Warum die Terrormiliz „Islamischer Staat“ die nationalen Streitkräfte immer wieder in panische Flucht treibt
von Birgit Cerha
„Nichts ändert sich zum Besseren, es wird nur noch schlimmer“,
klagt ein Bewohner der irakischen Hauptstadt Bagdad über Scype. Die
Tatsache, dass zwei Monate seit Beginn der alliierten Luftangriffe auf
Stellungen des „Islamischen Staates“ (IS) die Terrormiliz viele
Positionen halten und stetig mehr Geländegewinne erzielen kann, treibt
viele Iraker zur Verzweiflung. In Bagdad, das seit dem Sturz von
Diktator Saddam Hussein 2003 blutige Gewalt, Bürgerkrieg und eine
beispiellose Terrorwelle durchlitten hatte, steigt die Angst vor noch
Schlimmerem. Denn IS steht an den Toren der Metropole, in der nach der
Vertreibung Hunderttausender Sunniten die von den radikalen Jihadis
mörderisch verfolgten Schiiten heute die Mehrheit bilden.
Unter Führung des von westlichen Experten als „genialen Strategen“
eingestuften 28-jährigen Georgiers tschetschenischer Herkunft, Tarkhan
Batirashvili (genannt „Shishani“) gelang IS in den vergangenen Wochen in
einer Serie von taktischen Siegen 80 Prozent der für den Schutz Bagdads
entscheidenden westlichen Provinz Anbar unter ihre Kontrolle zu
zwingen, darunter zuletzt die drittgrößte Basis der irakischen Armee im
Westen des Landes bei der von IS kurz zuvor eroberten Stadt Hit. Nach
mehrfach „bewährtem Muster“ attackierten kleine Einheiten von höchstens
50 Mann den Stützpunkt zunächst durch den Einsatz von
Selbstmordattentätern in Fahrzeugen und Raketen. Sie eroberten Panzer,
schwere Waffen, Munition und anderes Kriegsgerät. Die Provinzhauptstadt
Ramadi, die als strategisches Tor zu Bagdad gilt, könnte ebenfalls bald
fallen und mit ihr die gesamte Provinz Anbar. Im Bagdader Vorort Abu
Ghraib liefert sich IS-Kämpfer seit Tagen Gefechte mit Soldaten der
irakischen Armee. Die Tatsache, dass die Jihadis damit nur etwa 20 km
vom internationalen Flughafen entfernt sind, hat die USA zum ersten
Einsatz der für Notfälle in den Irak entsandten Apache-Helikopter
bewogen. Der Flughafen, so beteuert die Armeeführung unterdessen, sei
jedoch sicher.
Ob Shishani, der im Irak einen großen Teil der Attacken
kommandiert, den „höchsten Preis“, Bagdad, zu nehmen wagt, ist jedoch
angesichts der starken Präsenz der nationalen Streitkräfte und
schiitischer Milizen höchst fraglich. Die Hauptstadt und die neue
Regierung durch Terror zu destabilisieren, erschiene vielleicht als
effizientere Methode, zumal IS bereits dort viele „Schläferzellen“
kommandieren kann. Die irakische Armee hätte einen „recht starken
Verteidigungsring um Bagdad gezogen“, beruhigt US-Generalstabschef
Martin Dempsey. 60.000 Soldaten sollten in einer Pufferzone die
Sicherheit der Stadt garantieren. Doch ob ihnen das gelingen kann, ist
zweifelhaft. Vorerst lassen sich kaum Anzeichen erkennen, dass sich
Iraks Streitkräfte vom Schock von Mosul erholt hätten, als im Juni
Offiziere und Tausende Soldaten die zweitgrößte Stadt des Landes
kampflos und in Panik ihnen zahlenmäßig weit unterlegenen IS-Einheiten
überließen. Todesängste vor diesen barbarischen Terroristen, die ihre
Gegner brutal abschlachten, selbst wenn sie sich ergeben hatten, sind in
den vergangenen Wochen nicht geschwunden. Ganz im Gegenteil. Kopflose
Leichen in den von IS im syrisch-kurdischen Kobani eroberten Stadtteilen
sind die jüngsten Beispiele einer durchaus erfolgreichen
Terrorstrategie, die die Gegner in Panik versetzen und ihnen jeglichen
Kampfesmut rauben soll.
So hat die Schlagkraft der von den USA mit rund 25 Mrd. Dollar
aufgebauten Streitkräfte seit dem Vormarsch von IS noch mehr gelitten,
hat sich die unter Ex-Premier Maliki zur Hochblüte entwickelte
Korruption noch weiter dramatisch verstärkt, ebenso wie das Phänomen der
„Geistersoldaten“, das Iraks Armee seit einem Jahrzehnt dominiert.
Soldaten bezahlen ihre Vorgesetzten, damit sie diese nicht an
gefährliche Fronten schicken. Die Offiziere, die in den meisten Fällen
ihre Positionen durch teures Geld erkauft hatten, sind meist begierig,
solche Zahlungen anzunehmen. Die Angst vor der Front hat derartige
Ausmaße angenommen, dass Soldaten ihren gesamten Sold Vorgesetzten
übergeben und sich irgendwo anders einen Lebensunterhalt verdingen.
„Dieses Phänomen zerstört die Armee“, klagt ein Offizier gegenüber der
irakischen Onlinezeitung „Niqash“. Auch stimmt die Zahl der
registrierten Soldaten, für deren Versorgung die Offiziere mit Geldern
von der Militärverwaltung aufkommen müssen, häufig nicht mit jener der
tatsächlich eingesetzten überein. Eine höchst lukrative Geldquelle.
„Korruption“, so meint ein Offizier, „wirkt wie Termiten. Sie frisst von
innen und zerstört die Moral der Soldaten“. In Mosul etwa waren auf dem
Papier vor der IS-Offensive im Juni 60.000 Soldaten stationiert, doch
nur 20.000 standen für den Kampf zur Verfügung.
Auch die häufigen Überfälle von IS-Kämpfern auf Militärposten, wo
sie Waffen und Militärfahrzeuge eroberten führen zu einer konstanten
Schwächung und Demoralisierung der Armee. So befürchten Experten, dass
für eine Verteidigung Bagdads im Falle einer IS-Offensive vielleicht nur
mit der Hälfte der für den Einsatz geplanten 60.000 Soldaten nicht zu
rechnen sei.
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