Tausenden turkmenischen Schiiten in der von IS belagerten nordostirakischen Kleinstadt droht ein Massaker
von Birgit Cerha
Während
sich am Wochenende nach einem blutigen Überfall bewaffneter Schiiten
auf eine sunnitische Moschee in der irakischen Provinz Diyala die
Spirale der Gewalt durch Racheaktionen in verschiedenen Landesteilen
immer schneller drehte, appellierte der UN-Sonderbeauftragte für den
Irak, Nickolay Mladenov an die internationale Gemeinschaft, der vom Tode
bedrohten Zivilbevölkerung im nordostirakischen Amerli sofort zu Hilfe
zu eilen. In dieser überwiegend von schiitischen Turkmenen bewohnten
Kleinstadt ereignet sich eine humanitäre Tragödie. Ein Arzt der Stadt
spricht von „unsagbarem Leid“, einem Schicksal, das jenem der Yeziden in
Sindschar gleichen könnte. Doch während Massaker an Yeziden, drohender
Hungertod die USA zur humanitären Intervention bewogen hatten, macht die Pein von Amerli in der Weltöffentlichkeit keine Schlagzeilen.
Bis zu 20.000 Menschen, darunter mehr als
7.000 Kinder, kämpfen nach mehr als 70-tägiger Belagerung mit dem Tod
durch Hunger, Durst oder Krankheiten, für deren Behandlung es keine
Medikamente mehr gibt.
Nachdem Terroristen des „Islamischen Staates“ (IS)
am 20 Juni Mosul erobert hatten, begannen sie, von schiitischen
Turkmenen bewohnte Dörfer in der Region zu stürmen. Nur Amerli, im
Nordosten gelegen, hielt als letzte Bastion von 31 schiitischen Dörfern
stand, doch vollends vom Feind umringt, ohne Fluchtweg nach Süden oder
in den kurdischen Norden. Seit 17.
Juli ist die Kleinstadt von IS belagert und täglichen Raketenangriffen
ausgesetzt. Mindestens sechs Offensiven der IS wurden von rund 400 nur
mit Kalaschnikows bewaffneten Bewohnern – lokalen Polizisten und
Freiwilligen – abgewehrt, darunter auch im letzten Moment eine
24-stündige Attacke am 3. August.
Schockierende
Berichte dringen aus Amerli. Am 22. Juli, inmitten der brütenden
Sommerhitze, begann IS die Wasser und Stromversorgung zu blockieren. Die
Bewohner können sich nur noch aus Brunnen mit salzigem und unsauberem
Wasser versorgen. Alte, Kranke und Kleinkinder erkrankten und einige
starben bereits. Unterdessen sind die Nahrungsmittelreserven
aufgebraucht, ebenso die Medikamente. Ein Helikopter der irakischen
Streitkräfte bringt zweimal pro Woche Nahrungsmittel, nicht mehr als ein
halbes Kilo pro Familie. Das reicht nicht. Manche Familien essen nur
jeden dritten Tag. Doch die Flüge über von IS-kontrolliertes Gebiet sind
noch gefährlicher als der riskante Einsatz für die Yeziden auf dem
Sindschar-Berg gewesen war. Die kleine Landezone liegt nur eineinhalb
Kilometer von IS-Positionen entfernt. Die Helikopter werden regelmäßig
mit Raketen attackiert.
Iraks
höchster schiitischer Geistlicher, Großayatollah Sistani, rief
eindringlich zur Hilfe für die Glaubensbrüder in Amerli auf. Die
irakische Luftwaffe bombardierte mehrmals von IS besetzte Dörfer, in der
Hoffnung, einen Fluchtweg freizukämpfen. Doch ohne Erfolg. Turkmenische
Milizionäre aus der nur 25 km von Amerli entfernten, von kurdischen
Peschmerga kontrollierten Stadt Tuz Khurmatu starteten am 8. August
einen Rettungsversuch, doch wurden alle massakriert, als sie mit ihrem
Kleintransporter etwa sieben Kilometer vor der Stadt an einen Panzer des
IS gestoßen waren.
Amerlis
Zivilbevölkerung sitzt in der Todesfalle. Gibt sie, durch Hunger und
Durst geschwächt, den Widerstand auf, dann ist ihr das grauenvolle
Schicksal der Nachbardörfer gewiß: Alle Bewohner werden getötet, nur die
Mädchen lässt IS für seine Kämpfer am Leben. Amerlis Turkmenen fühlen
sich von ihrer jahrzehntelangen Schutzmacht Türkei im Stich gelassen,
aber auch von den Peschmerga und der internationalen Gemeinschaft, die
den Yeziden zu Hilfe geeilt war. Dabei könnte eine gemeinsame
amerikanisch-kurdische Militäraktion, so meinen Kenner der Lage, einen
sicheren Korridor schaffen und die Eingeschlossenen vielleicht schon in
ein bis zwei Tagen retten.
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