Von der Welt kaum beachtet, droht ein Stellvertreterkrieg
der so lange unterdrückten Minderheit eine historische Chance auf ihre
legitimen Rechte zu rauben
von Birgit Cerha
„Zu einer Zeit, da die türkische Regierung Banditengruppen unterstützt und einen Krieg gegen“ die Kurden in Syrien führe, „hat das kurdische Volk das Recht, den Kampf in die Türkei zu tragen.“ Mit dieser Drohung bezieht sich Cemil Bayik, Gründungsmitglied der „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) und deren ranghöchster Führer in Freiheit, in seinem Stützpunkt in den nordirakischen Kandil-Bergen auf einen von der Welt ignorierten Stellvertreterkrieg im nordostsyrischen Kurdengebiet. Während die PKK die Bedingungen eines im März vereinbarten Waffenstillstandes einhielte, „hat die Türkei einfach die Frontlinie im Kampf gegen die Kurden nach Syrien verlegt“. Wenn Premier Erdogan dem Friedensprozess mit den Kurden nicht konkrete Bedeutung gebe (ein Reformpaket des Regierungschefs ist nach Ansicht Bayiks bedeutungslos) und die Unterstützung islamistischer Jihadis gegen die Kurden in Syrien einstelle, werde die PKK ihre aus der Türkei abgezogenen Kämpfer wieder zurück schicken. Ein 30-jähriger Krieg, der bisher mehr als 40.000 Menschen das Leben kostete, droht erneut aufzuflammen.
Als Erdogan dem inhaftierten PKK-Führer Öcalan, auf dessen
Stimme Millionen Kurden immer noch hören, vor acht Monaten Friedensgespräche
anbot, ging es ihm keineswegs um Gerechtigkeit für die so lange massiv
unterdrückten Kurden im eigenen Land. Vielmehr hoffte er, Öcalan zu überreden,
dass er Syriens Kurden davon abhalte, dem Beispiel der Brüder im Nordirak zu
folgen und ein zweites autonomes Gebiet an der türkischen Grenze zu errichten -
ein Alptraum für die Herrscher über 20 Millionen Kurden im Reiche Atatürks, die
nichts so sehr fürchten, wie den Bazillus völkischer Selbstbestimmung. Doch
Erdogan „hat durch die Unterstützung von Rebellen (gegen Syriens Präsidenten
Assad) den Bogen überspannt“, betont der kurdische Aktivist Fehim Isik. Die
türkische Syrienpolitik gefährdet nicht nur die Chance auf Frieden mit den
Kurden im eigenen Land, sondern schürt einen Krieg in einem ohnedies schon an
Grauen kaum zu überbietenden Krieg in Syrien.
Die etwa vier Millionen Kurden Syriens stehen zwischen allen
Fronten, in ihrer Not selbst von ihren Brüdern in den Nachbarstaaten
teilweise ignoriert und gar verraten.
Dabei hatten sie, die wie ihre Leidensgenossen im Irak, Iran und in der Türkei
auch von ihrer Regierung jahrzehntelang
brutaler Repression, Verfolgung und Assimilierungsdruck als „Bürger zweiter
Klasse“, häufig auch „Staatsfeinde“, durch das Baath-REgime ausgesetzt waren,
sich in ihrem Streben nach einem Leben
in Würde und Freiheit auf friedliche politische Aktivitäten beschränkt,
zugleich aber ihre Herzen und ihre Türen weit offen gehalten für die verfolgten
Brüder aus dem Irak und der Türkei, die bei ihnen moralische und praktische
Unterstützung und Unterschlupf fanden. Der Dank hält sich in dieser Stunde der
Not in Grenzen.
Als Assad vor einem Jahr militärisch zunehmend in die Enge
getrieben, seine Sicherheitskräfte aus
der nordöstlichen Kurdenprovinz Hasakah abzog und der Minderheit
Selbstverwaltung für Neutralität im Kampf der Opposition zusagte, übernahmen die Kurden die Kontrolle über eine
Reihe von überwiegend kurdischen Städten und Dörfern. Unklar bleibt derzeit, ob
Syriens Diktator sich zu diesem Schritt entschloss, weil er die Soldaten in
kritischen Kampfgebieten benötigte, oder weil er damit die Kurden auf seine
Seite zu ziehen hoffte und zugleich die Türkei für ihre feindselige Politik
gegenüber dem Damaszener Regime bestrafen wollte. Tatsächlich waren die Kurden
für Selbstverwaltung besser gerüstet als jede andere Bevölkerungsgruppe,
inklusive der sunnitischen Mehrheit im syrischen Staat.
