Massenprozess wurde zur Farce und steigert die Ängste vor
einer noch brutaleren Diktatur
Familienangehörige der Verurteilten brachen vor dem Gericht im
oberägyptischen Minya zusammen, Sympathisanten, liberale Kreise und Menschenrechtsaktivisten
reagierten geschockt, als Richter Said Youssef Sabri 529 Mal wegen Gewalt,
Vandalismus gegen Staatsbesitz und Mord an einem Polizisten das Todesurteil
verkündete. 16 der angeklagten Anhänger des im Juli 2013 gestürzten Präsidenten
Mohammed Mursi erhielten Freisprüche, rund 380 wurden in absentia verurteilt. „Eine
Katastrophe“, ein „Skandal für Ägypten“, „Justizirrtum“ lauten empörte Reaktionen von Menschenrechtsaktivisten.
Die Angeklagten waren im August 2013 bei Gewaltausbrüchen in
Minya nach der der blutigen Räumung der Protestlager der Anhänger Mursis in
Kairo festgenommen worden. 1.400 Menschen waren dabei ums Leben gekommen.
Der Richter fällt nach nur zwei Gerichtsverhandlungen sein
Urteil ohne Beweisführung und ohne Zeugenbefragung. Die Verteidiger hatten
keine Möglichkeit, Hunderte Seiten der Anklageschriften überhaupt zu
studieren. Nach Ansicht von
Rechtsexperten wurde die ägyptische Prozessordnung schwer verletzt. Den
Verurteilten steht das Recht auf Berufung zu und die Todesurteile müssen nach
ägyptischer Tradition von der höchsten religiösen Instanz, dem Grossmufti,
gebilligt werden.
Das Verfahren war Teil eines Massenprozesses gegen insgesamt
mehr als 1.200 Moslembrüder, darunter auch deren Geistlichen Führer Mohammed
Badie und dem Führer des politischen Flügels der unterdessen verbotenen
Massenbewegung, Saad al-Katatny. der in den nächsten Tagen fortgesetzt wird.
Das Urteil gilt als einzigartig in der jüngeren Geschichte
Ägyptens. Massenprozesse zur Einschüchterung der Bevölkerung sind am Nil
keineswegs neu. Der gestürzte Diktator Mubarak hatte u.a. mit dieser Methode
den islamistischen Terror der 1980er Jahre nicht ohne Erfolg bekämpft. Seit dem
Sturz Mursis nahm diese Form der Justiz, wie die Repression insgesamt
allerdings dramatisch zu. Mursi selbst muss sich in einem solchen, wie in
mehreren anderen Verfahren wegen zahlreicher angeblicher Verbrechen
verantworten. Neu ist jedoch das rasante Tempo des Verfahrens ohne den
geringsten Anschein von Fairness. Traditionell werden Todesurteile in Ägypten
häufig verhängt, doch in den vergangenen Jahren wurden nur wenige exekutiert.
Die weithin schockierende Gerichtsentscheidung ist Höhepunkt
einer beispiellosen Repressionswelle, durch die das vom Militär abgestützte
Übergangsregime seit seiner Machtübernahme nach Massendemonstrationen gegen
Mursi am 3. Juli die Moslembruderschaft des gestürzten Präsidenten zu
zerschlagen hofft. Rund 16.000 Menschen – mutmaßliche Anhänger der
Bruderschaft, aber auch viele Unbeteiligte sitzen seither in Gefängnissen. Die
Repression richtet sich mehr und mehr auch gegen die Medien, gegen Kritiker im
Allgemeinen und insbesondere auch gegen liberale und säkulare Kreise, die die
Revolution gegen Mubarak geführt hatten und zunehmend das brutale Vorgehen der
neuen Führer kritisieren. In einem Brief aus dem Gefängnis klagt der
revolutionäre Aktivist Alaa Abd El Fattah: „Jeder weiß, dass die meisten
Gefangenen jung sind und dass die Repression auf eine ganze Generation zielt,
um diese einem Regime zu unterwerfen, das die tiefe Kluft zu dieser Generation
begriffen hat“ und sie nicht mit ihnen verständigen könne oder wolle.
Hinter den Kulissen kehrt die alte Garde Mubaraks wieder
zurück an die Macht. Durch die jüngste Regierungsumbildung wurden die letzten
Verbindungen, die noch zu den Aktivisten der Revolution vom 25. Januar 2011
bestanden hatten entfernt. Ägyptische Analysten, wie Michael Hanna, aber sind
überzeugt, dass nicht, wie weithin vermutet, der Coup-Führer von 2013,
Feldmarschall Al-Sisi die Zügel der Macht fest in Händen hält. Er koordiniere
keineswegs direkt die Repression. Vielmehr herrscht seiner Ansicht nach am Nil
ein Machtvakuum, das gewisse Kräfte nützen, um durch Repression ihre eigenen
Machtpositionen zu festigen.
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