Sonntag, 26. Oktober 2014

Ägyptens „Existenzkrieg“ im Sinai

Die strategisch wichtige Halbinsel entgleitet der Kontrolle der Armee – Mit der Terrormiliz des „Islamisten Staates“ verbündete Jihadis gewinnen bedrohlich an Stärke
 
 von Birgit Cerha

Drei Tage lang trauert Ägypten um die 31 Soldaten, die am Freitag bei den blutigsten Terroranschlägen seit Jahrzehnten im Norden der Halbinsel Sinai ums Leben kamen. Präsident Sisi spricht von einem „Existenzkrieg“ Ägyptens, von „äußeren Kräften“ angetrieben und kündigt  eine massive Militäraktion sowie drastisch verschärfte Anti-Terrormaßnahmen an , um eine drohende Gefahr für die gesamte Region zu bannen.
Der Nord-Sinai besitzt zentrale strategische Bedeutung. Er trennt das ägyptische Kernland von Israel und dem palästinensischen Gaza-Streifen. An seiner West-Grenze zieht sich der für die internationale Schifffahrt, wie für die ägyptische Wirtschaft so bedeutende Suez-Kanal. Diese von etwa 1,4 Millionen Menschen bewohnte Landbrücke zwischen Afrika und Asien ist von alters her Schauplatz von Kriegen, Rebellionen und jüngst zunehmendem Terror. Trotz massivster Militäroperationen ist die Halbinsel seit dem Sturz Präsident Mubaraks 2011 der Kontrolle durch die ägyptische Armee mehr und mehr entglitten. Insbesondere seit der damalige Generalstabschef und heutige Staatschef Sisi im Juni 2013 den ersten freigewählten Präsidenten  Mursi von der Macht vertrieb, dreht sich die Spirale der Gewalt im Sinai in alarmierender Geschwindigkeit. Diverse Islamistengruppen, darunter die weitaus stärkste, „Ansar Bayt al Maqdis“, ABM („Unterstützer des heiligen Hauses, gemeint Jerusalem) konzentrieren ihren blutigen Hass auf den vom Militär unter Sisi geführten Staat und zielen primär auf Angehörige der Sicherheitskräfte im Sinai, zunehmend aber auch auf dem Festland. Im Vorjahr entging der Innenminister in Kairo nur knapp einem Attentat, zu dem sich ABM, wie zu dem Großteil der anderen Anschläge bekannte. Auch nun suchen die Sicherheitskräfte die Attentäter in den Reihen von ABM.
Die gnadenlose Brutalität, mit der das Sisi-Regime die Massenbewegung der  Moslembruderschaft Mursis zerschlug und zunehmend auch andere Islamistengruppen verfolg heizt die Gewalt im Sinai auf, wohin viele Islamisten flüchteten und ihre Racheschwüre gegen die Herrscher in Kairo mit Koranversen untermauern. Sie finden Sympathie unter der seit Jahrzehnten marginalisierten, diskriminierten und zutiefst frustrierten Bevölkerung dieser ärmsten Region Ägyptens. Wiederholte Feldzüge der Armee gegen den Terror im Sinai trieben einen blutigen Teufelskreis an.  Auch Sisi setzte bisher die jahrzehntelangen Methoden des Mubarak-Regimes ein: Strafmaßnahmen gegen ganze Dörfer, Zerstörung von Häusern, wahllose Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren von Tausenden Zivilisten, Folter, Tod auch vieler Unschuldiger. All dies vor dem Hintergrund zunehmender Verarmung und des Beschäftigungsverbots für Sinais Beduinen in allen staatlichen Institutionen. Eine wachsende Radikalisierung der Bevölkerung  blieb so unvermeidlich. Hier finden radikale Gruppen, allen voran ABM, reichen Nährboden.
Auch ABM hat sich weiter radikalisiert seit ihre  Führer dem „Islamischen Staat“ (IS) Unterstützung bekundeten und nach Aussagen eines ihrer Kommandanten von IS „über das Internet“ in mörderischen Methoden „trainiert“ würden. So begann auch ABM auf Jihadi-Foren im Internet Videos zu verbreiten, in denen sie „Informanten“ der ägyptischen Armee köpften. Tatsächlich gelang es ABM jüngst derart Angst und Schrecken im Sinai zu verbreiten, dass sich immer weniger Beduinen zur Zusammenarbeit mit den Sicherheitskräften bereitfinden. Sisis Soldaten aber sind in diesem unwegsamen Wüstengebirgsterrain auf die ortskundigen Informanten vollends angewiesen.
Doch nur, wenn Kairo endlich die berechtigten Beschwerden der lokalen Bevölkerung hört und nicht massive Strafaktionen auch gegen viele Unschuldige durchführt, sondern vielmehr gezielte Schläge mit einem dringend nötigen Entwicklungsprogramm verbindet, besitzt es die Chance, ein weiteres Abdriften dieser geostrategisch so wichtigen Region in blutiges, vollends unkontrollierbares und auch das Kernland noch mehr gefährdendes Chaos zu verhindern.

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