Die Kurden nützten diese einmalige Gelegenheit und begannen
in jenen Gebieten, in denen sie die Mehrheit der Bevölkerung stellen, kleine
Selbstverwaltungszentren aufzubauen. Am 12. September einigten sich Vertreter
der beiden größten kurdischen Dachorganisationen, des „Volksrates von
Westkurdistan“ (VRWK) und des „Kurdistan-Nationalrates“ (KNR) auf die
Errichtung einer lokalen Autonomie in Westkurdistan (wie die Kurden das
syrische Kurdengebiet nennen). Neugegründete Komitees bereiten Wahlen für ein
Parlament vor, in dem auch in der Region lebende Minderheiten, wie Araber und
Christen, vertreten sein sollen. Den Wahlen vorangehen soll ein Referendum über
eine Übergangsverfassung, die nun erarbeitet. Ein „System in einem
(gesamtsyrischen) System“ wird hier entworfen und die Kurdenvertreter betonen,
dass sie nicht nach Unabhängigkeit oder etwa Anschluss an das nordirakische
Kurdistan streben, sondern innerhalb eines demokratisch-syrischen Staatssystems
als autonom verwaltete Region verbleiben wollen. „Wir wollen auch keine föderale Struktur“,
betont Saleh Muslim, Führer der stärksten syrischen Kurdenbewegung, der
„Demokratischen Unionspartei“ (PYD). „Alles was wir wollen, ist Anerkennung
unserer politischen und kulturellen Rechte, vor allem des Rechts, uns selbst in
unserer Region zu regieren.“
Es erscheint höchst unwahrscheinlich, dass sich die Kurden
in Verhandlungen mit der syrischen Opposition über die Zukunft nach Assad mit
einer Regelung zufrieden geben, die ihnen weniger Rechte zugesteht, als sie
sich jetzt erarbeiten. Doch diese einzigartige historische Chance auf ein Leben
in Freiheit und Würde ist von innen wie von außen schwer bedroht. Die
historischen Regionalfeinde der Kurden (allen voran die Türkei, der Irak und
der Iran, sowie ein Teil der syrischen
Araber) verfolgen diese
Entwicklung mit beträchtlichem Unbehagen. Zwar räumen Bagdad wie Teheran
derzeit der Rettung des Assad-Regimes weit höhere Priorität ein als der
traditionellen Blockade kurdischer Selbstbestimmung und beide schätzen die
Position der Kurden, sich vollends aus dem Kampf um die Macht in Syrien
herauszuhalten. Denn die Kurden könnten das Gleichgewicht der Kräfte in diesem
Krieg stark zugunsten der Rebellen verschieben.
Anders Ankara, wo kurdischer Aktivismus, egal wo, unter
keinen Umständen toleriert wird. Und dies schon gar nicht, wenn die PKK, wie in
Nordsyrien, ihre Hand im Spiel hat. Immerhin hatten sich die Türken seit 29
Jahren vergeblich bemüht, die PKK zu vernichten. So löst es in Ankara tiefe
Beunruhigung aus, dass es der PYD, der populärsten Kurdenbewegung Syriens, im
Nordosten gelang, eine Art Hegemonie aufzubauen und mit wenig zimperlichen
Methoden andere kurdische Gruppierungen an den Rand zu drängen. PYD nämlich ist
ein Ableger der PKK und wird auch aus der Ferne von Bayik dirigiert. Die von
ihr gegründete Volksverteidigungs-Miliz „YGP“, verhält sich im Syrienkrieg
strikt neutral und konzentriert sich auf den Schutz der kurdischen
Zivilbevölkerung, sowie auf die Stärkung der Hegemonie der PYD. Dabei wird sie
insbesondere von islamistischen Rebellen, aber auch von Regierungstruppen immer
wieder in Kämpfe verwickelt. Diese gewaltsame Auseinandersetzung mit Jihadis, die
das Kurdengebiet unter ihre Kontrolle zu zwingen versuchen, eskalierte in den
vergangenen Wochen. Immer mehr extreme Islamisten, insbesondere Kämpfer der
Al-Kaida-Gruppen ISIS (Islamischer Staat des Iraks und al-Sham, i.e.
Großsyriens) sowie Al-Nusra, dringen von der Türkei nach Norsyrien vor und versuchen
der Bevölkerung insbesondere der arabischen Minderheit, dort ihre
radikal-islamischen Regeln aufzuzwingen. Damit ist ein Stillhalteabkommen
zwischen den Kurden und den Jihadis zusammengebrochen, insbesondere seit diese salafistischen Gruppen mit menschenverachtender
Brutalität auch Zivilisten terrorisieren. Seit vielen Wochen toben in Teilen des
Kurdengebietes heftige Kämpfe zwischen ISIS, Al-Nusra auf der einen und
YGP-Kämpfern, die sich tapfer schlagen und das Kurdengebiet gegenüber den
Eindringlingen verteidigen, auf der anderen Seite.
