Dienstag, 30. Dezember 2014

Der langsame Zerfall des Nahen Ostens

Die ideologischen, konfessionellen und ethnischen Konflikte werden sich 2015 noch verschärfen, bevor aus den Trümmern eine neue arabische Ordnung entstehen kann
von Birgit Cerha
In der arabischen Welt haben sich 2014 die Tore der Hölle geöffnet. Noch nie seit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches vor hundert Jahren hat die Region derart blutige Turbulenzen durchlitten wie im vergangenen Jahr, eine von Extremismus auf beiden Seiten – der Herrscher wie deren Gegnern – angeheizte Gewalt, die die gesamte politische Ordnung in ihren Grundfesten erschüttert. Eine Welle von barbarischem Terror verwandelte den „arabischen Frühling“ von 2011 in einen eisigen, gnadenlosen Winter mit humanitären Katastrophen dramatischen Ausmaßes.
Am stärksten betroffen ist die Region zwischen Beirut und Basra, in der die alte Ordnung langsam zerfällt und sich die Bewohner ihrer ursprünglichen Identitäten – Sunniten, Schiiten, Christen, Drusen, Kurden, Turkmenen  - besinnen, so als besäßen die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gegründeten Nationalstaaten keine Bedeutung. Der  Zerfall der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von den Kolonialmächten der Region aufoktroyierten Ordnung  hat begonnen und sein Ende lässt sich nicht vorhersehen. In einigen Ländern – Syrien, Irak, Jemen, Libyen – ist die zentrale Macht bereits zusammengebrochen. In Kuwait und im Libanon steht das soziale Gefüge unter enormem Druck. Algerien drohen Turbulenzen, sobald der gebrechliche Präsident Bouteflika stirbt. In  Ägypten oder Saudi-Arabien verstärkten die Herrscher ihren paternalistischen und repressiven Regierungsstil und vergrämen damit die gebildete junge Generation, die einen großen Teil der Bevölkerung ausmacht. Ihr Ärger und jener  der ökonomisch und sozial Benachteiligten, die immer noch auf Lösungsrezepte warten, wird sich als neue Quelle der Unruhe erweisen. Die religiös und ethnisch heterogensten arabischen Gesellschaften (insbesondere jene Syriens und des Irak)  haben die Chance auf friedliche Koexistenz zumindest mittelfristig vertan.
Der „Islamische Staat“ (IS) entwickelte sich 2014 durch die Eroberung großer Gebiete in Syrien und im Irak zur größten radikalen Gefahr in der modernen Geschichte der Region, der Horror verbreitet und politische Ordnungen und Grenzen zerstört. IS weiterer Vormarsch ist vielleicht durch intensive Luft-Bombardements der von den USA geführten internationalen Allianz gestoppt. Doch die Bewegung verfügt über ausreichende militärische und finanzielle Ressourcen, um ihren Machtbereich zu halten und zu konsolidieren. Ein in der arabischen Welt wachsender Ärger über die Militärintervention der USA könnte sie zunehmend stärken. Eine neue Allianz mit kleineren süd-syrischen Islamistengruppen eröffnet nun die Chance, Israel auf den besetzten syrischen Golanhöhen anzugreifen und sich damit noch mehr Zulauf aus der islamischen  Welt zu sichern.
Eine empfindliche Schwächung der Miliz hängt entscheidend vom Einsatz von Bodentruppen im Irak und Syrien ab, die die USA für diese Aufgabe derzeit trainieren und in den nächsten Monaten in den Kampf schicken werden. Gelingen den pro-westlichen Kämpfern dann tatsächlich Erfolge, werden sie sich auch verstärkt gegen Syriens Diktator wenden. Damit wird US-Präsident Obama zu einer Entscheidung gezwungen, ob er weiterhin das Assad-Regime verschont, um  die für einen Erfolg des Krieges gegen IS im Irak entscheidende stillschweigende Kooperation mit Assads iranischem Verbündeten nicht zu riskieren. Washingtons Zurückhaltung hat Assad starken Aufwind verliehen, doch nichts lässt darauf schließen, dass der Krieg und damit das Leiden der Zivilbevölkerung (Millionen Flüchtlinge und von gewaltsamem Tod oder Verhungern bedrohte Daheimgebliebene) bald ein Ende finden könnte.
