Donnerstag, 16. Oktober 2014

Iraks „Geistersoldaten“

Warum die Terrormiliz „Islamischer Staat“ die nationalen Streitkräfte immer wieder in panische Flucht treibt
 
von Birgit Cerha
 
„Nichts ändert sich zum Besseren, es wird nur noch schlimmer“, klagt ein Bewohner der irakischen Hauptstadt Bagdad über Scype. Die Tatsache, dass zwei Monate seit Beginn der alliierten Luftangriffe auf Stellungen des „Islamischen Staates“ (IS) die Terrormiliz viele Positionen halten und stetig mehr Geländegewinne erzielen kann, treibt viele Iraker zur Verzweiflung. In Bagdad, das seit dem Sturz von Diktator Saddam Hussein 2003 blutige Gewalt, Bürgerkrieg und eine beispiellose Terrorwelle durchlitten hatte, steigt die Angst vor noch Schlimmerem. Denn IS steht an den Toren der Metropole, in der nach der Vertreibung Hunderttausender Sunniten die von den radikalen Jihadis mörderisch verfolgten Schiiten heute die Mehrheit bilden.
Unter Führung des von westlichen Experten als „genialen Strategen“ eingestuften 28-jährigen Georgiers tschetschenischer Herkunft, Tarkhan Batirashvili (genannt „Shishani“) gelang IS in den vergangenen Wochen in einer Serie von taktischen Siegen 80 Prozent der für den Schutz Bagdads entscheidenden westlichen Provinz Anbar unter ihre Kontrolle zu zwingen, darunter zuletzt die drittgrößte Basis der irakischen Armee im Westen des Landes bei der von IS kurz zuvor eroberten Stadt Hit. Nach mehrfach „bewährtem Muster“ attackierten kleine Einheiten von höchstens 50 Mann den Stützpunkt zunächst durch den Einsatz von Selbstmordattentätern in Fahrzeugen und Raketen. Sie eroberten Panzer, schwere Waffen, Munition und anderes Kriegsgerät. Die Provinzhauptstadt Ramadi, die als strategisches Tor zu Bagdad gilt, könnte ebenfalls bald fallen und mit ihr die gesamte Provinz Anbar. Im Bagdader Vorort Abu Ghraib liefert sich IS-Kämpfer seit Tagen Gefechte mit Soldaten der irakischen Armee. Die Tatsache, dass die Jihadis damit nur etwa 20 km vom internationalen Flughafen entfernt sind, hat die USA zum ersten Einsatz der für Notfälle in den Irak entsandten Apache-Helikopter bewogen. Der Flughafen, so beteuert die Armeeführung unterdessen, sei jedoch sicher.
Ob Shishani, der im Irak einen großen Teil der Attacken kommandiert, den „höchsten Preis“, Bagdad, zu nehmen wagt, ist jedoch angesichts der starken Präsenz der nationalen Streitkräfte und schiitischer Milizen höchst fraglich. Die Hauptstadt und die neue Regierung durch Terror zu destabilisieren, erschiene vielleicht als effizientere Methode, zumal IS bereits dort viele „Schläferzellen“ kommandieren kann. Die irakische Armee hätte einen „recht starken Verteidigungsring um Bagdad gezogen“, beruhigt US-Generalstabschef Martin Dempsey. 60.000 Soldaten sollten in einer Pufferzone die Sicherheit der Stadt garantieren. Doch ob ihnen das gelingen kann, ist zweifelhaft. Vorerst lassen sich kaum Anzeichen erkennen, dass sich Iraks Streitkräfte vom Schock von Mosul erholt hätten, als im Juni Offiziere und Tausende Soldaten die zweitgrößte Stadt des Landes kampflos und in Panik ihnen zahlenmäßig weit unterlegenen IS-Einheiten überließen. Todesängste vor diesen barbarischen Terroristen, die ihre Gegner brutal abschlachten, selbst wenn sie sich ergeben hatten, sind in den vergangenen Wochen nicht geschwunden. Ganz im Gegenteil. Kopflose Leichen in den von IS im syrisch-kurdischen Kobani eroberten Stadtteilen sind die jüngsten Beispiele einer durchaus erfolgreichen Terrorstrategie, die die Gegner in Panik versetzen und ihnen jeglichen Kampfesmut rauben soll.
So hat die Schlagkraft der von den USA mit rund 25 Mrd. Dollar aufgebauten Streitkräfte seit dem Vormarsch von IS noch mehr gelitten, hat sich die unter Ex-Premier Maliki zur Hochblüte entwickelte Korruption noch weiter dramatisch verstärkt, ebenso wie das Phänomen der „Geistersoldaten“, das Iraks Armee seit einem Jahrzehnt dominiert. Soldaten bezahlen ihre Vorgesetzten, damit sie diese nicht an gefährliche Fronten schicken. Die Offiziere, die in den meisten Fällen ihre Positionen durch teures Geld erkauft hatten, sind meist begierig, solche Zahlungen anzunehmen. Die Angst vor der Front hat derartige Ausmaße angenommen, dass Soldaten ihren gesamten Sold Vorgesetzten übergeben und sich irgendwo anders einen Lebensunterhalt verdingen. „Dieses Phänomen zerstört die Armee“, klagt ein Offizier gegenüber der irakischen Onlinezeitung „Niqash“. Auch stimmt die Zahl der registrierten Soldaten, für deren Versorgung die Offiziere mit Geldern von der Militärverwaltung aufkommen müssen, häufig nicht mit jener der tatsächlich eingesetzten überein. Eine höchst lukrative Geldquelle. „Korruption“, so meint ein Offizier, „wirkt wie Termiten. Sie frisst von innen und zerstört die Moral der Soldaten“. In Mosul etwa waren auf dem Papier vor der IS-Offensive im Juni 60.000 Soldaten stationiert, doch nur 20.000 standen für den Kampf zur Verfügung.
Auch die häufigen Überfälle von IS-Kämpfern auf Militärposten, wo sie Waffen und Militärfahrzeuge eroberten führen zu einer konstanten Schwächung und Demoralisierung der Armee. So befürchten Experten, dass für eine Verteidigung Bagdads im Falle einer IS-Offensive vielleicht nur mit der Hälfte der für den Einsatz geplanten 60.000 Soldaten nicht zu rechnen sei.
 

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