Die ideologischen, konfessionellen und ethnischen Konflikte werden
sich 2015 noch verschärfen, bevor aus den Trümmern eine neue arabische
Ordnung entstehen kann
von Birgit Cerha
In der arabischen Welt haben sich 2014 die Tore der Hölle geöffnet.
Noch nie seit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches vor hundert
Jahren hat die Region derart blutige Turbulenzen durchlitten wie im
vergangenen Jahr, eine von Extremismus auf beiden Seiten – der Herrscher
wie deren Gegnern – angeheizte Gewalt, die die gesamte politische
Ordnung in ihren Grundfesten erschüttert. Eine Welle von barbarischem
Terror verwandelte den „arabischen Frühling“ von 2011 in einen eisigen,
gnadenlosen Winter mit humanitären Katastrophen dramatischen Ausmaßes.
Am stärksten betroffen ist die Region zwischen Beirut und Basra, in
der die alte Ordnung langsam zerfällt und sich die Bewohner ihrer
ursprünglichen Identitäten – Sunniten, Schiiten, Christen, Drusen,
Kurden, Turkmenen - besinnen, so als besäßen die in der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts gegründeten Nationalstaaten keine Bedeutung. Der
Zerfall der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von den
Kolonialmächten der Region aufoktroyierten Ordnung hat begonnen und
sein Ende lässt sich nicht vorhersehen. In einigen Ländern – Syrien,
Irak, Jemen, Libyen – ist die zentrale Macht bereits zusammengebrochen.
In Kuwait und im Libanon steht das soziale Gefüge unter enormem Druck.
Algerien drohen Turbulenzen, sobald der gebrechliche Präsident
Bouteflika stirbt. In Ägypten oder Saudi-Arabien verstärkten die
Herrscher ihren paternalistischen und repressiven Regierungsstil und
vergrämen damit die gebildete junge Generation, die einen großen Teil
der Bevölkerung ausmacht. Ihr Ärger und jener der ökonomisch und sozial
Benachteiligten, die immer noch auf Lösungsrezepte warten, wird sich
als neue Quelle der Unruhe erweisen. Die religiös und ethnisch
heterogensten arabischen Gesellschaften (insbesondere jene Syriens und
des Irak) haben die Chance auf friedliche Koexistenz zumindest
mittelfristig vertan.
Der „Islamische Staat“ (IS) entwickelte sich 2014 durch die
Eroberung großer Gebiete in Syrien und im Irak zur größten radikalen
Gefahr in der modernen Geschichte der Region, der Horror verbreitet und
politische Ordnungen und Grenzen zerstört. IS weiterer Vormarsch ist
vielleicht durch intensive Luft-Bombardements der von den USA geführten
internationalen Allianz gestoppt. Doch die Bewegung verfügt über
ausreichende militärische und finanzielle Ressourcen, um ihren
Machtbereich zu halten und zu konsolidieren. Ein in der arabischen Welt
wachsender Ärger über die Militärintervention der USA könnte sie
zunehmend stärken. Eine neue Allianz mit kleineren süd-syrischen
Islamistengruppen eröffnet nun die Chance, Israel auf den besetzten
syrischen Golanhöhen anzugreifen und sich damit noch mehr Zulauf aus der
islamischen Welt zu sichern.
Eine empfindliche Schwächung der Miliz hängt entscheidend vom
Einsatz von Bodentruppen im Irak und Syrien ab, die die USA für diese
Aufgabe derzeit trainieren und in den nächsten Monaten in den Kampf
schicken werden. Gelingen den pro-westlichen Kämpfern dann tatsächlich
Erfolge, werden sie sich auch verstärkt gegen Syriens Diktator wenden.
Damit wird US-Präsident Obama zu einer Entscheidung gezwungen, ob er
weiterhin das Assad-Regime verschont, um die für einen Erfolg des
Krieges gegen IS im Irak entscheidende stillschweigende Kooperation mit
Assads iranischem Verbündeten nicht zu riskieren. Washingtons
Zurückhaltung hat Assad starken Aufwind verliehen, doch nichts lässt
darauf schließen, dass der Krieg und damit das Leiden der
Zivilbevölkerung (Millionen Flüchtlinge und von gewaltsamem Tod oder
Verhungern bedrohte Daheimgebliebene) bald ein Ende finden könnte.
