von Birgit Cerha
„Wir wollen eine Armee, wir wollen Polizisten“, riefen Hunderten unbewaffnete Demonstranten vor dem Gebäude der mächtigen Misrata-Miliz in Libyens Hauptstadt Tripoli. Die Antwort: fast 50 Tote und mehr als 400 Verletzte durch Schüsse aus dem Hauptquartier der Brigaden. Nach diesen schwersten Gewaltakten in Tripolis seit dem Sturz Diktator Gadafis 2011 hat die Regierung einen 48-stündigen Ausnahmezustand verhängt.
„Wir verlangen von den bewaffneten Milizen, die Hauptstadt sofort zu räumen. Das ist ein Befehl.“ Dieser verzweifelte Appell Premierminister Seidans ist dramatischer Ausdruck der Hilflosigkeit der Regierung angesichts der wachsenden Macht schwerbewaffneter Milizen, die das Land zunehmend in blutige Anarchie stürzen. Die Machtlosigkeit der staatlichen Institutionen illustrierte im Oktober die sechsstündige Entführung Seidans durch bewaffnete Brigaden. U.a. blockieren Milizen mit ihren Protesten gegen die Besetzung von Regierungsämtern durch Angehörige des Gadafi-Regimes die Arbeit des Seidan-Teams, das Libyen zu einer neuen Verfassung und anschließenden Parlamentswahlen führen soll. Seidan operiert zunehmend hilflos in einem politischen Vakuum.
Der Wüstenstaat ist durch seine Geografie und die jahrzehntelange Politik Gadafis, der die Region um Tripoli gegenüber anderen Landesteilen krass favorisierte, stark fragmentiert. Die internen Trennungslinien haben sich seit dem Übergang von dem 2011 gegründeten revolutionären „Nationalen Übergangsrat“ zum vom Volk im August 2012 gewählten „Allgemeinen Nationalrat“ drastisch verschärft.
Das Kernübel des Landes, unzählige miteinander rivalisierende und einander bekämpfende Milizen, sind ein Erbe des vom Westen unterstützten Freiheitskampfes gegen Gadafi. Libyens neuen Führen gelang es nicht, diese vom Volk als Helden gefeierten Kämpfer rasch zu entwaffnen und in die neu gegründeten Sicherheitskräfte zu integrieren. Entschlossene westliche Hilfe für dieses für den Aufbau einer neuen, stabilen politischen Ordnung entscheidende Unterfangen blieb in dem nötigen Maße aus. Die Folge: die Zahl der bewaffneten Brigaden schoss von etwa 50.000 vor zwei Jahren auf heute geschätzte 250.000 Mann in die Höhe, die Milizen kontrollieren den Großteil von Hunderten Waffenlagern Gadafis. Und die Regierung hat den wachsenden Einfluss der Milizen noch gefördert, indem sie sie einigen von ihnen Sicherheitsaufgaben in Tripoli übertrug, da die derzeit nur rudimentär vorhandene staatliche Polizei und Armee hoffnungslos überfordert sind. Erst Anfang nächsten Jahres wird ein von London, Washington, Rom und Ankara unterstütztes Trainingsprogramm für Rekruten der Streitkräfte beginnen. Das latente Machtvakuum ermöglichte es den Milizen ihre eigene Macht militärisch, politisch und ökonomisch drastisch auszubauen und die neuen Führer zu erpressen.
Analysten sehen drei mögliche Szenarien für Libyens Zukunft:
- Verschärftes Bemühen um einen Versöhnungsprozeß, in der Hoffnung, damit die Milizen zur Entwaffnung und Integration in den politischen Prozess zu bewegen; der Erfolg erscheint sehr fraglich;
- Akzeptieren des Status Quo , d.h. Weiterentwicklung der Dezentralisierung des Landes, in dem diverse Milizen einzelne Regionen beherrschen – ein Prozess, der schließlich zur Teilung des Landes führen würde, die viele Libyer energisch ablehnen.
- Aufbau einer starken nationalen Armee, die die Milizen entwaffnet. Dies würde die Milizen zu starker Aufrüstung motivieren und das Land in einen katastrophalen Krieg stürzen.
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