Erster Stützpunkt außerhalb Syriens und des Iraks im libyschen Derna dient als Modell für den weiteren Vormarsch
Während die Terrormilizen des „Islamischen Staates“ (IS) in Syrien
und im Irak sich gegen eine von den USA angeführte internationale
Allianz aus 40 Staaten und lokale Gegner mit barbarischer Brutalität zu
behaupten suchen, gelingt es ihnen, ihre Grenzen über das Kerngebiet des
von IS-Chef Abu Bakr al-Baghdadi ausgerufenen „Kalifats“ auszuweiten.
Zugleich bezeugen immer neue Treueschwüre von Terrorgruppen die
anhaltende Attraktivität dieser mörderischen Fanatiker unter
Gleichgesinnten weltweit.
Keine dieser Entwicklungen aber erscheint derart alarmierend wie
die Gründung der ersten „Kolonie“ von IS außerhalb Syriens und des
Iraks. Radikale Islamisten, die sich unterdessen mit Baghdadi
verbündeten, verstanden es nach dem Vorbild von IS im Irak und in
Syrien, das chaotische Machtvakuum Libyens zum Ausbau ihrer Terrormacht
zu nutzen. Sie schworen nun Baghdadi die „Baia“, den nach islamischen
Rechtsvorstellungen absolut bindenden Treue- und Gehorsamseid, und
erklärten die ostlibysche Provinz Cyrenaica zum „Wilayet (Provinz)
Barqa“ des vom IS-Chef 1.600 km entfernt geführten Kalifats. „Barqa“
hieß die östliche Region Libyens in der Zeit des Römischen Reiches.
Über der Hafen- und Mittelmeer-Hauptstadt Cyrenaicas, Derna wehen
nun die schwarzen Fahnen von IS und zahlreiche Hinweise lassen keinen
Zweifel, dass die lokalen Verbündeten dieser Terrormiliz die etwa
100.000 Einwohner zählende Stadt vollends kontrollieren. IS ist damit
kaum mehr als 300 km an die Südküsten Europas gerückt. Der lokale Zweig
von IS, „Barqa-Provinz-Division des Islamischen Staates“ genannt,
kontrolliert nach Aussagen von Noman Benotman, des ehemaligen libyschen
Jihadisten, der sich nun mit seiner „Qilliam Foundation“ für den Kampf
gegen Terrorismus engagiert, die gesamte Verwaltung der Stadt, das
Bildungssystem, die lokale Radiostation, die Polizei. Religiöse Gerichte
ordnen öffentliche Morde an, Auspeitschungen von Bürgern, die des
Verstoßes gegen das „islamische Recht“ (auch Alkoholkonsum und Rauchen)
beschuldigt werden. Gegner und Rivalen werden nach dem Vorbild von IS
bestialisch ermordet. Baghdadi entsandte aus Syrien einen weitgehend
unbekannten militanten Yemeniten, Mohammed Abdullah, als „Emir“ nach
Derna.
Seit dem Sturz Diktator Gadafis 2011 tobt in Libyen ein Krieg
zwischen unzähligen, hochbewaffneten Milizen. In rasantem Tempo
entwickelt sich dieser Staat an der Schwelle Europas zu einem Hafen für
radikale Jihadisten. Die völlig ohmächtige Regierung ist gelähmt,
Jihadi-Milizen in Derna und Tripoli verweigern jeglichen Dialog, während
in Benghazi, Kämpfe zwischen ebenfalls mit IS sympathisierenden
Jihadis und der libyschen Armee um Vorherrschaft über diese Hauptstadt
des Ostens toben.
Derna, in der Gadafi-Ära vollends vernachlässigt, galt schon lange
als Hochburg radikaler Islamisten. Von dort strömten Kämpfer nach
Afghanistan, in den Irak und zuletzt nach Syrien, wo ganze Brigaden in
den Reihen von IS kämpfen. 2007 stellten die US-Besatzungstruppen fest,
dass mehr als die Hälfte der 112 Libyer, die sich der Al-Kaida im Irak
(der Vorgängerin von IS) angeschlossen hatten, aus Derna stammten. Rund
300 Jihadis kehrten im Frühjahr aus Syrien nach Derna heim und gründeten
den „Shura-Rat für die islamische Jugend“ (SRIJ), der rasch lokale
Militante zur Unterstützung von IS anwarb. Ein Teil der stärksten
Islamistengrppe Libyens, der eben von der UNO auf die Liste der
Terrororganisationen gesetzten „Ansar al Sharia“, schloss sich dem SRIJ
an und lieferte der Derna dominierenden „Märtyrer von Abu Salem
Brigade“, die sich als nationale libysche Kraft versteht, heftige
Kämpfe, bis sie die Vorherrschaft gewann. Sodann gerieten liberale
Aktivisten der Stadt ins Schußfeld. Oppositionelle wurden getötet oder
in die Flucht getrieben. Wer blieb, versucht sich zu arrangieren.
Facebook-Seiten von SRIJ sind nach dem Vorbild von IS voll von
„Reueschreiben“ , durch die Bürger ihr Leben zu retten suchen.
„IS ist eine ernste Bedrohung für Libyen“, stellt Benotman
irritiert in TV-Sender CNN fest. „Sie sind auf dem besten Weg ein
islamisches Emirat“ in ganz Ost-Libyen zu errichten. Terrorexperten
geben dieser „Kolonie“ durchaus zumindest kurzfristige
Überlebenschancen, da sie sich selbst durch Schmuggel und diverse
Schwarzmarktaktivitäten finanzieren kann. Zudem dürfte die
Machtübernahme in Derna durch eine primär autonome lokale, mit IS
verbündete Organisation für die Eroberung neuen Territoriums außerhalb
der syrischen und irakischen Grenzen als Modell dienen, insbesondere im
Libanon, wo die Armee jüngst radikale Islamisten festnahm, die die
Eroberung einiger Dörfer und die Ausrufung einer Provinz des „Kalifats“
im Nord-Libanon geplant hatten.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen