Warum weicht Iraks stärkste Streitkraft, die kurdische
Peschmerga-Einheit, fast kampflos zurück, während die Jihadis dem
florierenden Autonomiegebiet immer näher rücken?
Fast 2000 Jahre haben Christen im Gebiet der nordirakischen Stadt
Karakosch gelebt. In der Nacht auf Donnerstag verließen alle,
Zehntausende, in Todesangst ihre Häuser und suchten Schutz vor den
heranrückenden Terroristen des „Islamischen Staates“ (IS) im
nahegelegenen autonomen Kurdistan. Auch aus den Nachbarsiedlungen Tal
Kayf, Bartella und Karamlesch flüchteten die christlichen Bewohner vor
den Jihiadis, die Terror und blutige Barbarei auf eine selbst in dieser
von Gewalt gezeichneten Region ungekannte Stufe treiben. Mindestens 500
Angehörige der alten kurdischen Religionsgemeinschaft der Yeziden,
darunter Dutzende Kinder, starben in den vergangenen Tagen auf der
Flucht vor sunnitischen IS, die auf ihrem Vormarsch alle Andersgläubigen
verjagt oder tötet. Die rund 50.000 Yeziden, die am 3. Und 4. August
aus ihrem Zentrum Sindschar in die Berge Kurdistans flüchteten, haben
nur die Wahl, an Durst und Hunger zu sterben (erste Lebensmittelpakete, von
Helikoptern Bagdads abgeworfen, zerschellten in großem Umfang auf dem
felsigen Boden)oder von den Schergen der IS zermartert zu werden. Die
Guerillas der türkisch-kurdischen PKK, die seit vielen Jahren im
nahegelegenen nord-irakischen Kandilgebirge stationiert sind, haben
begonnen, den Verzweifelten durch dieses unwegsame Terrain zu Hilfe zu
eilen – ein Unterfangen, das aber noch Tage dauern wird, während die
Zahl der Hilfsbedürftigen und wohl auch der Sterbenden täglich
anschwillt.
Seit IS Anfang Juni Mosul, Iraks zweitgrößte Stadt, eroberte,
nachdem die Regierungstruppen fast kampflos ihre Positionen geräumt
hatten, bezogen die kurdischen Peschmerga-Truppen Positionen der
flüchtenden irakischen Soldaten in den von Kurden, Arabern, Christen,
Muslimen und Yeziden bewohnten, von Bagdad, wie von der autonomen
„Regionalregierung Kurdistans“ (KRG) beanspruchten Gebieten. Doch sie
vermieden die direkte militärische Auseinandersetzung mit IS, der sich
Bagdad – verbal – zu seinem Hauptziel erkoren hatte. Doch der Kampf um
Iraks von schiitischen Milizen mit iranischer Unterstützung verteidigte
Hauptstadt erschien den Jihadis offenbar als zu gefährlich. Die jüngsten
Offensiven im Norden lassen deshalb einen Strategiewechsel erkennen.
Hauptziel ist nun Konsolidierung der Eroberungen im
nordwestirakisch-syrischen Grenzgebiet, die Vertreibung von
Minderheiten, die Kontrolle von Ölfeldern, Wasserressourcen, wichtigen
Infrastruktureinrichtungen, um sich damit nicht nur reiche Finanzquellen
zu sichern, sondern den Druck auf die Führung in Bagdad, insbesondere
den verhassten amtierenden Premier Maliki ins Unerträgliche zu steigern,
die Hauptstadt mehr und mehr zu isolieren. Die Kontrolle über den
größten Staudamm des Landes bei Mosul, dessen Ufer IS-Kämpfer bereits
erreicht haben, birgt gigantische Gefahren für Millionen von Iraker.
Dass IS Wasser als Waffe einsetzt, hat er bereits vor Monaten in der von
ihr nun beherrschten Stadt Falludscha, deren umliegende Gebiete sie als
Verteidigungstaktik überflutete.
Die jüngsten Offensiven dienten vor allem auch der Verstärkung der
Integration der irakischen und syrischen Hälften des von IS-Chef
al-Baghdadi im Juni ausgerufenen „Kalifats“. Dass ein weiterer
Vormarsch in die von Peschmergas kontrollierten „umstrittenen Gebiete“,
insbesondere die Ölregion Kirkuk geplant ist, gab ein IS-Sprecher
deutlich zu verstehen: „Die IS-Brigaden haben jetzt das Grenzdreieck
zwischen Irak, Syrien und der Türkei erreicht. Möge Gott, der
Allmächtige seinen Mudschaheddin die Befreiung der ganzen Region
ermöglichen.“ Schon steht IS nahe an Dohuk, einer der drei KRG-Provinzen
und Präsident Massoud Barzani befahl seinen Peschmerga, die
„Terroristen bis zum letzten Atemzug“ zu bekämpfen. Seit Tagen kündigen
Offiziere der 190.000 Mann starken Kurdenarmee die unmittelbar
bevorstehende Gegenoffensive , beginnend mit der Rückeroberung von
Sindschar an. Kämpfer der „Demokratischen Unionspartei“ (PYD), der
stärksten Kurdenpartei in Syrien versprachen den Peschmerga gemeinsam
mit der in Kandil stationierten PKK aktive Unterstützung. PYD hat in
den vergangenen Monaten in Syrien bei heftigen Gefechten gegen IS
wichtige Kampferfahrung gesammelt und kam den bedrängten Peschmergas
vergangenen Montag trotz gravierender politischer
Meinungsverschiedenheiten in Sindschar zu Hilfe.
Yeziden, Christen, aber auch viele Kurden verfolgen schockiert die
Hilflosigkeit der Peschmerga, die in Sindschar nach längeren Kämpfen,
in Karakosch sogar kampflos die Minderheiten ihrem Schicksal überließen.
Dabei setzten viele, nicht nur Kurden, auch arabische Iraker alle
Hoffnung in diese durch jahrzehntelangen Krieg gegen die Diktatoren in
Bagdad gestählten, mutigen Helden des Widerstandes. Sie gelten als
Bollwerk gegen die blutrünstigen Terroristen. Seit dem Sturz von
Diktator Saddam Hussein 2003 haben die hochmotivierten Peschmerga
Kurdistan Sicherheit beschert und damit wirtschaftlichen Aufschwung und
ungeahnten Wohlstand ermöglicht. Heute beherbergt Kurdistan mehr als
eine Million Flüchtlinge, überwiegend aus dem südlichen Landesteil.
Engste militärische Verbündete der USA im Krieg gegen Saddam, erwiesen
sie sich als verlässliche und feurige Kämpfer. Bis zum Abzug der
US-Truppen 2011 verlor kein einziger US-Soldat in Kurdistan sein Leben.
Einst im Nord-Irak stationierte US-Offiziere sind voll des Lobes und der
Bewunderung für diese mutigen Kämpfer.
Mehrere Faktoren könnten eine schwindende Verteidigungskraft dieser
stolzen Soldaten erklären. Als sie nach der Eroberung Mosuls durch IS
im Juni die Positionen der Regierungstruppen in den „umstrittenen
Gebieten“ übernahmen, vergrößerte sich das von ihnen zu verteidigende
Territorium um 40 Prozent, mit einer Grenze von mehr als tausend
Kilometern. Nach Einschätzung von Experten sind die Peschmerga damit
militärisch überfordert und zugleich den Jihadis, die in den vergangenen
Monaten aus irakischen Kasernen modernstes, von den USA geliefertes
Kriegsgerät erobert hatten, waffentechnisch weit unterlegen. Zudem fehlt
es gravierend an Munition, offenbar der Hauptgrund für den Rückzug aus
Sindschar. Seit 2003 konnten die Kurden neue Waffen nur auf dem
Schwarzmarkt erwerben. Maliki verweigerte ihnen auch nur die kleinste
militärische Aufrüstung.
Ein eindringlicher Appell Barzanis, der im Juli eine
Sonderdelegation nach Washington entsandte, die Peschmerga für den Kampf
gegen IS mit modernen Waffen und Muntion auszustatten, stieß auf taube
Ohren. Präsident Obama sieht durch direkte Waffenlieferungen an die
Kurden deren Unabhängigkeitsbestreben gestärkt. Die Einheit des Iraks
ist absolute Priorität seiner Amtszeit. Dass diese durch den Vormarsch
der barbarischen IS weit mehr gefährdet ist als durch ein
pro-westliches, amerikafreundliches und konziliantes Kurdistan ist bis
in die höchste US-Staatsspitze nicht durchgedrungen. Nun sollen die
Kurden nur in Absprache mit Bagdad zunächst einmal einige Raketen
erhalten. Vorrang hat in Washington eine politische Lösung, die Bildung
einer neuen Regierung unter einem neuen Premier und Einbezug der unter
Maliki schwer diskriminierten arabischen Sunniten. Darin sehen die USA
die wichtigste Strategie zum Kampf gegen IS, die auf diese Weise die
Unterstützung der lokalen sunnitischen Bevölkerung verlieren würde.
Zugleich übt Washington Druck aus auf seine europäischen Verbündeten,
sich dieser Politik anzuschließen. Schon gab auch Berlin zu verstehen,
dass die Kurden nicht auf deutsche Waffenlieferungen hoffen dürfen. Die
Lösung könne nur politisch sein. Doch dies ist im besten Fall ein
langwieriger Prozess. So lässt Washington seine besten und treuesten
Freunde im Mittleren Osten im Stich. Die Zeit aber drängt. Je mehr IS
seine Positionen konsolidieren, ja mehr Geländegewinne er erzielen und
vielleicht sogar ins autonome Kurdistan eindringen kann, desto tiefer
stürzt das Land in ein Chaos, das fanatischen Jihadis aus aller Welt
Zuflucht und Stützpunkt für die Verbreitung von Blut und Terror
verschaffen kann.
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