Durch
den „versuchten Genozid“ ins Herz getroffen, bieten sich der Minderheit
nur zwei Optionen: Massenemigration oder Überleben in einer Schutzzone
von Birgit Cerha
„Zum
ersten Mal seit 1.600 Jahren gibt es in Niniveh keine Kirche“, in der
Gottesdienste gefeiert werden. Nichts, so gesteht Canon Andrew White,
Vikar der Anglikanischen Kirche in Bagdad, schmerze
ihn so sehr, wie dies. Ist das Christentum im Irak sechs Monate nach
dem spektakulären Vormarsch der Terrormiliz des „Islamischen Staates“
(IS) am Ende?
Dieser barbarische Siegeszug, der mit der Eroberung der zweitgrößten irakischen Stadt Mosul am 10. Juni den ersten Höhepunkt erreichte, ist niederschmetternd für
Iraks Minderheiten, für die Christen ebenso, wie die Yeziden, Turkmenen
u.a. „Wir stehen heute vor der Schicksalsfrage: Sein oder Nichtsein“,
fasst der syrisch-katholische Patriarch Ignatius Joseph III Younan die Situation angesichts des „versuchten Genozids“ dramatisch zusammen.
Nachdem
IS Mosul unter seine Kontrolle gebracht hatte, dauerte es mehrere
Wochen, bis seine Strategie gegenüber den religiösen Minderheiten klar
wurde: Vertreibung oder Vernichtung. Während die Terrormiliz den Yeziden
nur die Wahl zwischen Übertritt zum Islam oder den Tod lässt, können
sich Christen durch „Steuerzahlungen“ freikaufen. Doch die meisten
flüchteten in Panik und ließen ihren gesamten Besitz zurück, den IS
unterdessen – soweit er nicht ohnedies schon geplündert wurde – ganz
offiziell Anhängern und Kämpfern zur Verfügung stellt . Die Liste der
Greueltaten, von Vergewaltigung bis zur systematischen Ermordung selbst
von Kindern ist lang, Barbareien, von denen IS auch seine sunnitischen
Glaubensbrüder nicht verschont. Über die Hölle, die die in Mosul
Verbliebenen seit einem halben Jahr
durchleiden, dringt nur wenig nach außen. Weniger als 40 der 10.000
Mitglieder zählenden christlichen Gemeinde dürften dort noch ausharren,
Menschen, die zu krank, zu alt, zu arm sind, um die Befehle der neuen
Herrscher zu befolgen.
Die ursprünglich in Syrien begonnenen Barbareien setzt IS in anderen Teilen des Iraks fort. Die Toten kann niemand zählen. Die
„International Organisation for Migration“ schätzte im November die
Zahl der intern Vertriebenen im Irak auf zwei Millionen, fast die Hälfte
flüchtete nach Kurdistan.
Doch
der Alptraum der Christen des Zweistromlandes ist nur der Höhepunkt
einer Hölle, die2004, ein Jahr nach dem Sturz von Diktator Saddam
Hussein, unter US-Besatzung begann. Al-Kaida-Terroristen, die Vorläufer
von IS, arabisch-sunnitische Aufständische, schiitische Milizen und
Kriminelle verfolgten und attackierten Christen. Mindestens 60 Kirchen
wurden seither im Irak bombardiert. Priester und Bischöfe
wurden entführt, erpresst, ermordet. Sunnitische und schiitische
Milizen fanden im Krieg gegeneinander noch Zeit und Kraft Christen zu
attackieren und aus dem Bagdader Vorort Dora zu verjagen. IS
setzte das Teufelswerk noch brutaler und noch intensiver fort, sprengte
Kirchen, wie auch Moscheen, zerstörte Klöster und reich mit antiken
Manuskripten bestückte Bibliotheken.
