Mittwoch, 10. Dezember 2014

Bleibt Iraks Christen noch eine Hoffnung?

Durch den „versuchten Genozid“ ins Herz getroffen, bieten sich der Minderheit nur zwei Optionen: Massenemigration oder Überleben in einer Schutzzone
 
von Birgit Cerha
 
„Zum ersten Mal seit 1.600 Jahren gibt es in Niniveh keine Kirche“, in der Gottesdienste gefeiert werden. Nichts, so gesteht Canon Andrew White, Vikar der Anglikanischen Kirche in Bagdad,  schmerze ihn so sehr, wie dies. Ist das Christentum im Irak sechs Monate nach dem spektakulären Vormarsch der Terrormiliz des „Islamischen Staates“ (IS) am Ende?
Dieser barbarische Siegeszug,  der mit der Eroberung der zweitgrößten irakischen Stadt Mosul am 10. Juni den ersten Höhepunkt erreichte, ist niederschmetternd  für Iraks Minderheiten, für die Christen ebenso, wie die Yeziden, Turkmenen u.a. „Wir stehen heute vor der Schicksalsfrage: Sein oder Nichtsein“, fasst der syrisch-katholische Patriarch Ignatius Joseph III Younan  die Situation angesichts des „versuchten Genozids“ dramatisch zusammen.
Nachdem IS Mosul unter seine Kontrolle gebracht hatte, dauerte es mehrere Wochen, bis seine Strategie gegenüber den religiösen Minderheiten klar wurde: Vertreibung oder Vernichtung. Während die Terrormiliz den Yeziden nur die Wahl zwischen Übertritt zum Islam oder den Tod lässt, können sich Christen durch „Steuerzahlungen“ freikaufen. Doch die meisten flüchteten in Panik und ließen ihren gesamten Besitz zurück, den IS unterdessen – soweit er nicht ohnedies schon geplündert wurde – ganz offiziell Anhängern und Kämpfern zur Verfügung stellt . Die Liste der Greueltaten, von Vergewaltigung bis zur systematischen Ermordung selbst von Kindern ist lang, Barbareien, von denen IS auch seine sunnitischen Glaubensbrüder nicht verschont. Über die Hölle, die die in Mosul Verbliebenen seit  einem halben Jahr durchleiden, dringt nur wenig nach außen. Weniger als 40 der 10.000 Mitglieder zählenden christlichen Gemeinde dürften dort noch ausharren, Menschen, die zu krank, zu alt, zu arm sind, um die Befehle der neuen Herrscher zu befolgen.
Die ursprünglich in Syrien begonnenen Barbareien setzt IS in anderen Teilen des Iraks fort.  Die Toten kann niemand zählen.  Die „International Organisation for Migration“ schätzte im November die Zahl der intern Vertriebenen im Irak auf zwei Millionen, fast die Hälfte flüchtete nach Kurdistan.
Doch der Alptraum der Christen des Zweistromlandes ist nur der Höhepunkt einer Hölle, die2004, ein Jahr nach dem Sturz von Diktator Saddam Hussein, unter US-Besatzung begann. Al-Kaida-Terroristen, die Vorläufer von IS, arabisch-sunnitische Aufständische, schiitische Milizen und Kriminelle verfolgten und attackierten Christen. Mindestens 60 Kirchen wurden seither im Irak bombardiert. Priester und  Bischöfe wurden entführt, erpresst, ermordet. Sunnitische und schiitische Milizen fanden im Krieg gegeneinander noch Zeit und Kraft Christen zu attackieren und aus dem Bagdader Vorort Dora zu verjagen.  IS setzte das Teufelswerk noch brutaler und noch intensiver fort, sprengte Kirchen, wie auch Moscheen, zerstörte Klöster und reich mit antiken Manuskripten bestückte Bibliotheken.
Aus der von etwa einer halben Million Menschen bewohnten Ebene von Niniveh, die sich nach Norden und Osten von Mosul erstreckt, hat IS alle Christen und andere Minderheiten vertrieben. Seit Jahrhunderten lebten hier Turkmenen, Schabak,  Mandäer, Bahais, Kakai und Faili Kurden. Sie alle fanden vor Verfolgung Zuflucht. So entstand in der Ebene auch die größte Konzentration an Christen im Irak, (Mitglieder der Chaldäisch-Katholischen, der Syrisch-Katholischen, der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien, sowie der Assyrischen Kirche des Osten), die rund 40 Prozent der Bewohner  dieser fruchtbaren und Bodenschätzen (auch Öl) reiche Region stellten. Die Assyrer, die ihre Wurzeln auf die alten Assyrer und Babylonier zurückführen, betrachten sich als die rechtmäßigen Erben dieses historischen Landes. Im Januar 2014 waren  sie einem alten Traum nach Selbstregierung nahe wie nie zuvor gerückt, als der damalige Premier Maliki den Plan einer autonomen Provinz in der Ebene billigte. Dieser Traum schien durch den Vormarsch von IS zerstoben. Doch nun versuchen ihn assyrische Gruppen mit neuer Energie und intensiver Hilfe aus der Diaspora zu verwirklichen.
Die Christen des Iraks und andere verfolgte Minderheiten sollen nach diesen Vorstellungen in der autonomen Niniveh-Ebene ein neues Leben beginnen. Seit die USA im August mit Luftangriffen begannen und mit deren Unterstützung kurdische Peschmerga  einige Städte und Dörfer in der Ebene befreiten, kehrten Geflüchtete wieder heim. Des Opferdaseins müde, begannen einige, sich zu bewaffnen. Unterdessen haben zwei der größten assyrischen Parteien eigene Milizen aufgestellt, trainieren hunderte christliche Freiwillige für den Kampf gegen IS und die Befreiung noch besetzter Gebiete. Diese Milizen sollen nach Vorstellungen der assyrischen Politiker den Kern einer Selbstverteidigungsarmee in einer künftigen autonomen Christenenklave bilden.
Nach einer des „Niniveh-Zentrums für Forschung und Entwicklung“ unter christlichen und yezidischen Flüchtlingen in Kurdistan sprachen 56 Prozent den Wunsch zur Rückkehr in ihre Häuser aus, doch sie würden dies nur wagen, wenn ihre sichere Zukunft in der Region durch internationalen Militärschutz garantiert sei.  Als einzige Alternative sehen sie eine Massenemigration, die noch schwieriger zu erfüllen sein dürfte.
Doch der Plan einer christlichen Enklave, die garantiert, dass die Präsenz der Christen nach 2000 Jahren nicht ausgelöscht wird, stößt auf enorme Hürden. Selbst manche christliche Führer wollen davon nichts wissen, da sie fürchten, er würde die konfessionelle Teilung des Iraks besiegeln. Zudem liegen in der Niniveh-Ebene die zwischen Bagdad und den Kurden „umstrittenen“, auch von Kurden bewohnten Gebiete. Politische Konflikte ließen sich deshalb kaum vermeiden, zumal das von IS angerichtete Blutbad und die Reaktion darauf das Misstrauen zwischen den Bevölkerungsgruppen noch wesentlich gesteigert haben. Und ob die internationale Gemeinschaft zum militärischen Schutz bereit wäre, erscheint höchst fraglich.
Zutiefst irritiert angesichts einer wiederholt dokumentierten internationalen Unentschlossenheit und der Schwäche der irakischen Regierung und des internationalen Zögerns meint dazu Patriarch Younan: „Keine Entscheidung wäre die hässlichste Entscheidung.“ Sie wäre das Ende der Christen und anderer Minderheiten, insbesondere der Yeziden, im Zweistromland.

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