Für die IS-Terroristen ist die nordsyrische Kurdenstadt ein
Meilenstein zur Konsolidierung ihres „islamischen Staates“, für die
westliche Allianz ein humanitärer Test
von Birgit Cerha
„Wenn die USA es wollten, könnten sie IS (die Terroristen des
„Islamischen Staates“) bei Kobane in einem Tag erledigen“, klagen
Kurden, die im türkischen Grenzgebiet zu Syrien fassungslos und
ohnmächtig den verzweifelten Überlebenskampf der seit fast drei Wochen
von den Jihadis attackierten nord-syrischen Kurdenstadt verfolgen. „Wir
verstehen nicht, warum sie es nicht tun!“ Und über Twitter empören sich
Kurden: „Wir riefen US-Flugzeuge zu Hilfe. Stattdessen kamen (von IS im
irakischen Mosul eroberte) US-Panzer uns zu töten.“
Nachdem IS Montag den strategisch wichtigen Mishtenur Berg und
Außenbezirke Kobanes erobert hatten, begann ein blutiger Straßenkrieg,
in dem die Verteidiger nach eigener Einschätzung zwar durchaus Vorteile
besitzen, dennoch den weit besser ausgerüsteten Angreifern hoffnungslos
unterlegen sind. Doch die Kämpfer der kurdischen
„Volksverteidigungseinheiten“ (YPG), darunter viele Frauen, sind
entschlossen, ihre Stadt bis zum Letzten zu verteidigen und lieber im
Kampf als von den Händen barbarischer Mörder zu sterben. All dies vor
den Augen einer gelähmten Welt. Während Kobane im Todeskampf liegt,
fliegen Kampfjets der internationalen Allianz Ziele im Irak und
anderswo in Syrien an, ein Muster, das sie seit mehr als zwei Wochen
verfolgen. Und die Türkei, deren Premierminister Davutoglu versprochen
hatte, „alles zu tun, um den Vormarsch von IS gegen unsere kurdischen
Brüder in Kobane zu stoppen“ postierte ein Großaufgebot an Panzern an
der Grenze, die den Soldaten als Aussichtspunkte zur Beobachtung des
Niedergangs von Kobane dienen, während türkische Sicherheitskräfte
zugleich jegliche Unterstützung für die Eingeschlossenen, ja sogar
überlebenswichtige Nahrungsmittellieferungen, gewaltsam blockieren.
Tödlicher Zynismus, aus Hass geboren.
Eine Geheimmission Saleh Muslims, des Chefs der „Kurdischen
Demokratischen Unions-Partei“ (PYD), des politischen Flügels der YPG,
zur Rettung Kobanes in die Türkei, scheiterte, nachdem Muslim stolz
Ankaras Bedingungen für eine Hilfe abgelehnt hatte: Aufgabe des
Anspruchs auf Selbstverwaltung, Auflösung des von YPG im November 2013
unter dem Namen „Rojava“ ausgerufenen nord-syrischen Kantonsystems
dreier überwiegend von Kurden bewohnten Provinzen und Zustimmung zu
einer von den Türken kontrollierten Sicherheitszone in diesem
Grenzgebiet.
Kobane, 1912 als kleine Bahnstation an der
Berlin-Bagdad-Eisenbahnlinie errichtet und Heimat von 50.000 Menschen,
ist ein hoher Preis für alle Teilnehmer an diesem grauenvollen Krieg.
Hier sind kurdische Identitätsgefühle und Selbstbestimmungsbestrebungen
besonders stark ausgeprägt. Der Verlust der Stadt und der sie umgebenden
Region aber hat für die Kurden nicht nur große symbolische, sondern
auch strategische Bedeutung, liegt sie doch in der Mitte von Rojava und
ihr Fall an IS würde das autonome Gebiet spalten.
Aber auch für IS ist Kobane von enormen strategischem Wert. Mit
ihrer Eroberung können die Jihadis nicht nur etwa die Hälfte der 900 km
langen Grenze zur Türkei kontrollieren, sondern auch ein großes Gebiet,
das sich von dem von ihr beherrschten Ostteil Aleppos, ihrer
„Hauptstadt“ Rakka, über die meisten größeren Städte am Euphrat, wie
Deir Ezzor und den Grenzübergang zum Irak bei Al Qaim und weiter nach
Südosten in die irakische Provinz Anbar erstreckt. Hier hat IS bereits
die strategisch wichtigen Städte Hit und Falluja erobert kämpft nun bei
Haditha und Hamadi gegen irakische Truppen. Fällt Kobane, kann IS
Einheiten nach Anbar, bis zur Grenze von Bagdad abziehen, um eine
Großattacke auf die irakische Hauptstadt zu starten.
Aber auch für die USA bedeutet der Fall von Kobane einen
empfindlichen Schlag, bewiese er doch den bisherigen Fehlschlag des
amerikanischen Luftkriegs gegen IS, der ungeachtet der Attacken der
Alliierten seinen Vormarsch im Irak und in Syrien fortsetzen kann.
Amerikanische Militärsprecher und Analysten erklären Washingtons lahme
Hilfe zum Schutz Kobanes damit, dass sich Washington die Stabilisierung
des Iraks zum Hauptziel dieses Krieges gesetzt habe und Attacken in
Syrien lediglich der Schwächung der Rückzugszentren von IS und nicht
humanitären Aufgaben dienten. Der amerikanische Syrienexperte Joshua
Landis meint gar, wenn sich die USA auf den Schutz von Kobane
konzentrierten, würden sie in ein „Wespennest“ stechen, denn dann würden
sie sich dem Vorwurf aussetzen, warum sie nicht alle von IS bedrohten
Bevölkerungsgruppen Syriens und des Iraks retteten.
Und ein Sprecher des US-State Departments lässt keine Zweifel
daran, dass die USA ihre Aktionen mit der Türkei mit dem Ziel
absprächen, die Grenzregion zu stabilisieren. Die Rettung der vom Tod
bedrohten Kurden zählt nicht zu Ankaras Anliegen. Vielmehr würde der
Fall Kobanes die PYD und damit deren Schwesterpartei „PKK“, den
jahrzehntelangen Erzfeind der Türkei, empfindlich schwächen und die
Gefahr eines autonomen Kurdengebietes in Syrien für lange Zeit bannen.
Wie viel Präsident Erdogan an einer solchen Entwicklung ungeachtet des
mit der PKK eingeleiteten Friedensprozesses liegt, ließ er durch die
jüngste Bemerkung erkennen, dass PKK und PYD ebenso gefährlich seien wie
IS. Vor allem aber ermöglichte dieser Krieg die Entvölkerung des
Grenzgebietes. IS hatte im Zuge ihrer Offensive gegen Kobane 396 Dörfer
überrannt, die nun von ihren insgesamt etwa 400.000 überwiegend
kurdischen Bewohnern vollends „gesäubert“ sind. Damit rückt für die
Türkei ihr lange geplantes Ziel einer menschenleeren Pufferzone, die
jegliche Verbindung zwischen kurdischen Familien und Stämmen auf beiden
Seiten der Grenze endgültig blockiert, nahe wie nie zuvor. So verwundert
es nicht, dass sich die Kurden, wie so oft in ihrer leidvollen
Geschichte, verlassen, verraten und hilflos einsam fühlen.
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