Sonntag, 21. September 2014

In Syrien droht ein „zweites Sinjar“

IS-Großoffensive gegen die Kurdenstadt Kobane löst beispiellose Fluchtwelle und Ängste um die Zukunft ganz Kurdistans aus
 
von Birgit Cerha
 
„Wir werden bis zu unserem letzten Blutstropfen widerstehen. Niemand soll damit rechnen, dass wir uns unterwerfen oder unser Land aufgeben. Wenn nötig, werden wir sie in unserem Blut ertränken.“ Eindringlich appelliert Anwer Muslim, „Premier“ des kurdischen Kantons Kobani in Nord-Syrien an kurdische Kämpfer der ganzen Region der von Terroristen des „Islamischen Staates“ belagerten drittgrößten kurdischen Stadt Syriens zu Hilfe zu eilen. Seit IS Dienstag eine Großoffensive gegen Kobani begann, dabei bisher mehr als hundert kurdische Dörfer überrannte und nur wenige Kilometer an diese Grenzstadt zur Türkei heranrückte, flüchteten Zehntausende Menschen, überwiegend Kurden in Panik vor diesen blutrünstigen Barbaren. Verzweifelte sprechen von Szenen des Horrors, die sie in ihren Heimatdörfern miterlebt hatten. Die IS-Milizen „töten jeden, den sie in den Dörfern finden“, berichtet der Direktor einer lokalen Radiostation der Nachrichtenagentur Reuters. In einem der Dörfer seien mindestens elf Zivilisten, darunter Buben, ermordet worden. „Sie zerstören alles.“ Wenn der IS-Vormarsch nicht rechtzeitig abgewehrt werde, drohe Kobani ein „zweites Sinjar“, wo IS im August die yezidische Minderheit aus dieser nord-irakischen Stadt vertrieben und teilweise massakriert hatte.
Der Präsident des irakischen Kurdistan, Massoud Barzani ruft die internationale Gemeinschaft zur raschen Intervention auf, um zu verhindern, dass Kobani in die Hände von IS falle und damit „die gesamte kurdische Nation“ gefährdet würde.
Während die kurdischen Kämpfer der „Schutzeinheiten des Volkes“ (YPG), des militärischen Armes der größten Partei syrischer Kurden, „Partei der demokratischen Union“ (PYD), in und um Kobani weiterhin heftigen Widerstand gegen die von drei Seiten heranrückenden Einheiten des IS liefern, fanden allein innerhalb von 24 Stunden rund 60.000 Flüchtlinge in der Türkei Schutz, die nach tagelangem Zögern in einem Streifen von 32 Kilometern die Grenze geöffnet hatte. Tausende Menschen warten noch auf der syrischen Seite. Diese Massenflucht beweist eindrucksvoll die beispiellose Grausamkeit des IS.
YGP hat in den vergangenen zwei Jahren wie keine andere bewaffnete Gruppierung in Syrien dem IS militärischen Widerstand geleistet und der kurdischen Minderheit in Nordsyrien ein für syrische Verhältnisse erstaunliches Maß an Sicherheit und Stabilität beschert. Doch nun reichen Kampfesmut, -erfahrung, Engagement und nicht mehr, um die Vernichtungsgefahr abzuwehren. Denn dank der Eroberungen im Irak seit Juni setzt IS nun Panzer, Artillerie und andere schwere Waffen ein, gegen die die nur leicht ausgerüsteten YGP hoffnungslos unterlegen sind.
Die Schlacht um Kobani ist Teil eines langen Kampfes zwischen IS und den Kurden Syriens in dem überwiegend von der Minderheit bewohnten Grenzgebiet zur Türkei. Kobani, vom Assad-Regime in den arabischen Namen Ain al-Arab (Quelle der Araber) umgetauft, hatte vor Beginn der Rebellion 2011 mehr als 50.000 Einwohner, doch Tausende Flüchtlinge der jahrelangen Kämpfe dürften hier inzwischen Zuflucht gefunden haben. Für die Kurden besitzt die Stadt große symbolische Bedeutung, fand doch der Wunsch nach Anerkennung der Grundrechte der Kurden hier besondere Ausprägung. Als erste kurdische Stadt wurde Kobani am 19. Juli 2012 vom Assad-Regime befreit und von hier aus konnte YPG ihre erfolgreiche Kampagne zur Kontrolle der Kurdengebiete ausweiten und diese Region zur stabilsten im blutigen Chaos Syriens aufbauen. Allerdings bezahlten viele kurdische Kämpfer dafür mit ihrem Leben.
Wegen ihrer engen Verbindungen zur „Kurdischen Arbeiterpartei“, PKK, der von der Türkei trotz eines bis heute, ungeachtet eines von Ankara eingeleiteten Friedensprozesses als „Terrororganisation“ eingestuften Guerillaorganisation, versuchten die Türken, die Entwicklung eines,  neben dem nordirakischen Kurdistan, zweiten autonomen Kurdengebietes zu verhindern, Blockaden, Sperre der Grenzen, Unterstützung der Feinde der Kurden in Syrien zählen seit etwa zwei Jahren zu den Methoden, das Überleben von „Rojava“, wie die Kurden ihre autonome Region nennen, zu verhindern. So mag es nicht verwundern, dass auch nun viele syrische Kurden den Verdacht hegen, Ankara habe bei der IS-Offensive zumindest indirekt seine Hand im Spiel. Bis heute haben sich die Türken geweigert, entschieden gegen diese Jihadis vorzugehen, ihr Einsickern nach Syrien über türkisches Territorium zu verhindern. In türkischen Spitälern werden IS-Verwundete behandelt und nach Berichten von Kurden gelangten jüngst auch Waffen über die Bahnverbindung durch Rojava zu IS.
Die Eroberung von Kobani ist für IS von enormem strategischen Wert. Von dieser wichtigen Grenzposition aus können die Jihadis ihre Geländegewinne in Nord-Syrien konsolidieren.  Der Fall der Stadt wäre nach Einschätzung des amerikanischen Nahostexperten Michael Rubin eine „strategische Katastophe“, da er IS weitere Ausweitung der Grenzkontrollen zur Türkei ermöglichen würde, über die noch mehr Waffen und Jihadis zu der Terrororganisation gelangen könnten. Kurden der Region befürchten, dass IS nach der Eroberung Kobanis als nächstes einen noch größeren Preis anstrebt: die irakisch-kurdische Ölstadt Kirkuk. Schon kursieren Berichte, dass dort lebende Araber beginnen sich den Jihadis anzuschließen.
YPG hofft nun nach dem Vorbild von Sinjar auf westliche Hilfe, um einen Fluchtweg von Kobani zur Kurdenstadt Hassakeh zu öffnen, und auf die so dringend benötigten Waffen für den Bodenkampf.  Bisher haben die USA und die Europäer diesen tapferen Kämpfern inmitten einer von islamischen Radikalismus infizierten Region  wegen deren Nähe zur PKK versagt. „Noch“, so meint Rubin, „ist es nicht zu spät“ den Fall von Kobani zu verhindern und damit „den Verrat an der einzigen Region Syriens, die sich eine säkulare, demokratische Zukunftsvision zu eigen gemacht haben.“
 

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