Freitag, 21. November 2014

“Islamischer Staat“ errichtet Kolonie am Mittelmeer

Erster Stützpunkt außerhalb Syriens und des Iraks im libyschen Derna dient als Modell für den weiteren Vormarsch
 
Während die Terrormilizen des „Islamischen Staates“ (IS) in Syrien und im Irak sich gegen eine von den USA angeführte internationale Allianz aus 40 Staaten und lokale Gegner mit barbarischer Brutalität zu behaupten suchen, gelingt es ihnen, ihre Grenzen über das Kerngebiet des von IS-Chef Abu Bakr al-Baghdadi ausgerufenen „Kalifats“ auszuweiten. Zugleich bezeugen immer neue Treueschwüre von Terrorgruppen die anhaltende Attraktivität dieser mörderischen Fanatiker unter Gleichgesinnten weltweit.
Keine dieser Entwicklungen aber erscheint derart alarmierend wie die Gründung der ersten „Kolonie“ von IS außerhalb Syriens und des Iraks. Radikale Islamisten, die sich unterdessen mit Baghdadi verbündeten, verstanden es nach dem Vorbild von IS im Irak und in Syrien, das chaotische Machtvakuum Libyens zum Ausbau ihrer Terrormacht zu nutzen. Sie schworen nun Baghdadi die „Baia“, den nach islamischen Rechtsvorstellungen absolut bindenden Treue- und Gehorsamseid, und erklärten die ostlibysche Provinz Cyrenaica zum „Wilayet (Provinz) Barqa“ des vom IS-Chef 1.600 km entfernt geführten Kalifats.  „Barqa“ hieß die östliche Region Libyens in  der Zeit des  Römischen Reiches.
Über der Hafen- und Mittelmeer-Hauptstadt Cyrenaicas, Derna wehen nun die schwarzen Fahnen von IS und zahlreiche Hinweise lassen keinen Zweifel, dass die lokalen Verbündeten dieser Terrormiliz die etwa 100.000 Einwohner zählende Stadt vollends kontrollieren. IS ist damit kaum mehr als 300 km an die Südküsten Europas gerückt. Der lokale Zweig von IS, „Barqa-Provinz-Division des Islamischen Staates“ genannt, kontrolliert nach Aussagen von Noman Benotman, des ehemaligen libyschen Jihadisten, der sich nun mit seiner „Qilliam Foundation“ für den Kampf gegen Terrorismus engagiert,  die gesamte Verwaltung der Stadt, das Bildungssystem, die lokale Radiostation, die Polizei. Religiöse Gerichte ordnen öffentliche Morde an, Auspeitschungen von Bürgern, die des Verstoßes gegen das „islamische Recht“  (auch Alkoholkonsum und Rauchen) beschuldigt werden.  Gegner und Rivalen werden nach dem Vorbild von IS bestialisch ermordet. Baghdadi entsandte aus Syrien einen weitgehend unbekannten militanten Yemeniten, Mohammed Abdullah, als „Emir“ nach Derna.
Seit dem Sturz Diktator Gadafis 2011 tobt in Libyen ein Krieg zwischen unzähligen, hochbewaffneten Milizen. In rasantem Tempo entwickelt sich dieser Staat an der Schwelle Europas zu einem Hafen für radikale Jihadisten.  Die völlig ohmächtige Regierung ist gelähmt, Jihadi-Milizen in Derna und Tripoli verweigern jeglichen Dialog, während in  Benghazi, Kämpfe zwischen ebenfalls mit IS sympathisierenden Jihadis und der libyschen Armee um Vorherrschaft über diese Hauptstadt des Ostens toben.
Derna, in der Gadafi-Ära vollends vernachlässigt, galt schon lange als Hochburg radikaler Islamisten. Von dort strömten Kämpfer nach Afghanistan, in den Irak und zuletzt nach Syrien, wo ganze Brigaden in den Reihen von IS kämpfen. 2007 stellten die US-Besatzungstruppen fest, dass mehr als die Hälfte der 112 Libyer, die sich der Al-Kaida im Irak (der Vorgängerin von IS) angeschlossen hatten, aus Derna stammten. Rund 300 Jihadis kehrten im Frühjahr aus Syrien nach Derna heim und gründeten den „Shura-Rat für die islamische Jugend“ (SRIJ), der rasch lokale Militante zur Unterstützung von IS anwarb. Ein Teil der stärksten Islamistengrppe Libyens, der eben von der UNO auf die Liste der Terrororganisationen gesetzten „Ansar al Sharia“, schloss sich dem SRIJ an und lieferte der Derna dominierenden „Märtyrer von Abu Salem Brigade“, die sich als nationale libysche Kraft versteht, heftige Kämpfe, bis sie die Vorherrschaft gewann. Sodann gerieten liberale Aktivisten der Stadt ins Schußfeld.  Oppositionelle wurden getötet oder in die Flucht getrieben. Wer blieb, versucht sich zu arrangieren. Facebook-Seiten von SRIJ sind nach dem Vorbild von IS voll von „Reueschreiben“ , durch die Bürger ihr Leben zu retten suchen.
„IS ist eine ernste Bedrohung für Libyen“, stellt Benotman irritiert in TV-Sender CNN fest. „Sie sind auf dem besten Weg ein islamisches Emirat“ in ganz Ost-Libyen zu errichten. Terrorexperten geben dieser „Kolonie“ durchaus zumindest kurzfristige Überlebenschancen, da sie sich selbst durch Schmuggel und diverse Schwarzmarktaktivitäten finanzieren kann. Zudem dürfte die Machtübernahme in  Derna durch eine primär autonome lokale, mit IS verbündete Organisation für die Eroberung neuen Territoriums außerhalb der syrischen und irakischen Grenzen als Modell dienen, insbesondere im Libanon, wo die Armee jüngst radikale Islamisten festnahm, die die Eroberung einiger Dörfer und die Ausrufung  einer Provinz des „Kalifats“ im Nord-Libanon geplant hatten.

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