Der Aufstieg des „unsichtbaren Scheichs“ zum weltweit mächtigsten
Jihadiführer, der die Gestalt des Iraks und der Levante radikal
verändern könnte
von Birgit Cerha
[Bild: Dieses Foto wurde im Frühjahr 2014 von der irakischen Regierung veröffentlicht]
Schon nennen manche ihn den „neuen Bin Laden“, den so lange
gefürchteten, von den USA verfolgten und schließlich spektakuläre
getöteten Chef des Al-Kaida Netzwerkes. Die rasanten Geländegewinne
seiner Jihadi-Organisation „Islamischer Staat im Irak und in Syrien“
(ISIS) im Irak haben Abu Bakr al-Baghdadis Ziel der Errichtung eines
islamischen Kalifats in Syrien und im Irak aus dem Reich der Illusion
gehoben. Mit nicht mehr als geschätzten 10.000 Kämpfern gelang es
Baghdadi ein Gebiet von Tausenden Quadratkilometern, das sich vom
Ostrand der größten syrischen Stadt Aleppo in den West- und Zentralirak
erstreckt und immer näher an die Hauptstadt Bagdad heranrückt, zu
kontrollieren.
Wenig ist über diesen Mann bekannt, auf den die USA schon vor
einiger Zeit ein Kopfgeld von zehn Mio. Dollar gesetzt haben. Baghdadi
umgibt sich mit dem Schleier des Geheimnisvollen. Nach Berichten von
Jihadis trägt er eine Maske selbst wenn er zu seinen Kommandanten
spricht. Anhänger nennen ihn deshalb den „unsichtbaren Scheich“. Die
wenigen Informationen, die über diesen Mann, der sich den Kampfnamen
Baghdadi gegeben hat, bisher an die Öffentlichkeit drangen, stammen aus
einer kurzen biographischen Zusammenfassung, die im Juli 2013 auf
Online-Jihadi-Plattformen erschienen. So soll Baghdadi, auch Abu Duaa
genannt, 1971 im irakischen Samarra in eine tief religiöse sunnitische
Familie geboren worden sein und an der Islamischen Universität von
Bagdad ein Doktorat in Bildungswissenschaft erworben haben. Sein wahrer
Name soll Awwad Ibrahim Ali al-Badri al-Samarrai sein. Nach einigen
Berichten wirkte er zur Zeit der US-Invasion 2003 als Geistlicher in der
Provinz Diyala, nordöstlich von Bagdad, andere Quellen behaupten, er
sei bereits in der Zeit des Diktators Saddam Hussein als militanter
Jihadi aktiv gewesen. Schließlich soll er von den Amerikanern vier
Jahre lang in einem von US-Militärs geführten Gefängnis für Al-Kaida
Kommandanten festgehalten und radikalisiert worden sein.
2010, als die sunnitische Terrorgruppe „Al-Kaida im Irak“ (AKI)
nach massiven US-Offensiven in Kooperation mit den einflussreichen
sunnitischen Stämmen beinahe zerschlagen, deren Führer getötet worden
waren, übernahm Baghdadi die Führung der noch verbliebenen Zellen. Im
Machtvakuum, das sich durch den Abzug der US-Truppen 2011 geöffnet
hatte, gelang es ihm, AKI in kaum mehr als einem Jahr zu einer erneut
schlagkräftigen, von Fanatismus und Disziplin geprägten Organisation
aufzubauen. Dabei dürften jedoch ehemalige Armee- und
Geheimdienstoffiziere Saddam Husseins eine entscheidende Rolle gespielt
haben. „AKI“, auch „Islamischer Staat im Irak“ genannt war
verantwortlich für eine Kette von Bombenattentaten, den Mord zahlreicher
prominenter Sunniten, sowie zahlloser schiitischer Zivilisten.
Baghdadi gelang es, insbesondere als 2011 in Syrien der Aufstand
gegen das Assad-Regime begann, zahlreiche ausländische Jihadis für seine
Bewegung und den Kampf in Syrien mit dem Endziel eines weltweiten
islamischen Staates zu rekrutieren. In den Gebieten, die er unter seine
Kontrolle brachte versuchte er – wie nun in Iraks zweitgrößter Stadt
Mosul, von wo erste Berichte über Massenexekutionen an die
Öffentlichkeit dringen – mit hemmungsloser Brutalität den Menschen einen
islamischen Terrorstaat aufzuzwingen. Baghdadis grausame
Skrupellosigkeit führte zu blutigen Konflikten mit der mit ihm
verbündeten syrischen Nusra, die sich einer Fusion mit AKI zur ISIS
widersetzte. Schließlich wandte sich selbst Al-Kaida Chef Zawaheri offen
gegen Baghdadi, der aber dessen Aufforderung zum Rückzug von ISIS aus
Syrien ignorierte. Die militärischen Erfolge in Syrien, vor allem aber
nun im Irak bedeuten einen beträchtlichen Prestigeverlust Zawaheris
unter den internationalen Jihadis.
Ungeachtet seines Rufs als gnadenloser Gewalttäter, gelang es
Baghdadi unter den durch die sie schwer diskriminierende Politik des
schiitischen Premiers Maliki zutiefst frustrierten arabischen Sunniten
des Iraks eine wachsende Schar von Anhängern zu finden, deren Hauptziel
es ist, sich der Herrschaft der Schiiten zu entledigen. ISIS entwickelte
in den vergangenen Monaten die Fähigkeit, diverse militante Operationen
– Selbstmordattentate, Attacken auf staatliche Sicherheitskräfte – in
mehreren irakischen Regionen gleichzeitig durchzuführen und damit die
Armee schwer zu demoralisieren. Diese Strategie erwies sich nicht
zuletzt dank beträchtlicher materieller Ressourcen als erfolgreich. In
Syrien, wo ISIS weiterhin wichtige Stützpunkte unterhält, eroberten
Baghdadis Männer im Februar von Nusra das Conoco Gasfeld bei Deir El
Zor, das Hunderttausende Dollar in der Woche einbringen soll. Geld
fließt auch von reichen Saudis und kuwaitischen Oligarchen. Zudem
verfügt Baghdadi in Mosul über ein dichtes Erpressungsnetz, das schon
auf die Zeit vor dem US-Abzug zurückgeht. „Schutzgelder“ nennen die
Terroristen dies euphemistisch, die zu zahlen sind, damit Geschäfte,
Firmen, Büros, Lkws, Wohnungen von Reichen nicht in die Luft gesprengt
werden. Raubüberfälle auf Juweliergeschäfte und Banken zählen ebenfalls
zu höchst lukrativen Geldbeschaffungsaktionen. Nun soll ISIS eine halbe
Mrd. Dollar aus der Staatsbank von Mosul geplündert haben, die Baghdadi
zur Rekrutierung neuer Jihadis für die angedrohte Verschärfung des
Kampfes, aber auch zum Aufbau sozialer Netzwerke in den von ihnen
kontrollierten Regionen verwenden kann. Denn, das hat der ISIS-Chef
ungeachtet seines schockierenden Radikalismus begriffen: Ohne
Unterstützung der sunnitischen Bevölkerung können seine militärischen
Erfolge im Irak nicht dauerhaft bleiben.
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