Dienstag, 7. Oktober 2014

Der Fall von Kobane und die Folgen

Für die IS-Terroristen ist die nordsyrische Kurdenstadt ein Meilenstein zur Konsolidierung ihres „islamischen Staates“, für die westliche Allianz ein humanitärer Test
 
von Birgit Cerha
 
„Wenn die USA es wollten, könnten sie IS (die Terroristen des „Islamischen Staates“) bei Kobane in einem Tag erledigen“, klagen Kurden, die im türkischen Grenzgebiet zu Syrien fassungslos und ohnmächtig den verzweifelten Überlebenskampf der seit fast drei Wochen von den Jihadis attackierten nord-syrischen Kurdenstadt verfolgen. „Wir verstehen nicht, warum sie es nicht tun!“ Und über Twitter empören sich Kurden: „Wir riefen US-Flugzeuge zu Hilfe. Stattdessen kamen  (von IS im irakischen Mosul eroberte) US-Panzer uns zu töten.“
Nachdem IS Montag den strategisch wichtigen Mishtenur Berg und Außenbezirke Kobanes erobert hatten, begann ein blutiger Straßenkrieg, in dem die Verteidiger nach eigener Einschätzung zwar durchaus Vorteile besitzen, dennoch den weit besser ausgerüsteten Angreifern hoffnungslos unterlegen sind. Doch die Kämpfer der kurdischen „Volksverteidigungseinheiten“ (YPG), darunter viele Frauen, sind entschlossen, ihre Stadt bis zum Letzten zu verteidigen und lieber im Kampf als  von den Händen barbarischer Mörder zu sterben. All dies vor den Augen einer gelähmten Welt. Während Kobane im Todeskampf liegt, fliegen Kampfjets der internationalen Allianz Ziele im Irak  und anderswo in Syrien an, ein Muster, das sie seit mehr als zwei Wochen verfolgen. Und die Türkei, deren Premierminister Davutoglu versprochen hatte, „alles zu tun, um den Vormarsch von IS gegen unsere kurdischen Brüder in Kobane zu stoppen“ postierte ein Großaufgebot an Panzern an der Grenze, die den Soldaten als Aussichtspunkte zur Beobachtung des Niedergangs von Kobane dienen, während türkische Sicherheitskräfte zugleich jegliche Unterstützung für die Eingeschlossenen, ja sogar überlebenswichtige Nahrungsmittellieferungen, gewaltsam blockieren. Tödlicher Zynismus, aus Hass geboren.
Eine Geheimmission Saleh Muslims, des Chefs der „Kurdischen Demokratischen Unions-Partei“ (PYD), des politischen Flügels der YPG, zur Rettung Kobanes in die Türkei, scheiterte, nachdem Muslim stolz Ankaras Bedingungen für eine Hilfe abgelehnt hatte: Aufgabe des Anspruchs auf Selbstverwaltung, Auflösung des von YPG im November 2013 unter dem Namen „Rojava“ ausgerufenen nord-syrischen Kantonsystems dreier überwiegend von Kurden bewohnten Provinzen und Zustimmung zu einer von den Türken kontrollierten Sicherheitszone in diesem Grenzgebiet.
Kobane, 1912 als kleine Bahnstation an der Berlin-Bagdad-Eisenbahnlinie errichtet und Heimat von 50.000 Menschen, ist ein hoher Preis für alle Teilnehmer an diesem grauenvollen Krieg. Hier sind kurdische Identitätsgefühle und Selbstbestimmungsbestrebungen besonders stark ausgeprägt. Der Verlust der Stadt und der sie umgebenden Region aber hat für die Kurden nicht nur große symbolische, sondern auch strategische Bedeutung, liegt sie doch in der Mitte von Rojava und ihr Fall an IS würde das autonome Gebiet spalten.
Aber auch für IS ist Kobane von enormen strategischem Wert. Mit ihrer Eroberung können die Jihadis nicht nur etwa die Hälfte der 900 km langen Grenze zur Türkei kontrollieren, sondern auch ein großes Gebiet, das sich von dem von ihr beherrschten Ostteil Aleppos, ihrer „Hauptstadt“ Rakka, über die meisten größeren Städte am Euphrat, wie Deir Ezzor und den Grenzübergang zum Irak bei Al Qaim und weiter nach Südosten in die irakische Provinz Anbar erstreckt. Hier hat IS bereits die strategisch wichtigen Städte Hit und Falluja erobert kämpft nun bei Haditha und Hamadi gegen irakische Truppen. Fällt Kobane, kann IS Einheiten nach Anbar, bis zur Grenze von Bagdad abziehen, um eine Großattacke auf die irakische Hauptstadt zu starten.
Aber auch für die USA bedeutet der Fall von Kobane einen empfindlichen Schlag, bewiese er doch den bisherigen Fehlschlag des amerikanischen Luftkriegs gegen IS, der ungeachtet der Attacken der Alliierten seinen Vormarsch im Irak und in Syrien fortsetzen kann. Amerikanische Militärsprecher und Analysten erklären Washingtons lahme Hilfe zum Schutz Kobanes damit, dass sich Washington die Stabilisierung des Iraks zum Hauptziel dieses Krieges gesetzt habe und Attacken in Syrien lediglich der Schwächung der Rückzugszentren von IS und nicht humanitären Aufgaben dienten. Der amerikanische Syrienexperte Joshua Landis meint gar, wenn sich die USA auf den Schutz von Kobane konzentrierten, würden sie in ein „Wespennest“ stechen, denn dann würden sie sich dem Vorwurf aussetzen, warum sie nicht alle von IS bedrohten Bevölkerungsgruppen Syriens und des Iraks retteten.
Und ein Sprecher des US-State Departments lässt keine Zweifel daran, dass die USA ihre Aktionen mit der Türkei mit dem Ziel absprächen, die Grenzregion zu stabilisieren. Die Rettung der vom Tod bedrohten Kurden zählt nicht zu Ankaras Anliegen. Vielmehr würde der Fall Kobanes die PYD und damit deren Schwesterpartei „PKK“, den jahrzehntelangen Erzfeind der Türkei, empfindlich schwächen und die Gefahr eines autonomen Kurdengebietes in Syrien für lange Zeit bannen.  Wie viel Präsident Erdogan an einer solchen Entwicklung ungeachtet des mit der PKK eingeleiteten Friedensprozesses liegt, ließ er durch die jüngste Bemerkung erkennen, dass PKK und PYD ebenso gefährlich seien wie IS. Vor allem aber ermöglichte dieser Krieg die Entvölkerung des Grenzgebietes. IS hatte im Zuge ihrer Offensive gegen Kobane 396 Dörfer überrannt, die nun von ihren insgesamt etwa 400.000 überwiegend kurdischen Bewohnern vollends „gesäubert“ sind. Damit rückt für die Türkei ihr lange geplantes Ziel einer menschenleeren Pufferzone, die jegliche Verbindung zwischen kurdischen Familien und Stämmen auf beiden Seiten der Grenze endgültig blockiert, nahe wie nie zuvor. So verwundert es nicht, dass sich die Kurden, wie so oft in ihrer leidvollen Geschichte, verlassen, verraten und hilflos einsam fühlen.
 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen