Donnerstag, 30. Januar 2014

LEXIKON: Sinai – das verlorene Paradies

Hier, auf dem 2.285 Meter hohen Berg Sinai offenbarte sich Gott den Menschen. Auf Arabisch heißt er Mosesberg und gilt nach der Überlieferung als jener Platz, von dem aus Boraq, das Pferd des Propheten Mohammed, zum Himmel aufstieg. Die dreieckförmige Halbinsel Sinai besitzt religiöse Bedeutung für Christen ebenso, wie für Muslime, doch als „Tor“ zu Asien ebenso wie zu Afrika ist sie von alters her von enormem strategischen Wert für die Herrscher am Nil. Zu den frühen Bewohnern des Sinai zählten Semiten und Hamiten, die sich miteinander vermischten und schließlich noch lange vor der islamischen Eroberung im siebenten Jahrhundert von Arabern dominiert wurden.  Die Pharaonen zogen auf dem Höhepunkt ihrer Macht um 1.500 v.Chr. die Horus-Militärstraße durch den Sinai um Land im Osten zu erobern oder später konnte die ägyptische Armee über diesen Weg Rebellionen in Syrien niederschlagen. Wann immer Ägypten schwach war, benützten Invasoren, bis zu den Israelis, diesen Weg zum Nil.
Die strategische Bedeutung des Sinai als militärischer Kreuzpunkt wuchs  mit der Bedrohung an Ägyptens Grenzen, in jüngster Zeit durch die Gründung Israels, das die Halbinsel zweimal eroberte. Seit dem endgültigen Rückzug Israels 1982 gilt der Sinai für beide Staaten als eine riesige Pufferzone, deren lokaler Bevölkerung von etwas mehr als einer Million sowohl Israel als auch Ägypten bis heute als Quelle möglicher Gefahren zutiefst misstrauen.  
Die wachsenden Probleme des Sinai als riesige Region der Gesetzlosigkeit, in der nicht nur Kriminelle, sondern zunehmend auch radikale Islamisten Unterschlupf und Aktionsfreiraum gewinnen, hat komplexe Ursachen. Der Friedensvertrag von Camp David von 1979 erlegte Kairo eine gravierende Einschränkung seiner militärischen Präsenz auf dieser Halbinsel auf, die mit 61.000 km2  immerhin ein Drittel der Fläche Ägyptens ausmacht. Dies ermöglichte diversen militanten und kriminellen Gruppen einen Freiraum, der sich der Kontrolle durch die ägyptischen Sicherheitskräfte weitgehend entzog.  Hinzu kam jahrzehntelange Vernachlässigung durch die Regierungen in Kairo und so entstand ein toxisches Gemisch aus Widerstand der Lokalbevölkerung und islamistischer Militanz, das sich immer wieder blutig entlud.
In dem seit dem Sturz Präsident Mubaraks vor drei Jahren entstandenen Sicherheitsvakuum auf dem Sinai versuchen nun die mehr als 200.000 in etwa 15 Stämmen organisierten Beduinen die Kontrolle über ihre jeweiligen  Einflussbereiche zu stärken. Die Beduinen sind seit langem die am stärksten benachteiligte Bevölkerungsgruppe Ägyptens, der Sinai die ärmste Region des Landes mit völlig unterentwickelter Infrastruktur und extrem geringen Arbeitschancen. Viele Beduinen besitzen keine offiziellen Dokumente und beklagen seit langem, dass sie von jedem nationalen Entscheidungsprozess ausgeschlossen, von politischen Ämtern ebenso wie von lokaler Entwicklungsplanung und zudem seit Jahrzehnten schutzlos der erbarmungslosen Härte der staatlichen Sicherheitskräfte ausgeliefert sind. Als „Bürger zweiter Klasse“‘ an den Rand der Gesellschaft gedrängt, mussten sie voll Bitterkeit tatenlos zusehen, wie korrupte Magnaten, allen voran Mubaraks enger persönlicher Freund, der 2011 rechtzeitig vor der rächenden Justiz im revolutionären Ägypten nach Spanien geflüchtete Hussein Salem, das Land schamlos ausbeutete, indem er an den Stränden der Halbinsel unzählige höchst lukrative, luxuriöse Ferienanlagen errichtete und der lokalen Bevölkerung. Andere bauten Industriekomplexe und verwehrten der lokalen Bevölkerung nicht nur jegliche Teilnahme am Profit, sondern ließen sie bitter für die Vermehrung ihres eigenen Wohlstandes bezahlen. Der höchst einflußreiche Magnat Hassan Rateb etwa vertrieb Hunderte Beduinen von ihrem Land, um dort Industrie- und Tourismusanlagen zu errichten und speiste sie mit magerer Entschädigung ab. Diese Unternehmen leisteten nicht den geringsten Beitrag zur Entwicklung des Sinai oder zur Schaffung von Arbeitsplätzen. Höchst selten wurden Beduinen in den Ferienanlagen oder in den Fabriken angestellt.
Derart in die Perspektivlosigkeit gedrängt blieb vielen nur die Illegalität, allen voran der Schmuggel insbesondere von Waffen nach Israel und Gaza, Cannabis- und Opiumzucht, aber auch Menschenhandel. Die umfangreichen Schmuggelnetze, die sie im Laufe der Jahre über den Sinai gesponnen haben, der leichte Zugang zu modernen Waffen vor allem aus libyschen Arsenalen ziehen nun zunehmend islamistische Gewalttäter an, die hier neuen Aktionsfreiraum finden. Nach Einschätzung ägyptischer Sicherheitskräfte können die seit dem Sturz Mubaraks und insbesondere seit dem Putsch gegen dessen ersten freigewählten Nachfolger Mursi am 3. Juli 2013 in zunehmender Zahl  aus Libyen, Syrien, Afghanistan und anderen islamischen Ländern in den Sinai eindringenden kampferprobten Jihadis bei den Beduinen wertvollen Schutz und Hilfe zum Aufbau von Trainingslagern finden. Diese bleiben den Sicherheitskräften in diesem unwegsamen, wilden Gelände des Sinai so lange verborgen, als sie die Beduinen selbst ihnen nicht verraten. Ohne Zusammenarbeit mit der lokalen Bevölkerung  ist für den ägyptischen Staat der zunehmend gefährlich Krieg gegen die Jihadis verloren. Nur wenn Kairo die traditionelle Marginalisierung der Bewohner der Halbinsel beendet und den bitterarmen Beduinen durch Investitionen eine Zukunftschance bietet, kann das Regime am Nil seine so schwer diskriminierten und gequälten Bürger aus den Fängen islamistischer Radikaler befreien, die ihnen eine bessere Welt in einem großen islamischen Kalifat auf dem Boden Ägyptens verheißen und ihren Kampf zu diesem Ziel bis in das tiefe Afrika tragen wollen.

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