Mit brutalsten Methoden zwingen islamistische Extremisten Teile
Nord- und Ost-Syriens unter ihre Kontrolle als wichtigen Schritt zu einem
internationalen Ziel
von Birgit Cerha
Entführungen, willkürliche Gefangennahme, Folter und Massentötungen von Gefangenen , mit solch
schweren Menschenrechtsverletzungen zwingt die mit dem Terrornetzwerk Al-Kaida verbundene
„ISIS“ („Islamischer Staat des Iraks und
Groß-Syriens“) die von ihr in den vergangenen Monaten eroberten Regionen Nord-
und Ost-Syriens voll unter ihre
Kontrolle. In ihrem jüngsten Bericht, der sich auf Interviews aus
ISIS-Gefangenschaft geflüchteter Syrer in der Türkei stützt, prangert Amnesty
International schwerste Brutalitäten an Zivilisten, darunter auch Kindern, an,
die in einigen Fällen Kriegsverbrechen darstellen. Selbst achtjährige Kinder
werden in Geheimgefängnissen festgehalten, wiederholt ausgepeitscht und sexuell
missbraucht. Die durch die drei Jahrzehnte lange Diktatur Assads, den fast
dreijährigen Krieg gegen das Regime gequälte Zivilbevölkerung erleidet nun in
den von „ISIS“ kontrollierten Gebieten die schlimmste Pein.
„ISIS“ ist mit geschätzten acht- bis zehntausend Kämpfern keineswegs
die größte Jihadi-Gruppe, die das Assad-Regime gewaltsam zu Fall zu bringen
sucht. Aber sie ist bei weitem die brutalste und militärisch erfolgreichste.
Sie kontrolliert heute Teile Nord- und Ost-Syriens, insbesondere die Provinzhauptstadt
Rakka, deren Bevölkerung von 277.300 vor
Kriegsbeginn durch Flüchtlinge aus anderen Regionen auf vielleicht eine Million
angeschwollen ist.“ ISIS“ gelang es rivalisierende Gruppen, darunter den syrischen
Al-Kaida –Ableger „Al-Nusra, gewaltsam aus Rakka zu verjagen und verkündete im
Mai die neue Herrschaft über diese erste in Rebellenhand gefallene
Provinzhauptstadt durch öffentliche „Exekutionen“.von drei Angehörigen der
alawitischen Minderheit Assads auf dem Hauptplatz.
Durch eine
Doppelstrategie - brutale
Einschüchterung und Erzwingung von Abhängigkeit - gelang es „ISIS“ die
Autorität über die Stadt zu festigen. Sie versorgt die Bevölkerung in der Stadt und in der
umliegenden Region mit Öl und Nahrungsmitteln, betreibt eigene Bäckereien.
Zugleich begann sie rasch der Zivilbevölkerung ihre extreme Interpretation des
Islam mit brutalen Methoden und Hilfe islamischer Gerichte, die im
Schnellverfahren von mitunter einer Minute selbst Todesurteile verkünden, aufzuzwingen.
Frauen müssen „ihre Schönheit bedecken“, Tabakwaren wurden verboten und selbst
verbaler Widerstand wird brutal
unterdrückt. Nach Schätzungen des Syrien Analysten Chris Looney (veröffentlicht
im Blog „Syria Comment“) Hält „ISIS“ derzeit mindestens 1.500 Menschen in Rakka
gefangen, foltert und misshandelt sie. Hauptziele des Terrors sind Christen und
Alewiten. Bibeln wurden öffentlich verbrannt, Kirchen zerstört, Priester
entführt. Ein Großteil der christlichen Bevölkerung hat unterdessen die Stadt
in Panik verlassen.
Wiewohl sich in Rakka und an manchen anderen von „ISIS“
kontrollierten Orten syrische Jihadis dieser Gruppe angeschlossen haben,
verdankt sie ihre militärischen Erfolge nicht-syrischen Extremisten – etwa aus
Tunesien, Marokko oder den arabischen Golfstaaten, sowie dem Irak -, die in
Kriegsgebieten Afghanistans, des Iraks, des Jemen und Libyens Kampferfahrung
gesammelt hatten. „ISIS“ hat ihren
Ursprung im Widerstand des Iraks gegen die US-Besatzung (2003 bis 2011) und
machte sich durch ungeheuerliche Brutalitäten als „Al-Kaida im Irak“ einen
Namen. Zu ihren gefürchtetsten Führern
zählte der 2006 durch einen US-Militärschlag getötete jordanische Kriminelle
Abu Musrab al Zarqawi, der u.a. durch blutige Terroranschläge gegen das
UN-Hauptquartier in Bagdad, Entführungen auch von Ausländern und auf Video
festgehaltene „Exekutionen“ Angst und Schrecken verbreitete. Der heutige Führer,
der Iraker Abu Bakr al-Baghdadi, organisierte im Juli die Befreiung von
Hunderten Al-Kaida Mitgliedern und Sympathisanten aus zwei irakischen
Gefängnissen und initiierte durch deren Einsatz seine Kriegskampagne in Syrien.
Sein Versuch, seine Organisation mit al-Nusra zur „ISIS“ zu verschmelzen,
scheiterte am Widerstand der auf ihre Eigenständigkeit pochenden syrischen
Gruppe, die sich jedoch offen zu Al-Kaida-Chef Zawaheri bekennt. Trotz dieser
Rivalitäten gelangen „ISIS“ beträchtliche Geländegewinne in Syrien.
Baghdadi verfolgt mit seinem Syrienfeldzug ein kurzfristiges
und ein langfristiges Ziel. Zunächst
geht es ihm darum, sichere Stützpunkte
in Ost-Syrien aufzubauen und mit den von ihm kontrollierten Regionen des
West-Iraks zu verbinden, was teilweise bereits gelungen ist. Langfristig strebt
Baghdadi nach der Errichtung eines islamischen Kalifats vom Irak über Syrien,
bis in den Libanon und darüber hinaus. Zu diesem Zweck hat „ISIS schon in Rakka
mit „Umschulungsprozessen“ begonnen, um vor allem der heranwachsende Generation
die radikale Ideologe der Al-Kaida einzutrichtern.
Mitunter dringen aus Rakka vorsichtige Stimmen des
Widerstandes. Doch das brutale Regime der „ISIS“ sichert – zunächst? –
weitgehend Gehorsam. Selbst 14 der zuvor mächtigen und stolz auf ihre
Unabhängigkeit bedachten lokalen Stämme schworen im November „ISIS“ die Treue.
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