Wie beide Seiten im Syrien-Krieg erbarmungslos die Waffe
Hunger gegen die wehrlose Zivilbevölkerung einesetzen
von Birgit Cerha
„Das Lexikon der Inhumanität des Menschen gegenüber seinem
Mitmenschen hat ein neues Wort – Yarmouk.“ Damit bezieht sich der zutiefst
erschütterte Sprecher der UN-Hilfsorganisation für die Palästinenser, UNWRA,
Christopher Gunness“ in einem Beitrag im Londoner „Observer“ auf das
Palästinenserlager am Rande von Damaskus. Fotos, Videos und Berichte, die aus
diesem einst pulsierenden Zentrum der
palästinensischen Flüchtlingsgemeinde in Syrien dringen, sollten das
Weltgewissen endlich aus einer erschreckenden Lethargie angesichts der
syrischen Kriegsgräuel aufrütteln.
Yarmouk, eine Katastrophe innerhalb des syrischen Desasters, ist eine
Schande für die zivilisierte Welt.
Bilder aus den 1970er Jahren drängen sich in Erinnerung, als
Tausende palästinensische Flüchtlinge in ihren Elendslagern im Libanon von
christlich-libanesischen Milizen, unterstützt von syrischen Besatzungstruppen,
zwei Monate lang belagert und bombardiert wurden. Tel Zaatar wurde zum Symbol
des Leidens hilfloser palästinensischer Flüchtlinge durch skrupellose
Interessen- und Machtpolitik in kriegerischem Chaos. Wie einst in Tel Zaatar
setzt das syrische Regime in Yarmouk seit Monaten, neben massiven
Bombardements, die Waffe des Aushungerns
ein. Wasser- und Stromzufuhr für 18.000 Menschen wurde abgesperrt, der Zugang
zu Nahrungsmitteln und Medikamente selbst für die in heftigen Bombardements und
Kämpfen zwischen regierungs-freundlichen und –feindlichen Milizen Verwundeten
wurde blockiert. Mütter starben bei der Geburt, Babies überlebten nur wenige
Tage, weil die durch Hunger geschwächten Mütter sie nicht ernähren konnten und
es keine Milch gab. Viele essen nur noch von Gras, mit Gewürzen gekochte
Kräuter. Das wahre Ausmaß des Hungers, der menschlichen Tragödie in dem nach
Aussagen von Eingeschossenen einer „Hölle“ gleichenden Trümmerhaufen lässt sich
noch gar nicht erahnen.
Seit 18. Januar konnte UNWRA einige tausend
Lebensmittelpakete in Yarmouk verteilen, nicht mehr als ein kleiner Tropfen in
diesem Meer des Elends. Ein mühsam dank UN-Vermittlung errungenes Abkommen
zwischen syrischen Rebellen und Regierungstruppen, das diese Überlebenshilfe
ermöglichen soll, steht auf höchst wackeligen Beinen. Nach diesem Abkommen
sollen alle Rebellengruppen aus dem Lager ausziehen und durch palästinensische
Fraktionen ersetzt werden, die mit dem syrischen Regime verbündet sind. Doch die Details der Übereinkunft gilt es
erst auszuhandeln und die UNO muss täglich neu die Sicherheitsbedingungen für
ihre Hilfslieferungen arrangieren.
Yarmouk, nach dem ersten arabisch-israelischen Krieg 1948
für Flüchtlinge aus Palästina gegründet, ist das größte der insgesamt neun
Palästinenserlager in Syrien. Bis zum Ausbruch der Rebellion gegen das
Assad-Regime 2011 war Yarmouk, dieser zwei km2 große südliche Vorort von Damaskus,
ein geschäftiges Zentrum, in dem rund
160.000 Palästinenser Seite an Seite mit Syrern aller Konfessionen lebten und
frei auch ihre Kultur pflegten. Liebevoll nannten sie es „Klein-Palästina“. Im
Gegensatz zu anderen arabischen Ländern – insbesondere Libanon und Jordanien –
gewährte Syrien den palästinensischen Flüchtlingen, außer der
Staatsbürgerschaft, weitgehende Rechte, Zugang zu Schulen und Universitäten und
bis zu hohen öffentlichen Positionen. Dennoch versuchten mit Ausbruch der Rebellion
die meisten der rund 500.000 Palästinenser in Syrien – ausgenommen der mit dem
Regime verbündeten „Volksfront für die Befreiung Palästinas-Allgemeines
Kommando“ (PFLP-GC) - sich in diesem zunehmend blutigen Konflikt völlig neutral
zu verhalten, so auch Yarmouk, das als „Tor zu Damaskus“ für die Rebellen von
enormer strategischer Bedeutung ist. Doch zunehmend geriet Yarmouk für deren
Bewohner zur Falle im Krieg zwischen Regime und Rebellen. Während die Regierungstruppen über die
PFLP-GC immer massiveren Druck auf die Palästinenser ausübten, sich voll hinter
das Regime zu stellen, drängten sie die Rebellen unter Führung der „Freien
Syrischen Armee“ (FSA), sich ihrem bewaffneten Kampf anzuschließen. Schließlich
gelang es Ende 2012 der FSA und der mit Al-Kaida verbündeten Nusra-Front in
Yarmouk einzudringen und die Bevölkerung zu terrorisieren. Um in das Lager
einzudringen, setzte die FSA wahllos Sprengstoff ein, der zahllose Zivilisten
tötete. Die Brutalität der Rebellen, anhaltende Kämpfe und massive Bombardements
durch die Regierungstruppen trieben Zehntausende Menschen in die Flucht. Doch
sobald Assads Streitkräfte den Belagerungsring um Yarmouk enger zogen, konnte
niemand mehr die Flucht wagen. Wer dennoch dieser Hölle entrinnen konnte und
die Flucht in eines der Nachbarländer versuchte wurde an der jordanischen und
oft auch an der libanesischen Grenze erbarmungslos zurückgeschickt. Palästinensische Flüchtlinge finden nirgendwo
Schutz, denn nach jahrzehntelanger arabischer Strategie ist die Rückkehr nach
Palästina ihre einzige Zukunftsoption, die Israel ihnen unter keinen
Bedingungen gewährta.
Durch die Blockade hoffte das Regime, die Bevölkerung und
die Rebellen zu zermürben – eine Taktik, die es auch in anderen Landesteilen
anwendet.
Die Politik des Aushungers ist eine Strategie, die in diesem
menschenverachtenden Krieg beide Seiten einsetzen. Andere, von der Welt
weitgehend ignoriertes Beispiele sind Zahraa und Nobl, zwei schiitische Städte
westliche von Aleppo mit einer Gesamtbevölkerung von 45.000. Sie werden seit vielen Monaten von
sunnitischen Rebellen belagert, die ihnen Unterstützung des Regimes vorwerfen
und sich durch Hunger in die Kapitulation zwingen wollen. Die Städte sind,
abgesehen von gelegentlichen Hilfslieferungen durch Regierungshelikopter
vollends von der Außenwelt abgeschnitten. Das Ausmaß des Leidens der
Zivilbevölkerung läßt sich nur erahnen.
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