Freitag, 28. Februar 2014

Die himmelschreiende Not der Palästinenser von Yarmouk

Wie beide Seiten im Syrien-Krieg erbarmungslos die Waffe Hunger gegen die wehrlose Zivilbevölkerung einesetzen
 
von Birgit Cerha
 
„Das Lexikon der Inhumanität des Menschen gegenüber seinem Mitmenschen hat ein neues Wort – Yarmouk.“ Damit bezieht sich der zutiefst erschütterte Sprecher der UN-Hilfsorganisation für die Palästinenser, UNWRA, Christopher Gunness“ in einem Beitrag im Londoner „Observer“ auf das Palästinenserlager am Rande von Damaskus. Fotos, Videos und Berichte, die aus diesem einst pulsierenden Zentrum  der palästinensischen Flüchtlingsgemeinde in Syrien dringen, sollten das Weltgewissen endlich aus einer erschreckenden Lethargie angesichts der syrischen Kriegsgräuel aufrütteln.  Yarmouk, eine Katastrophe innerhalb des syrischen Desasters, ist eine Schande für die zivilisierte Welt.
Bilder aus den 1970er Jahren drängen sich in Erinnerung, als Tausende palästinensische Flüchtlinge in ihren Elendslagern im Libanon von christlich-libanesischen Milizen, unterstützt von syrischen Besatzungstruppen, zwei Monate lang belagert und bombardiert wurden. Tel Zaatar wurde zum Symbol des Leidens hilfloser palästinensischer Flüchtlinge durch skrupellose Interessen- und Machtpolitik in kriegerischem Chaos. Wie einst in Tel Zaatar setzt das syrische Regime in Yarmouk seit Monaten, neben massiven Bombardements,  die Waffe des Aushungerns ein. Wasser- und Stromzufuhr für 18.000 Menschen wurde abgesperrt, der Zugang zu Nahrungsmitteln und Medikamente selbst für die in heftigen Bombardements und Kämpfen zwischen regierungs-freundlichen und –feindlichen Milizen Verwundeten wurde blockiert. Mütter starben bei der Geburt, Babies überlebten nur wenige Tage, weil die durch Hunger geschwächten Mütter sie nicht ernähren konnten und es keine Milch gab. Viele essen nur noch von Gras, mit Gewürzen gekochte Kräuter. Das wahre Ausmaß des Hungers, der menschlichen Tragödie in dem nach Aussagen von Eingeschossenen einer „Hölle“ gleichenden Trümmerhaufen lässt sich noch gar nicht erahnen.
Seit 18. Januar konnte UNWRA einige tausend Lebensmittelpakete in Yarmouk verteilen, nicht mehr als ein kleiner Tropfen in diesem Meer des Elends. Ein mühsam dank UN-Vermittlung errungenes Abkommen zwischen syrischen Rebellen und Regierungstruppen, das diese Überlebenshilfe ermöglichen soll, steht auf höchst wackeligen Beinen. Nach diesem Abkommen sollen alle Rebellengruppen aus dem Lager ausziehen und durch palästinensische Fraktionen ersetzt werden, die mit dem syrischen Regime verbündet sind.  Doch die Details der Übereinkunft gilt es erst auszuhandeln und die UNO muss täglich neu die Sicherheitsbedingungen für ihre Hilfslieferungen arrangieren.
Yarmouk, nach dem ersten arabisch-israelischen Krieg 1948 für Flüchtlinge aus Palästina gegründet, ist das größte der insgesamt neun Palästinenserlager in Syrien. Bis zum Ausbruch der Rebellion gegen das Assad-Regime 2011 war Yarmouk, dieser zwei km2 große südliche Vorort von Damaskus,  ein geschäftiges Zentrum, in dem rund 160.000 Palästinenser Seite an Seite mit Syrern aller Konfessionen lebten und frei auch ihre Kultur pflegten. Liebevoll nannten sie es „Klein-Palästina“. Im Gegensatz zu anderen arabischen Ländern – insbesondere Libanon und Jordanien – gewährte Syrien den palästinensischen Flüchtlingen, außer der Staatsbürgerschaft, weitgehende Rechte, Zugang zu Schulen und Universitäten und bis zu hohen öffentlichen Positionen.   Dennoch versuchten mit Ausbruch der Rebellion die meisten der rund 500.000 Palästinenser in Syrien – ausgenommen der mit dem Regime verbündeten „Volksfront für die Befreiung Palästinas-Allgemeines Kommando“ (PFLP-GC) - sich in diesem zunehmend blutigen Konflikt völlig neutral zu verhalten, so auch Yarmouk, das als „Tor zu Damaskus“ für die Rebellen von enormer strategischer Bedeutung ist. Doch zunehmend geriet Yarmouk für deren Bewohner zur Falle im Krieg zwischen Regime und Rebellen.  Während die Regierungstruppen über die PFLP-GC immer massiveren Druck auf die Palästinenser ausübten, sich voll hinter das Regime zu stellen, drängten sie die Rebellen unter Führung der „Freien Syrischen Armee“ (FSA), sich ihrem bewaffneten Kampf anzuschließen. Schließlich gelang es Ende 2012 der FSA und der mit Al-Kaida verbündeten Nusra-Front in Yarmouk einzudringen und die Bevölkerung zu terrorisieren. Um in das Lager einzudringen, setzte die FSA wahllos Sprengstoff ein, der zahllose Zivilisten tötete. Die Brutalität der Rebellen, anhaltende Kämpfe und massive Bombardements durch die Regierungstruppen trieben Zehntausende Menschen in die Flucht. Doch sobald Assads Streitkräfte den Belagerungsring um Yarmouk enger zogen, konnte niemand mehr die Flucht wagen. Wer dennoch dieser Hölle entrinnen konnte und die Flucht in eines der Nachbarländer versuchte wurde an der jordanischen und oft auch an der libanesischen Grenze erbarmungslos zurückgeschickt.  Palästinensische Flüchtlinge finden nirgendwo Schutz, denn nach jahrzehntelanger arabischer Strategie ist die Rückkehr nach Palästina ihre einzige Zukunftsoption, die Israel ihnen unter keinen Bedingungen gewährta.
Durch die Blockade hoffte das Regime, die Bevölkerung und die Rebellen zu zermürben – eine Taktik, die es auch in anderen Landesteilen anwendet.
Die Politik des Aushungers ist eine Strategie, die in diesem menschenverachtenden Krieg beide Seiten einsetzen. Andere, von der Welt weitgehend ignoriertes Beispiele sind Zahraa und Nobl, zwei schiitische Städte westliche von Aleppo mit einer Gesamtbevölkerung von 45.000.  Sie werden seit vielen Monaten von sunnitischen Rebellen belagert, die ihnen Unterstützung des Regimes vorwerfen und sich durch Hunger in die Kapitulation zwingen wollen. Die Städte sind, abgesehen von gelegentlichen Hilfslieferungen durch Regierungshelikopter vollends von der Außenwelt abgeschnitten. Das Ausmaß des Leidens der Zivilbevölkerung läßt sich nur erahnen.

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