Auch im Irak zeichnet sich ein Sieg der von den USA und den Alliierten unterstützten kurdischen Peschmergakämpfern gegen IS trotz mancher kleinerer Erfolge noch lange nicht ab. Auch dort ist in den kommenden Monaten mit dem Einsatz neutrainierter irakischer Soldaten insbesondere für eine Großoffensive zur Befreiung der zweitgrößten Stadt Mosul zu rechnen.
Den in diesen Turbulenzen besonders gefährdeten Kleinstaaten Libanon und Jordanien ist es 2014 in erstaunlichem Maße gelungen, sich nicht in den Konflikt hineinziehen zu lassen. Die Brutalitäten von IS haben selbst jordanische Islamisten hinter das Königshaus geschart, während der direkt von IS bedrohte Libanon durch den Einsatz der mit dem Iran verbündeten Hisbollah im militärischen Kampf für Assad der Rache syrischer Islamisten besonders ausgesetzt, bisher erfolgreich eine gefährliche Eskalation der Gewalt vermeiden konnte. Das Trauma des 15-jährigen Bürgerkrieges (1975 bis 1990) drängt Sunniten, wie Schiiten des Landes zur Mäßigung.
Die arabischen Ölpotentaten am Persischen Golf beginnen das neue Jahr mit anhaltender Sorge vor einem Übergreifen des IS-Radikalismus auf ihre Staaten. Zugleich ist auch die Angst vor iranischer Expansion nicht geschwunden, ja Saudi-Arabien, der Erzrivale der „Islamischen Republik“ in der Region, fühlt sich zunehmend von Teheran eingekreist, das nun in vier arabischen Hauptstädten dem Ton anzugeben vermag, neben Bagdad, Damaskus und Beirut seit kurzem auch im jemenitischen Sanaa, wo die vom Iran unterstützte regimekritische schiitische Zaiditenbewegung die Hauptstadt unter ihre Kontrolle nahm und das ohnedies durch blutige Stammesrivalitäten zerrissene, bitterarme Land noch mehr polarisierte, äußeren Einflüssen die Tore noch weiter öffnete. Der im Jemen ohnedies schon starke Al-Kaida Ableger fand in dem religiösen Feind der Houthis zusätzlichen Anreiz zu verschärften Terrorattacken. Der drohende Zusammenbruch des Landes könnte eine massive Flüchtlingswelle auslösen, die vor allem die Stabilität des saudischen Nachbarn gefährden würde.
Im Iran blickt die Bevölkerung voll Hoffnung in das Neue Jahr, das ihr entscheidende ökonomische und politische Erleichterung bescheren könnte, wenn endlich ein Abkommen mit den Weltmächten über das Atomprogramm gefunden wird. Noch gibt es freilich beträchtliche Hürden zu überwinden, doch beide Seiten haben die zentrale Bedeutung einer Einigung für die gesamte Region begriffen. Sollte der Verhandlungsprozess zusammenbrechen, wird der Iran wahrscheinlich sein Programm zur Anreicherung höhergradigen Urans (was ihm den Bau einer Atombombe ermöglichen würde) wieder beginnen, doch Experten rechnen nicht damit, dass Teheran 2015 tatsächlich mit der Konstruktion einer Bombe beginnen würde.
Der verblassende Stern am arabischen Himmel ist Ägypten, das nach der einjährigen Herrschaftskatastrophe der Moslembrüder die Uhr zurückgedreht und dem Land ein Militärregime beschert, das die Repressionen des 2011 gestürzten Mubarak weit in den Schatten stellt. Während die Gefängnisse mit Islamisten, Nationalisten und Liberalen überfüllt sind und das Land weiterhin in einer schweren Wirtschafts- und Sozialkrise steckt, sollte sein „Pharao“ Sisi im neuen Jahr entscheiden, welches langfristige politische System er dem Land bescheren will. Die für März geplanten Parlamentswahlen könnten den Weg zu einer allmählichen, vorsichtigen Öffnung ebnen.
Ein Stern der Hoffnung leuchtet dennoch am arabischen Horizont: Tunesien, das gegen Ende 2014 den formellen Übergang zur Demokratie mit transparent abgehaltenen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen geschafft hat – und die sogar mit einem von den islamistischen Gegnern akzeptierten Sieg der säkularen Nida Tounes-Partei. Als einziges Land des arabischen Frühlings hat Tunesien seine Versprechungen der Revolution von Reform und friedlicher Veränderung gehalten.

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