Montag, 3. November 2014

Massenmorde an Iraks Sunniten

IS fürchtet  Rebellion von Glaubensbrüdern, ohne die der Kampf gegen die Terrormiliz nicht zu gewinnen ist – Doch die Stämme zögern
 
von Birgit Cerha
 
Die Serie grausiger Massenmorde im Irak reißt nicht ab.  Seit Tagen wütet die Terrormiliz des „Islamischen Staates“ (IS)  unter sunnitischen Glaubensbrüdern in der von ihr kontrollierten Provinz Anbar. Mehr als 300 Angehörige des Albu Nimr Stammes, darunter Frauen und Kinder, wurden seit Mitte der Vorwoche auf bestialische Weise getötet. Die Massaker lassen auf eine gesteigerte Nervosität und die Entschlossenheit des IS schließen, Widerstand gegen seine Schreckensherrschaft durch gnadenlosen Terror im Keim zu ersticken und zu verhindern, dass sich arabisch-sunnitische Stämme den von den USA unterstützten irakischen Regierungssoldaten in einer Großoffensive zur Befreiung der besetzten Regionen anschließen.
Nach Überzeugung westlicher Strategen  liegt das Schicksal des irakischen Staates in den Händen der sunnitischen Stämme,  ohne deren Beteiligung  ein Befreiungskrieg zum Scheitern verurteilt wäre. Der aus mehreren zehntausend Angehörigen bestehende Albu Nimr-Stamm hat sich durch seine Kampfkraft 2006/07 als Teil der unter US-Führung zur Zerschlagung der „Al-Kaida im Irak“ (der Vorgängerin von IS) gegründeten „Sahwa“ (Erweckungs-)Miliz einen Ruf geschaffen.  Zuletzt hatten Albu Nimr-Kämpfer wochenlang die Stadt Hit, eine der letzten Widerstandsnester gegen IS in der Provinz Anbar, hartnäckig, doch schließlich erfolglos verteidigt, weil Waffen und Munition nicht mehr gereicht hatten. Dementsprechend bitter beklagen sich Stammesführer über den schiitischen Premier Abadi, der bisher Versprechungen von Waffenlieferungen nicht einhielt.
Iraks Stämme könnten der Kitt sein, der das zerrissene Land zusammenhält. Die großen Stämme erstrecken sich vom Norden bis zum Süden und nur wenige setzen sich ausschließlich aus Angehörigen einer religiösen oder ethnischen Gruppe zusammen. Stämme, die Sunniten und Schiiten, Araber und Kurden in sich vereinen, könnten den Zusammenhalt des Iraks garantieren.  Scheich Wasfi al-Asi, Chef des am 6. August gegen IS gegründeten Stammesrates , schätzt, dass derzeit mehr als 20.000 Stammesangehörige für den Krieg gegen die Terrormiliz trainiert würden bzw. bereits mit kurdischen Peschmerga oder Regierungstruppen kämpften. „Die Zahl der Freiwilligen wächst“ angesichts der Brutalität von IS.  Stammesregimente hatten bereits bei der Rückeroberung von Städten in der Provinz Diyala geholfen, den von IS bedrohten zweitgrößten Damm des Landes verteidigt und IS von einem strategisch wichtigen Grenzübergang nach Syrien vertrieben. Doch in den von IS kontrollierten Regionen wagen nur wenige den Widerstand.
Dennoch konnten sich die sunnitischen Stammesführer bis heute nicht zu einer einheitlichen Position gegenüber  IS durchringen. Die Stämme spielten eine zentrale Rolle bei der mehr als einjährigen Rebellion gegen den schiitischen Premier Maliki und hatten sich zum Hauptziel den Sturz des vom Iran unterstützten und von Schiiten geführten Regimes in Bagdad gesetzt. Denn Maliki hatte nicht nur ein Abkommen mit den „Sahwa“ gebrochen und die Angehörigen dieser  2011 aufgelösten Miliz, wie versprochen, in die Sicherheitskräfte integriert, sondern auch viele von ihnen inhaftiert. Derart verraten, haben die Stämme jegliches Vertrauen in das Bagdader Regierungssystem verloren. Iraks neuem Premier Abadi ist es bisher nicht gelungen, das Vertrauen wieder herzustellen.  Nicht nur kam aus Bagdad bisher keine Militärhilfe gegen IS, auch zeigt sich Abadi nicht bereit den Sunniten die geforderten Garantien für die Errichtung autonomer Regionen und Eingliederung in den nationalen Entscheidungsprozess zu geben. Wichtige Stammesführer wollen nur dann  auf der Seite Bagdads kämpfen, wenn die schiitischen Führer nach der Vertreibung von IS nicht wieder die Kontrolle über die Sunnitenregionen übernehmen und die Repression fortsetzen. Eine Entwaffnung der schiitischen Milizen, die in der Vergangenheit blutige Terrorakte an den Sunniten verübt hatten, ist eine der Hauptforderungen der Stämme. Doch Abadi reagierte darauf bisher nicht und die Ernennung eines führenden Mitglieds der mit dem Iran verbündeten Badr-Organisation, deren Miliz u.a. die Sunniten terrorisiert hatte, zum Innenminister wird in Sunnitenkreisen als böses Omen gewertet. Auch hat  sich Abadi  bisher dem US-Drängen Sunniten Waffen zu liefern, widersetzt, aus Furcht, dieses Kriegsgerät könnte sich schließlich gegen die Schiiten richten, wenn die IS-Gefahr gebannt ist.
Viele Stammesführer sehen ungeachtet der Brutalitäten von IS in den militanten Schiiten mittelfristig die noch größere Gefahr. Geheimverhandlungen mit US-Vertretern, ein Treffen Abadis mit Exil-Sunniten in Jordanien konnte bisher das gegenseitige Misstrauen nicht abbauen.

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