Aus
der von etwa einer halben Million Menschen bewohnten Ebene von Niniveh,
die sich nach Norden und Osten von Mosul erstreckt, hat IS alle
Christen und andere Minderheiten vertrieben. Seit Jahrhunderten lebten
hier Turkmenen, Schabak, Mandäer,
Bahais, Kakai und Faili Kurden. Sie alle fanden vor Verfolgung Zuflucht.
So entstand in der Ebene auch die größte Konzentration an Christen im
Irak, (Mitglieder der Chaldäisch-Katholischen, der Syrisch-Katholischen,
der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien, sowie der Assyrischen
Kirche des Osten), die rund 40 Prozent der Bewohner dieser
fruchtbaren und Bodenschätzen (auch Öl) reiche Region stellten. Die
Assyrer, die ihre Wurzeln auf die alten Assyrer und Babylonier
zurückführen, betrachten sich als die rechtmäßigen Erben dieses
historischen Landes. Im Januar 2014 waren sie
einem alten Traum nach Selbstregierung nahe wie nie zuvor gerückt, als
der damalige Premier Maliki den Plan einer autonomen Provinz in der
Ebene billigte. Dieser Traum schien durch den Vormarsch von IS
zerstoben. Doch nun versuchen ihn assyrische Gruppen mit neuer Energie
und intensiver Hilfe aus der Diaspora zu verwirklichen.
Die
Christen des Iraks und andere verfolgte Minderheiten sollen nach diesen
Vorstellungen in der autonomen Niniveh-Ebene ein neues Leben beginnen.
Seit die USA im August mit Luftangriffen begannen und mit deren
Unterstützung kurdische Peschmerga einige
Städte und Dörfer in der Ebene befreiten, kehrten Geflüchtete wieder
heim. Des Opferdaseins müde, begannen einige, sich zu bewaffnen.
Unterdessen haben zwei der größten assyrischen Parteien eigene Milizen
aufgestellt, trainieren hunderte christliche Freiwillige für den Kampf
gegen IS und die Befreiung noch besetzter Gebiete. Diese Milizen sollen
nach Vorstellungen der assyrischen Politiker den Kern einer
Selbstverteidigungsarmee in einer künftigen autonomen Christenenklave
bilden.
Nach
einer des „Niniveh-Zentrums für Forschung und Entwicklung“ unter
christlichen und yezidischen Flüchtlingen in Kurdistan sprachen 56
Prozent den Wunsch zur Rückkehr in ihre Häuser aus, doch sie würden dies
nur wagen, wenn ihre sichere Zukunft in der Region durch
internationalen Militärschutz garantiert sei. Als einzige Alternative sehen sie eine Massenemigration, die noch schwieriger zu erfüllen sein dürfte.
Doch
der Plan einer christlichen Enklave, die garantiert, dass die Präsenz
der Christen nach 2000 Jahren nicht ausgelöscht wird, stößt auf enorme
Hürden. Selbst manche christliche Führer wollen davon nichts wissen, da
sie fürchten, er würde die konfessionelle Teilung des Iraks besiegeln.
Zudem liegen in der Niniveh-Ebene die zwischen Bagdad und den Kurden
„umstrittenen“, auch von Kurden bewohnten Gebiete. Politische Konflikte
ließen sich deshalb kaum vermeiden, zumal das von IS angerichtete
Blutbad und die Reaktion darauf das Misstrauen zwischen den
Bevölkerungsgruppen noch wesentlich gesteigert haben. Und ob die
internationale Gemeinschaft zum militärischen Schutz bereit wäre,
erscheint höchst fraglich.
Zutiefst
irritiert angesichts einer wiederholt dokumentierten internationalen
Unentschlossenheit und der Schwäche der irakischen Regierung und des
internationalen Zögerns meint dazu Patriarch Younan: „Keine Entscheidung
wäre die hässlichste Entscheidung.“ Sie wäre das Ende der Christen und
anderer Minderheiten, insbesondere der Yeziden, im Zweistromland.
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