Dem Irak droht der totale Zusammenbruch und ein endloser Krieg der Milizen
von Birgit Cerha
Bagdad
glich Donnerstag einer Geisterstadt, eine Bevölkerung in Panik nachdem
Kämpfer der Terrorgruppe ISIS (Islamischer Staat im Irak und in Syrien)
bis zu 120 km an Iraks Hauptstadt herangerückt waren und einer ihrer
Führer zur totalen Attacke auf Premier Maliki gerufen hatte, der durch
sein Missmanagement eine „historische Chance“ für sein Volk verpasst
habe. Nach der schockierend raschen Eroberung der zweitgrößten Stadt
Mosul, sowie Tikrits, der Geburtsstadt des gestürzten Diktators Saddam
Hussein, durch die im jahrzehntelangen irakischen Bürgerkrieg
kampferprobten ISIS-Extremisten steigt die Angst vor einer erneuten
humanitären Krise und dem Zusammenbruch des irakischen Staatsgefüges –
all dies in einer ohnedies schon durch blutige Turbulenzen zerrissenen
Region. Erfolge der irakischen Armee – die Donnerstag gemeldete
Rückeroberung Tikrits, die Tatsache, dass ISIS die Sunniten-Stadt
Samarra ebensowenig erobern konnte, wie der größten Ölraffinerie des
Landes in Baidschi weckt Hoffnung, dass sich das Blatt doch noch gegen
die Terroristen wenden könnte. Auch die große nord-irakische Ölstadt
Kirkuk ist nun voll unter Kontrolle der kurdischen Peschmergas, die
Positionen der geflüchteten irakischen Armee übernommen hatten.
Der
rasante militärische Erfolg der wenige tausend Kämpfer zählenden ISIS
gegen die irakischen Sicherheitskräfte wirft Fragen von entscheidender
Bedeutung für die Zukunft des Landes auf. Was geschah mit der irakischen
Armee? Welche Strategie und welche Ziele verfolgt ISIS? Wie reagieren
die irakischen Behörden?
Der
plötzliche Zusammenbruch der Mosul verteidigenden Einheiten des
irakischen Militärs, der den raschen Sieg der sunnitischen ISIS
ermöglichte, erinnert an den von den USA geführten Krieg gegen Diktator
Saddam Hussein 2003, als dessen Streitkräfte in kürzester Zeit
auseinanderfielen. Saddams Armeen waren jedoch mit veralteten Waffen
ausgerüstet und von zwei katastrophalen Kriegen (gegen Iran und Kuwait)
empfindlich geschwächt und demoralisiert. Maliki hingegen erhielt
modernste amerikanische Waffen und die USA unterstützten den Aufbau
einer neuen irakischen Armee, die das Rückgrat eines modernen Staates
bilden sollten, mit jahrelangem Training und geschätzten 16 Mrd. Dollar.
Doch auch die Streitkräfte des neuen Iraks sind von zehnjährigem
Bürgerkrieg erschöpft, insbesondere aber fehlt ihnen der Zusammenhalt.
In Mosul stationierte Militärs berichten von totaler Verwirrung unter
den Soldaten, widersprüchlichen Befehlen und Weigerung, diese zu
befolgen. Dies habe rasch zu einem psychologischen Zusammenbruch unter
den geschätzten 65.000 Sicherheitskräften geführt, die die Stadt gegen
etwa 3000 ISIS-Angreifer verteidigen sollten.
Experten
klagen über fundamentale Fehler in Planung, Führung und Training der
Streitkräfte. Insbesondere aber habe die politische Strategie, die der
Schiit Maliki seit seiner Machtübernahme 2006 verfolgt, die Förderung
seiner schiitischen Glaubensbrüder im Machtapparat und in den
Streitkräften bei gleichzeitiger gravierender Diskriminierung der
arabischen Sunniten den Aufbau einer schlagkräftigen nationalen
Streitkraft blockiert. Zudem ist auch das Militär, wie andere staatliche
Institutionen, zutiefst korrupt.
Ob
ISIS, deren Endziel die Errichtung eines Kalifats vom Irak bis nach
Nord-Afrika ist, tatsächlich eine Attacke auf Bagdad wagt, erscheint
jedoch höchst zweifelhaft. Ihre bisherigen militärischen Erfolge in den
Sunnitenregionen des Iraks dürfte die Terrorgruppe auch einer starken
Unterstützung der durch Malikis Politik zutiefst frustrierten lokalen
Stämme verdanken. In Bagdad hingegen dominieren die Schiiten mit
diversen, allerdings miteinander rivalisierenden Milizen. Diese haben
sich schon in der Vergangenheit als weit effektiver erwiesen als die
Regierungsstreitkräfte. So drohen
nun Führer des schiitischen Establishments mit einem „Krieg der
Milizen“, der Gründung neuer „Friedensbrigaden“ gegen die sunnitischen
Terroristen. Und Maliki verkündet die Bewaffnung all jener, die bereit
seien gegen die Terroristen zu kämpfen, de facto den Aufbau einer
„Parallel-Streitkraft“. Damit droht dem Land ein vielleicht viele Jahre
tobender Krieg sunnitischer und schiitischer Milizen, der nur durch
nationale Einigkeit verhindert werden könnte. Dass die politischen
Führer die schwerste Krise des neuen Iraks nicht zur Überwindung ihrer
das Land seit Jahren lähmenden Konflikte zwingen dürfte, lässt das
Versagen des Parlaments befürchten, in dieser Stunde der Not den
Ausnahmezustand zu verhängen.
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