Auch im Irak zeichnet sich ein Sieg der von den USA und den
Alliierten unterstützten kurdischen Peschmergakämpfern gegen IS trotz
mancher kleinerer Erfolge noch lange nicht ab. Auch dort ist in den
kommenden Monaten mit dem Einsatz neutrainierter irakischer Soldaten
insbesondere für eine Großoffensive zur Befreiung der zweitgrößten Stadt
Mosul zu rechnen.
Den in diesen Turbulenzen besonders gefährdeten Kleinstaaten
Libanon und Jordanien ist es 2014 in erstaunlichem Maße gelungen, sich
nicht in den Konflikt hineinziehen zu lassen. Die Brutalitäten von IS
haben selbst jordanische Islamisten hinter das Königshaus geschart,
während der direkt von IS bedrohte Libanon durch den Einsatz der mit dem
Iran verbündeten Hisbollah im militärischen Kampf für Assad der Rache
syrischer Islamisten besonders ausgesetzt, bisher erfolgreich eine
gefährliche Eskalation der Gewalt vermeiden konnte. Das Trauma des
15-jährigen Bürgerkrieges (1975 bis 1990) drängt Sunniten, wie Schiiten
des Landes zur Mäßigung.
Die arabischen Ölpotentaten am Persischen Golf beginnen das neue
Jahr mit anhaltender Sorge vor einem Übergreifen des IS-Radikalismus auf
ihre Staaten. Zugleich ist auch die Angst vor iranischer Expansion
nicht geschwunden, ja Saudi-Arabien, der Erzrivale der „Islamischen
Republik“ in der Region, fühlt sich zunehmend von Teheran eingekreist,
das nun in vier arabischen Hauptstädten dem Ton anzugeben vermag, neben
Bagdad, Damaskus und Beirut seit kurzem auch im jemenitischen Sanaa, wo
die vom Iran unterstützte regimekritische schiitische Zaiditenbewegung
die Hauptstadt unter ihre Kontrolle nahm und das ohnedies durch blutige
Stammesrivalitäten zerrissene, bitterarme Land noch mehr polarisierte,
äußeren Einflüssen die Tore noch weiter öffnete. Der im Jemen ohnedies
schon starke Al-Kaida Ableger fand in dem religiösen Feind der Houthis
zusätzlichen Anreiz zu verschärften Terrorattacken. Der drohende
Zusammenbruch des Landes könnte eine massive Flüchtlingswelle auslösen,
die vor allem die Stabilität des saudischen Nachbarn gefährden würde.
Im Iran blickt die Bevölkerung voll Hoffnung in das Neue Jahr, das
ihr entscheidende ökonomische und politische Erleichterung bescheren
könnte, wenn endlich ein Abkommen mit den Weltmächten über das
Atomprogramm gefunden wird. Noch gibt es freilich beträchtliche Hürden
zu überwinden, doch beide Seiten haben die zentrale Bedeutung einer
Einigung für die gesamte Region begriffen. Sollte der
Verhandlungsprozess zusammenbrechen, wird der Iran wahrscheinlich sein
Programm zur Anreicherung höhergradigen Urans (was ihm den Bau einer
Atombombe ermöglichen würde) wieder beginnen, doch Experten rechnen
nicht damit, dass Teheran 2015 tatsächlich mit der Konstruktion einer
Bombe beginnen würde.
Der verblassende Stern am arabischen Himmel ist Ägypten, das nach
der einjährigen Herrschaftskatastrophe der Moslembrüder die Uhr
zurückgedreht und dem Land ein Militärregime beschert, das die
Repressionen des 2011 gestürzten Mubarak weit in den Schatten stellt.
Während die Gefängnisse mit Islamisten, Nationalisten und Liberalen
überfüllt sind und das Land weiterhin in einer schweren Wirtschafts- und
Sozialkrise steckt, sollte sein „Pharao“ Sisi im neuen Jahr
entscheiden, welches langfristige politische System er dem Land
bescheren will. Die für März geplanten Parlamentswahlen könnten den Weg
zu einer allmählichen, vorsichtigen Öffnung ebnen.
Ein Stern der Hoffnung leuchtet dennoch am arabischen Horizont:
Tunesien, das gegen Ende 2014 den formellen Übergang zur Demokratie mit
transparent abgehaltenen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen
geschafft hat – und die sogar mit einem von den islamistischen Gegnern
akzeptierten Sieg der säkularen Nida Tounes-Partei. Als einziges Land
des arabischen Frühlings hat Tunesien seine Versprechungen der
Revolution von Reform und friedlicher Veränderung gehalten.
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