IS fürchtet Rebellion von Glaubensbrüdern, ohne die der Kampf
gegen die Terrormiliz nicht zu gewinnen ist – Doch die Stämme zögern
von Birgit Cerha
Die Serie grausiger Massenmorde im Irak reißt nicht ab. Seit Tagen
wütet die Terrormiliz des „Islamischen Staates“ (IS) unter
sunnitischen Glaubensbrüdern in der von ihr kontrollierten Provinz
Anbar. Mehr als 300 Angehörige des Albu Nimr Stammes, darunter Frauen
und Kinder, wurden seit Mitte der Vorwoche auf bestialische Weise
getötet. Die Massaker lassen auf eine gesteigerte Nervosität und die
Entschlossenheit des IS schließen, Widerstand gegen seine
Schreckensherrschaft durch gnadenlosen Terror im Keim zu ersticken und
zu verhindern, dass sich arabisch-sunnitische Stämme den von den USA
unterstützten irakischen Regierungssoldaten in einer Großoffensive zur
Befreiung der besetzten Regionen anschließen.
Nach Überzeugung westlicher Strategen liegt das Schicksal des
irakischen Staates in den Händen der sunnitischen Stämme, ohne deren
Beteiligung ein Befreiungskrieg zum Scheitern verurteilt wäre. Der aus
mehreren zehntausend Angehörigen bestehende Albu Nimr-Stamm hat sich
durch seine Kampfkraft 2006/07 als Teil der unter US-Führung zur
Zerschlagung der „Al-Kaida im Irak“ (der Vorgängerin von IS) gegründeten
„Sahwa“ (Erweckungs-)Miliz einen Ruf geschaffen. Zuletzt hatten Albu
Nimr-Kämpfer wochenlang die Stadt Hit, eine der letzten
Widerstandsnester gegen IS in der Provinz Anbar, hartnäckig, doch
schließlich erfolglos verteidigt, weil Waffen und Munition nicht mehr
gereicht hatten. Dementsprechend bitter beklagen sich Stammesführer über
den schiitischen Premier Abadi, der bisher Versprechungen von
Waffenlieferungen nicht einhielt.
Iraks Stämme könnten der Kitt sein, der das zerrissene Land
zusammenhält. Die großen Stämme erstrecken sich vom Norden bis zum Süden
und nur wenige setzen sich ausschließlich aus Angehörigen einer
religiösen oder ethnischen Gruppe zusammen. Stämme, die Sunniten und
Schiiten, Araber und Kurden in sich vereinen, könnten den Zusammenhalt
des Iraks garantieren. Scheich Wasfi al-Asi, Chef des am 6. August
gegen IS gegründeten Stammesrates , schätzt, dass derzeit mehr als
20.000 Stammesangehörige für den Krieg gegen die Terrormiliz trainiert
würden bzw. bereits mit kurdischen Peschmerga oder Regierungstruppen
kämpften. „Die Zahl der Freiwilligen wächst“ angesichts der Brutalität
von IS. Stammesregimente hatten bereits bei der Rückeroberung von
Städten in der Provinz Diyala geholfen, den von IS bedrohten
zweitgrößten Damm des Landes verteidigt und IS von einem strategisch
wichtigen Grenzübergang nach Syrien vertrieben. Doch in den von IS
kontrollierten Regionen wagen nur wenige den Widerstand.
Dennoch konnten sich die sunnitischen Stammesführer bis heute nicht
zu einer einheitlichen Position gegenüber IS durchringen. Die Stämme
spielten eine zentrale Rolle bei der mehr als einjährigen Rebellion
gegen den schiitischen Premier Maliki und hatten sich zum Hauptziel den
Sturz des vom Iran unterstützten und von Schiiten geführten Regimes in
Bagdad gesetzt. Denn Maliki hatte nicht nur ein Abkommen mit den „Sahwa“
gebrochen und die Angehörigen dieser 2011 aufgelösten Miliz, wie
versprochen, in die Sicherheitskräfte integriert, sondern auch viele von
ihnen inhaftiert. Derart verraten, haben die Stämme jegliches Vertrauen
in das Bagdader Regierungssystem verloren. Iraks neuem Premier Abadi
ist es bisher nicht gelungen, das Vertrauen wieder herzustellen. Nicht
nur kam aus Bagdad bisher keine Militärhilfe gegen IS, auch zeigt sich
Abadi nicht bereit den Sunniten die geforderten Garantien für die
Errichtung autonomer Regionen und Eingliederung in den nationalen
Entscheidungsprozess zu geben. Wichtige Stammesführer wollen nur dann
auf der Seite Bagdads kämpfen, wenn die schiitischen Führer nach der
Vertreibung von IS nicht wieder die Kontrolle über die Sunnitenregionen
übernehmen und die Repression fortsetzen. Eine Entwaffnung der
schiitischen Milizen, die in der Vergangenheit blutige Terrorakte an den
Sunniten verübt hatten, ist eine der Hauptforderungen der Stämme. Doch
Abadi reagierte darauf bisher nicht und die Ernennung eines führenden
Mitglieds der mit dem Iran verbündeten Badr-Organisation, deren Miliz
u.a. die Sunniten terrorisiert hatte, zum Innenminister wird in
Sunnitenkreisen als böses Omen gewertet. Auch hat sich Abadi bisher
dem US-Drängen Sunniten Waffen zu liefern, widersetzt, aus Furcht,
dieses Kriegsgerät könnte sich schließlich gegen die Schiiten richten,
wenn die IS-Gefahr gebannt ist.
Viele Stammesführer sehen ungeachtet der Brutalitäten von IS in den
militanten Schiiten mittelfristig die noch größere Gefahr.
Geheimverhandlungen mit US-Vertretern, ein Treffen Abadis mit
Exil-Sunniten in Jordanien konnte bisher das gegenseitige Misstrauen
nicht abbauen.
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