Dienstag, 14. Oktober 2014

Iraks vergessenes Volk

Die Not der vom Genozid bedrohten Yeziden findet kein Ende – Noch immer bleiben 7000 Frauen und Mädchen versklavt – Rettungsappelle verhallen
 
 von Birgit Cerha

Es scheint, als habe die Weltöffentlichkeit sie vergessen. Rund 80.000 Vertriebene der yezidischen Minderheit warten unter elenden Bedingungen in der nordirakischen Stadt Dohuk auf die so dringend nötige Hilfe, die nur in geringem Maße eintrifft. Sie harren seit ihrer Vertreibung aus Sindschar durch die Terrormiliz des „Islamischen Staates“ (IS) vor zwei Monaten unter Brücken aus, in Rohbauten ohne Wände oder in Zelten auf sandigem Boden, der sich sobald der Winterregen einsetzt in Schlamm und kleine Teiche verwandelt. Dabei hatten sie nach ihrer traumatischen Flucht in die Wüstenberge Sindschars auf Rettung durch die internationale Gemeinschaft und ihre kurdischen Brüder gehofft. Nun fühlen sie sich so sehr verlassen und verraten, dass  ihr stets so zurückhaltender geistlicher Führer, Mir Tahsin Beg, einen verzweifelten Appell an die Regierungen des Iraks und  der autonomen Kurdenregion richtete, doch ihre „nationale, politische, humanitäre und moralische Verantwortung“ für die Yeziden Sindschars zu übernehmen, deren Lage sich stetig verschlimmere und mit einbrechendem Winter dramatische Ausmaße annehmen werde.
73 Pogrome haben die Angehörigen dieser alten Religion in ihrer langen Geschichte erlitten. Doch diesen halten sie für den schlimmsten. Nach Schätzungen der UNO wurden mindestens 500.000 Yeziden aus ihren nordirakischen Dörfern und Städten vertrieben, Zehntausende flüchteten in die Wüstenberge Sindschars, von wo sie mit Hilfe kurdischer Kämpfer und im Schutz einer US-Luftbrücke  gerettet wurden. Tausende, die den sicheren Hafen im autonomen Kurdistan oder im syrischen Grenzgebiet nicht erreichten, wurden von den Jihadis abgeschlachtet. IS veranstaltete eine regelrechte Menschenjagd. Während die Terroristen die Männer töteten, nahmen sie Frauen und Mädchen, auch kleine Buben in die Sklaverei. Bis zu 7.000 Yeziden sind nach verlässlichen Schätzungen nun schon seit zwei Monaten einem grauenvollen Dasein in Gefangenschaft ausgeliefert. 43 gelang nach Berichten aus der Region in den vergangenen Wochen die Flucht, offenbar mit Hilfe sunnitischer Stammesführer in Mosul und Faludscha, die sie freigekauft hatten.
„Human Rights Watch“ veröffentlichte eben einen erschütternden Bericht auf der Basis von Interviews mit yezidischen Frauen, die der Terrormiliz entkamen. Sie erzählen Grauenvolles, von Vergewaltigungen mehrmals am Tag, selbst an zwölf oder 13-jährigen Mädchen und an Schwangeren. Die Jihadis teilten die Frauen unter sich auf und hielten sie als Sex-Sklavinnen. Wenn sie genug von ihnen hatten, verkauften sie sie um hundert bis maximal tausend Dollar und holten sich andere. Selbst wenn den Geschändeten die Flucht gelingt, bleibt ihr Leben bedroht, denn die meisten dieser unschuldigen Opfer sexueller Gewalt werden von ihren Familien, von der erzkonservativen yezidischen Gesellschaft stigmatisiert. Selbstmord erscheint vielen der einzige Ausweg.
Erstmals hat IS in seiner Propagandazeitschrift „Dabiq“ die Schändung von Frauen zugegeben.  Frauen und Kinder sind für sie „Kriegsbeute“ und Barbarei eine „legitime“ Wiederbelebung der Sklaverei während der frühen islamischen Eroberungen, in denen Frauen anderer Gesellschaften zu Konkubinen gezwungen worden waren.  IS hat sich damit offiziell zur sexuellen Versklavung von Frauen aus Bevölkerungsgruppen bekannt, die sie als „heidnisch“ oder – wie die Yeziden – als polytheistisch – erachten. Experten sehen diese Praxis als Teil eines geplanten Genozids an den Yeziden. „Dabiq“ weist darauf hin, dass Muslime „die Existenz“ dieser „Heiden“ bis heute „hinterfragen sollen, da sie am Tag des jüngsten Gerichts darüber Rechenschaft ablegen müssen.“
Eindringlich appellieren Yeziden, allen voran Mir Tashin Beg, um rasche Hilfe, denn es könnte zur Rettung Tausender Frauen bald zu spät sein. Die meisten werden in dem von IS kontrollierten Nord-Irak und auch in Syrien gefangen gehalten, in einem Gebiet, das den Frauen meist vertraut ist. Nur einige wenige US-Luftangriffe auf IS-Stützpunkte in der Region könnten den Gefangenen die Flucht ermöglichen. Doch trotz Versprechungen der kurdischen Peschmergas, Sindschar und andere yezidische Städte und Dörfer zu befreien, bleiben die sehnlichst erhofften Militäraktionen aus.
 

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