
Überzeugung nach die Minderheit im jemenitischen Staat schwächen würden.
Sodann versuchten sie wieder, ihre Interessen durch militärischen Druck
durchzusetzen. Sie verbündeten sich mit dem immer noch insbesondere
unter den Stämmen, aber auch im Militär sehr einflußreichen
Ex-Präsidenten Saleh und drangen in rasantem Tempo in das sunnitische
Kernland Zentral- und Südjemens vor, bis sie schließlich im September
die Hauptstadt eroberten.
Die Sympathie, die diese disziplinierten Kämpfer, die sich, wie
viele Jemeniten für ökonomische und politische Reformen und vor allem
gegen die seit Hadi noch schlimmer wütende Korruption engagieren,
verspielten sie aber zunehmend durch arrogantes Siegesgehabe,
Brutalitäten und den wachsenden Verdacht insbesondere unter
konservativen sunnitischen Stämmen, die Huthis würden vom Iran
unterstützt. Wieweit die Bindungen mit Teheran tatsächlich gehen, bleibt
Spekulation. Doch iranische Politiker und Militärs feiern die
Machtübernahme der Huthis offen als Erfolg ihrer Expansionspolitik.
Welche Ziele die Huthis nun verfolgen ist unklar. Vorerst zeigen
sie keine Bereitschaft, dem wachsenden internationalen Druck nachzugeben
und Hadi die Rückkehr an die Macht zu gestatten. Vielmehr dürfte die
Eroberung der Ölprovinz Marib ihr nächstes Ziel sein. Dort verkündet der
Gouverneur Sultan Al-Arada Selbstverwaltung und Entschlossenheit, die
Provinz und den größten Reichtum des bitterarmen Landes nach Kräften zu
verteidigen. Es könnte ein bitterer Kampf werden, denn die sunnitischen
Stämme werden von Saudi-Arabien, das die Huthis als noch gefährlicher
einstuft als al-Kaida, vor allem auch mit Waffen unterstützt. Riad
sieht in ihnen die Handlanger des Irans in einem harten Rivalitätskampf
um die Vorherrschaft in der Region. Deshalb haben die Saudis auch keine
Zeit verloren, um die Milliarden-Dollar-Unterstützung für die Regierung
in Sanaa zu stoppen, die Beamtenlöhne nicht mehr bezahlen kann. Und nun
droht in Marib ein neuer Stellvertreterkrieg?
Auch die drittgrößte Stadt Taif verwaltet sich bereits selbst und
die südjemenitische Unabhängigkeitsbewegung wittert durch den Vormarsch
der Huthis den besten Vorwand für die ersehnte Selbständigkeit.
Während Bemühungen um eine Verhandlungslösung mit den diversen
politischen Fraktionen des Landes – bisher ohne geringsten Erfolg –
fortgesetzt werden, dürfte – wie es im Jemen Tradition ist - eine
Einigung kaum ohne militärischen Druck erreicht werden.
In diesem Chaos besitzt die in Teilen des Südens bereits verankerte
AKAH große Chance ihre Macht weiter auszubauen. In den vergangenen
Tagen eroberten die Jihadis einen Armeetützpunkt in Baihan, mit vielen
Waffen und rückten damit nur 50 km an die Grenze zu Marib heran. Ein
Krieg gegen die Huthis treibt immer mehr sunnitische Stämme in die Arme
der kampferprobten AKAH. Aber auch dem mit Al-Kaida rivalisierende
„Islamische Staat“ dürfte sich das wachsende Chaos im Jemen als
einzigartige Gelegenheit bieten, um sein Herrschaftsgebiet weiter
auszudehnen.
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