Warum dieses autonome nord-irakische Gebiet entscheidende Bedeutung für die gesamte Region besitzt – und auch für den Westen
von Birgit Cerha
US-Luftangriffe auf Positionen der Terroristen des „Islamischen
Staates“ (IS) zeigen erste humanitäre Erfolge. Sie ermöglichten
kurdischen Peschmerga-Einheiten die Öffnung eines 30 km langen
Sicherheitskorridors, durch den Sonntag rund 10.000 auf dem Berg
Schingal gestrandete yezidische Flüchtlinge in die kurdischen Städte
Zakho und Dohuk in Sicherheit gebracht werden konnten. Doch nach
jüngsten Informationen harren noch fast 100.000 Flüchtlinge auf dem Berg
aus, wo ihre Überlebenschance nun durch den begonnenen Abwurf von
Nahrungsmitteln und Wassercontainern durch Amerikaner und Briten steigt.
Die Entscheidung US-Präsident Obamas zur militärischen
Intervention, um die schlimmste humanitäre Katastrophe im Nord-Irak zu
verhindern, weckt im autonomen irakischen Kurdistan neue Zuversicht.
Obama hatte Freitag klargestellt, dass die militärische Bedrohung der
Kurdenhauptstadt Erbil für ihn eine „rote Linie“ bedeute. Auch wenn er
dies mit der dortigen Präsenz amerikanischer Diplomaten, Militärberater
und anderer Bürger begründete, steht fest, dass der Schutz der von der
kurdischen Regionalregierung geführten Region für Washington
entscheidende strategische, politische und vielleicht gar moralische
Bedeutung besitzt. Fällt Kurdistan in die Hände des mörderischen IS,
droht dem gesamten Irak ein Dominoeffekt mit bedrohlichen Folgen für
Nachbarländer wie Jordanien oder gar Saudi-Arabien.
Das irakische Kurdistan ist in mehrfacher Hinsicht ein
einzigartiges Experiment. Für die Supermacht ist es der einzige Erfolg,
den der von Washington angeführte Krieg gegen Iraks Diktator Saddam
Hussein 2003 hinterlassen hat. Während der Großteil des übrigen Iraks in
Chaos und Gewalt versinkt, der angestrebte Weg zu Demokratie und
Stabilität durch Korruption, Misswirtschaft und einen despotischen
Führer (Premier Maliki) blockiert und das Land durch gewaltsame
Konflikte zwischen den Bevölkerungsgruppen erneut zerrissen wird, gelang
es den Kurden, eine Oase der Ruhe und ein demokratisches System
aufzubauen. Es entwickelte sich zwar nicht zu dem vom Initiator des
Irak-Krieges 2003, US-Präsident Bush, verheißenen Leuchtfeuer der
Demokratie in einer von Despoten beherrschten Region, zeigt noch
gravierende Schwächen, aber dennoch hoffnungsvolle Errungenschaften.
Tatsächlich ist Kurdistan ein Hort von Freiheit und Toleranz in einer
von barbarischer Gewalt zunehmend bedrohten Region. Die Fakten sprechen
für sich: Rund eineinhalb Millionen Flüchtlinge, überwiegend
Minderheiten (arabische Sunniten, Christen verschiedener Konfessionen,
Yeziden u.a.) aus dem Irak, aber auch aus Syrien finden in Kurdistan, wo
religiöse und ethnische Diskriminierung verpönt ist, den einzig
sicheren Hafen. Allein an die 500.000 fanden hier seit der Eroberung
Mosuls durch IS im Juni Schutz.
Jahrzehntelang haben die Kurden für ihr Streben nach
Selbstverwaltung gigantische Opfer gebracht, verfolgt, in Massen
ermordet, vergast, ihrer Existenzbasis beraubt. 2003 gelang es ihnen mit
US- Hilfe ihre tragische Geschichte zu überwinden und zum wichtigsten
militärischen Partner der Amerikaner und politischen Akteur im neuen
irakischen Staat aufzusteigen, der friedlichen Koexistenz verpflichtet,
zugleich aber ängstlich auf ihre schmerzhaft errungenen Rechte bedacht
und sich stets der Gefahren bewusst, die ihr durch eine starke arabische
Regierung in Bagdad erneut drohen könnten. Sie spielten eine
entscheidende Rolle bei dem von den USA gelenkten Aufbau einer
Übergangsführung in Bagdad, die alle Bevölkerungsgruppen, insbesondere
die später so schwer diskriminierten arabischen Sunniten einschloß.
Zugleich gelang es ihnen dank der 17-prozentigen nationalen Ölerträge,
die Bagdad aus der Staatskasse bis Anfang 2014 überwies, Kurdistan zu
einer wirtschaftlich blühenden Region aufzubauen, mit zwei
internationalen Flughäfen unzähligen Luxushotels und Einkaufszentren.
Liberale Wirtschaftsgesetze , Stabilität und Sicherheit lockten
ausländische Investoren an. Heute sind mehr als 27.000 ausländische
Firmen in Kurdistan registriert, dreimal mehr als im unruhigen Rest des
Iraks, darunter internationale Ölkonzerne, die sich durch das
Erschließen neuer Ölquellen das große Geschäft erwarten.
Auch 27 ausländische Repräsentanzen sind heute in Erbil
stationiert. Mehr und mehr entwickelte Kurdistan in den vergangenen
Jahren seine eigene außenpolitische Linie, offen nach allen Seiten, doch
stets ein verlässlicher Partner des Westens und enger Freund der
Amerikaner. Während Washington in Bagdad mit einem Regierungschef
zurechtkommen muss, der dem iranischen Nachbarn ergeben ist und dessen
strategischen Interessen – etwa im Falle Syriens – dient, beugt sich die
Führung Kurdistans stets weitgehend amerikanischen Wünschen – und dies
selbst in der entscheidenden Frage der nationalen Unabhängigkeit, die
Washington zugunsten der Einheit des Iraks entschieden ablehnt. So
unterhalten die Amerikaner nun in Erbil ihren wichtigsten diplomatischen
und militärischen Stützpunkt. Mit ihm würden sie den noch verbliebenen
Einfluss im Irak und damit in einem wichtigen Teil dieser strategisch so
bedeutenden Region verlieren.
Und der so unerwartete Vormarsch des IS auf Kurdistan hat Iraks
Kurden nach einem Jahrzehnt gigantischen ökonomischen Aufschwungs, des
Lebens in unverhofftem Wohlstand und Selbstzufriedenheit ihre
schmerzliche Verwundbarkeit und Einsamkeit in einer Region vor Augen
geführt, in der sie nie wahre Freunde und Partner fanden.
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