IS-Großoffensive gegen die Kurdenstadt Kobane löst beispiellose Fluchtwelle und Ängste um die Zukunft ganz Kurdistans aus
von Birgit Cerha
„Wir werden bis zu unserem letzten Blutstropfen widerstehen.
Niemand soll damit rechnen, dass wir uns unterwerfen oder unser Land
aufgeben. Wenn nötig, werden wir sie in unserem Blut ertränken.“
Eindringlich appelliert Anwer Muslim, „Premier“ des kurdischen Kantons
Kobani in Nord-Syrien an kurdische Kämpfer der ganzen Region der von
Terroristen des „Islamischen Staates“ belagerten drittgrößten kurdischen
Stadt Syriens zu Hilfe zu eilen. Seit IS Dienstag eine Großoffensive
gegen Kobani begann, dabei bisher mehr als hundert kurdische Dörfer
überrannte und nur wenige Kilometer an diese Grenzstadt zur Türkei
heranrückte, flüchteten Zehntausende Menschen, überwiegend Kurden in
Panik vor diesen blutrünstigen Barbaren. Verzweifelte sprechen von
Szenen des Horrors, die sie in ihren Heimatdörfern miterlebt hatten. Die
IS-Milizen „töten jeden, den sie in den Dörfern finden“, berichtet der
Direktor einer lokalen Radiostation der Nachrichtenagentur Reuters. In
einem der Dörfer seien mindestens elf Zivilisten, darunter Buben,
ermordet worden. „Sie zerstören alles.“ Wenn der IS-Vormarsch nicht
rechtzeitig abgewehrt werde, drohe Kobani ein „zweites Sinjar“, wo IS im
August die yezidische Minderheit aus dieser nord-irakischen Stadt
vertrieben und teilweise massakriert hatte.
Der Präsident des irakischen Kurdistan, Massoud Barzani ruft die
internationale Gemeinschaft zur raschen Intervention auf, um zu
verhindern, dass Kobani in die Hände von IS falle und damit „die gesamte
kurdische Nation“ gefährdet würde.
Während die kurdischen Kämpfer der „Schutzeinheiten des Volkes“
(YPG), des militärischen Armes der größten Partei syrischer Kurden,
„Partei der demokratischen Union“ (PYD), in und um Kobani weiterhin
heftigen Widerstand gegen die von drei Seiten heranrückenden Einheiten
des IS liefern, fanden allein innerhalb von 24 Stunden rund 60.000
Flüchtlinge in der Türkei Schutz, die nach tagelangem Zögern in einem
Streifen von 32 Kilometern die Grenze geöffnet hatte. Tausende Menschen
warten noch auf der syrischen Seite. Diese Massenflucht beweist
eindrucksvoll die beispiellose Grausamkeit des IS.
YGP hat in den vergangenen zwei Jahren wie keine andere bewaffnete
Gruppierung in Syrien dem IS militärischen Widerstand geleistet und der
kurdischen Minderheit in Nordsyrien ein für syrische Verhältnisse
erstaunliches Maß an Sicherheit und Stabilität beschert. Doch nun
reichen Kampfesmut, -erfahrung, Engagement und nicht mehr, um die
Vernichtungsgefahr abzuwehren. Denn dank der Eroberungen im Irak seit
Juni setzt IS nun Panzer, Artillerie und andere schwere Waffen ein,
gegen die die nur leicht ausgerüsteten YGP hoffnungslos unterlegen sind.
Die Schlacht um Kobani ist Teil eines langen Kampfes zwischen IS
und den Kurden Syriens in dem überwiegend von der Minderheit bewohnten
Grenzgebiet zur Türkei. Kobani, vom Assad-Regime in den arabischen Namen
Ain al-Arab (Quelle der Araber) umgetauft, hatte vor Beginn der
Rebellion 2011 mehr als 50.000 Einwohner, doch Tausende Flüchtlinge der
jahrelangen Kämpfe dürften hier inzwischen Zuflucht gefunden haben. Für
die Kurden besitzt die Stadt große symbolische Bedeutung, fand doch der
Wunsch nach Anerkennung der Grundrechte der Kurden hier besondere
Ausprägung. Als erste kurdische Stadt wurde Kobani am 19. Juli 2012 vom
Assad-Regime befreit und von hier aus konnte YPG ihre erfolgreiche
Kampagne zur Kontrolle der Kurdengebiete ausweiten und diese Region zur
stabilsten im blutigen Chaos Syriens aufbauen. Allerdings bezahlten
viele kurdische Kämpfer dafür mit ihrem Leben.
Wegen ihrer engen Verbindungen zur „Kurdischen Arbeiterpartei“,
PKK, der von der Türkei trotz eines bis heute, ungeachtet eines von
Ankara eingeleiteten Friedensprozesses als „Terrororganisation“
eingestuften Guerillaorganisation, versuchten die Türken, die
Entwicklung eines, neben dem nordirakischen Kurdistan, zweiten
autonomen Kurdengebietes zu verhindern, Blockaden, Sperre der Grenzen,
Unterstützung der Feinde der Kurden in Syrien zählen seit etwa zwei
Jahren zu den Methoden, das Überleben von „Rojava“, wie die Kurden ihre
autonome Region nennen, zu verhindern. So mag es nicht verwundern, dass
auch nun viele syrische Kurden den Verdacht hegen, Ankara habe bei der
IS-Offensive zumindest indirekt seine Hand im Spiel. Bis heute haben
sich die Türken geweigert, entschieden gegen diese Jihadis vorzugehen,
ihr Einsickern nach Syrien über türkisches Territorium zu verhindern. In
türkischen Spitälern werden IS-Verwundete behandelt und nach Berichten
von Kurden gelangten jüngst auch Waffen über die Bahnverbindung durch
Rojava zu IS.
Die Eroberung von Kobani ist für IS von enormem strategischen Wert.
Von dieser wichtigen Grenzposition aus können die Jihadis ihre
Geländegewinne in Nord-Syrien konsolidieren. Der Fall der Stadt wäre
nach Einschätzung des amerikanischen Nahostexperten Michael Rubin eine
„strategische Katastophe“, da er IS weitere Ausweitung der
Grenzkontrollen zur Türkei ermöglichen würde, über die noch mehr Waffen
und Jihadis zu der Terrororganisation gelangen könnten. Kurden der
Region befürchten, dass IS nach der Eroberung Kobanis als nächstes einen
noch größeren Preis anstrebt: die irakisch-kurdische Ölstadt Kirkuk.
Schon kursieren Berichte, dass dort lebende Araber beginnen sich den
Jihadis anzuschließen.
YPG hofft nun nach dem Vorbild von Sinjar auf westliche Hilfe, um
einen Fluchtweg von Kobani zur Kurdenstadt Hassakeh zu öffnen, und auf
die so dringend benötigten Waffen für den Bodenkampf. Bisher haben die
USA und die Europäer diesen tapferen Kämpfern inmitten einer von
islamischen Radikalismus infizierten Region wegen deren Nähe zur PKK
versagt. „Noch“, so meint Rubin, „ist es nicht zu spät“ den Fall von
Kobani zu verhindern und damit „den Verrat an der einzigen Region
Syriens, die sich eine säkulare, demokratische Zukunftsvision zu eigen
gemacht haben.“
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