Donnerstag, 4. Dezember 2014

Irans Alptraum der radikal-sunnitischen Einkreisung

Teheran wagt offene Militäraktion im Irak und „stillschweigende Partnerschaft“ mit dem Erzfeind USA, um seinen Machtanspruch zu demonstrieren
 
 
 von Birgit Cerha
 
Die Mitglieder der „Ummah (islamische Gemeinschaft) sollten sich nicht gegenseitig befehden, sondern einander in wichtigen globalen Fragen unterstützen.“ Solch eindringliche Ermahnungen, in bemerkenswerter Häufigkeit jüngst von Irans „Geistlichem Führer“, Ayatollah Khamenei, ausgesprochen, lassen die steigende Nervosität der Herrscher im schiitischen “Gottesstaat“ angesichts der wachsenden Radikalität sunnitischer Extremisten nahe ihrer Staatsgrenzen erkennen. Ein halbes Jahr, seit die Terrormiliz des „Islamischen Staates“ (IS) Iraks zweitgrößte Stadt, Mosul, erobert hatte, bleiben diese barbarischen Gewalttäter trotz mancher Rückschläge, im Irak, wie auch in Syrien fest verankert und rückendem Iran immer näher. Der mehrfache Einsatz eines F-4 Phantom Kampfflugzeuges aus der in den 1970er Jahren von den Amerikanern dem Schah gelieferten Flotte, gegen IS-Positionen in der ostirakischen Provinz Diyala ist Ausdruck dieser Nervosität, zugleich aber eine Demonstration iranischen Machtanspruchs in dem mehrheitlich von Schiiten bewohnten Nachbarstaat.
Alle Seiten, Bagdad, Washington und Teheran, vermeiden klare Stellungnahmen zu einer Entwicklung, die die Erzfeinde USA und Iran nach 35 Jahren erstmals an eine gemeinsame Front bringt. Beide betonen, es gäbe keine direkten Absprachen. Koordination zur Vermeidung einer auch nur unbeabsichtigten direkten Konfrontation zwischen amerikanischen und iranischen Flugzeugen, die angesichts der kritischen Phase in den Atomgesprächen dramatische Auswirkungen haben könnte, findet allerdings zweifellos über die Bagdader Führung statt. Wiewohl US-Außenminister Kerry offen iranische Attacken gegen IS begrüßt, birgt ein größeres Militärengagement Teherans die enorme Gefahr, Iraks Sunniten wieder verstärkt in die Arme von IS zu treiben und Washingtons wichtige sunnitische Verbündete, insbesondere Saudi-Arabien, zu erzürnen. Doch Teheran will nun angesichts der Präsenz von Tausenden US-Militärberatern, des Einsatzes amerikanischer und anderer NATO-Jets im Nachbarstaat und in dem Land seines Bündnispartners Syrien seine entscheidende Rolle bei der Gestaltung der Zukunft dieser beiden strategisch so wichtigen Staaten dokumentieren. Zugleich geht es Irans Führung auch darum, Iraks Premier Abadi, der jüngst bei Personalrochaden enge Verbündete des Irans aus der Administration und der Militärführung entlassen hatte, eine unmissverständliche Warnung zu erteilen.
Doch Teherans Sorge geht weit über die Entwicklungen in Syrien und im Irak hinaus. Der Iran sieht den mörderischen Aufstieg von IS als Teil eines die gesamte Region umfassenden „Gegenschlags“ der Sunniten (die weltweit 80 Prozent der 1,6 Milliarden Muslime stellen) gegen das unter seiner Führung jahrzehntelang betriebene Vormachtstreben der schiitischen Minderheit (von höchstens 15 Prozent). Ein Alptraum der die Geistlichen im Iran seit langem quält.
Die Gefahr droht nicht nur aus Irak und Syrien. Sie droht auch aus ferneren Ländern wie dem Jemen, wo eben der iranische Botschafter nur knapp einem Terroranschlag entging,  dem Libanon, wo ebenfalls die diplomatische Mission jüngst attackiert wurde, sondern aus den östlichen Nachbarstaaten Pakistan und Afghanistan. Mehrere in Pakistan stationierte Kommandanten der afghanischen radikal-sunnitischen Taliban bezeugten IS ihre Loyalität, während IS eine „Tochtergruppe“ in Pakistan („Ansar Daulat-e Islamia fil Pakistan“ ) gründete und eifrig um Mitglieder wirbt. Pakistan ist seit drei Jahrzehnten wichtigstes Zentrum des vom saudischen Wahabismus beeinflussten sunnitischen Extremismus, der Schiiten als mit dem Tode zu bestrafenden „Häretiker“ verteufelt. Tausende Schiiten wurden in den vergangenen Jahren in Pakistan getötet. Besonders beunruhigen den Iran die Entwicklungen in der Nachbarprovinz Belutschistan, wo sich sunnitische Belutschen zunehmend gegen die Schiiten radikalisieren. Rund zehn Millionen Belutschen leben in Pakistan und in der bitterarmen iranischen Grenzprovinz Sistan-Belutschistan. Dort verbreitet eine jüngst neugebildete Terrorgruppe ‚“Jaish al-Adl“ Terror insbesondere gegen iranische Sicherheitskräfte. Sie sympathisiert mit IS und findet Nährboden unter der bitterarmen,  unter der krassen Diskriminierung durch das schiitische Regime leidenden sunnitischen Bevölkerung.
Ein Krieg an allen Fronten könnte den unter internationalen Sanktionen schwer leidenden Iran bald völlig überfordern.
 
 

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