Aus Sorge, PYD könnte ihre Macht im Nordosten Syriens weiter
konsolidieren, zettelte ERdogen einen „Krieg im Krieg“ an. Trotz offizieller
türkischer Dementis steht fest, dass Ankara systematisch Rebellen von ISIS und Al-Nusra für den Kampöf
nicht nur gegen Assad, sondern vor allem gegen PYD unterstützt. Kurdische
Bewohner der türkischen Grenzregion berichteten gegenüber dem kurdischen
Nachrichtenportal „Rudaw“, dass ISIS und Al-Nusra von Stützpunkten auf der
türkischen Seite der Grenze den Krieg nicht nur gegen Assads Streitkräfte,
sondern zunehmend auch gegen die Kurden in Syrien dirigieren. Sie steckten mit
islamistischen Parteien der Türkei unter einer Decke und heuerten kampfwillige
junge Männer an, die sie mit Wissen der türkischen Behörden nach Syrien
schickten. Der Gouverneur der südosttürkischen Grenzprovinz Gaziantep gestand
einem Vertreter des türkischen „Menschenrechts-Vereins“ (IHD) in Adiyaman, dass
„Jugendliche von Gaziantep in den Krieg nach Syrien ziehen“, häufig ohne Wissen
der Eltern, die sie dann verzweifelt suchten. „Es ist offensichtlich“, betont
IHD-Chef Özturk Turkologan, dass der türkische Geheimdienst Soldaten für den
Kampf gegen PYD, aber auch gegen die von desertierten Assad-Offizieren geführte
„Freie Syrische Armee“ (FSA) rekrutiert und „die Polizei, wie der Geheimdienst
überwachen diese Aktivitäten“.
Nach Berichten aus der Region haben türkische
Sicherheitskräfte jüngst Minen im Grenzgebiet geräumt und Stacheldrahtsperren
entfernt, um die Bewegungen der islamistischen Kämpfer und deren türkischen
Mitstreiter nach Syrien, sowie Nachschub von Waffen zu erleichtern. Während im
Westen diese Entwicklungen kaum Beachtung finden, beschuldigte jüngst die
„Wallstreet Journal“ den türkischen Geheimdienst, wie „Verkehrspolizisten“ den
Transport von Waffen nach Syrien zu dirigieren.
Eine besonders hässliche Facette dieses türkischen
Kriegsspiels ist der Einsatz kurdischer „Dorfschützer“, die seit Jahrzehnten
vom Geheimdienst mit Waffen und Geld ausgestattet, die PKK in der Türkei
bekämpfen und nun als „Fünfte Kolonne! Auch gegen die PYD in Syrien eingesetzt
werden – eine Strategie, die allen vermeintlichen Friedensbemühungen Erdogans
gegenüber den Kurden im eigenen Land Hohn spricht. Während Syriens Kurdenführer
Ankara vorwerfen, humanitäre Hilfe für die kriegsgeplagten Bewohner
Nordostsyriens immer wieder zu blockieren, weisen sie empört darauf hin, dass
sich der türkische Staat eifrig um die medizinische Versorgung von ISIS- und
Al-Nusra-Kämpfern sorgt, sie aus Syrien in türkische Spitäler transportieren
läßt. Demgegenüber zielen Scharfschützen von türkischem Territorium wiederholt
auf Aktivisten von PYD und YGP. Eines ihrer Opfer war Mitte Oktober einer der
Söhne Muslims. Der PYD-Führer betont in diesem Zusammenhang sein Streben nach
Verständigung mit Ankara und weist darauf hin, dass seine Bewegung niemals an
der Türkei Vergeltung geübt hätte und dies auch nicht tun werde.
Wiederholt hatte Erdogan eine „Politik der offenen Tür“ für
alle versprochen, die Krieg und Tod zu entfliehen suchten. Doch häufig bleiben
die Grenzübergänge insbesondere ins Kurdengebiet geschlossen, selbst für
humanitäre Zwecke. Die Isolation der von der internationalen Gemeinschaft
weitgehend ignorierten syrischen Kurden verschärfte sich in jüngster Zeit
alarmierend. Sie sind hilflos der zynischen Politik Ankaras ausgeliefert, die
nun als jüngst Schikane die Minderheit
hinter einer Mauer verriegeln will. Die 900 km lange Grenze zu Syrien, nach dem
Ersten Weltkrieg von den Kolonialmächten willkürlich entlang der Eisenbahnlinie
nach Bagdad gezogen, bereitet den Türken seit langem Probleme. Mit
Stacheldrahtzäunen, Minenfeldern und Wachtürmen, die an einstige
Ostblockgrenzen erinnern, versucht Ankara seit Jahrzehnten das Land vom
südlichen Nachbarn, der jahrelang der PKK beherbergte, abzuriegeln. Während die Türken nun den Grenzübertritt für
Jihadis entscheidend erleichtern, hat das Militär laut lokalen Medien in der
Nähe der Stadt Nusaybin mit dem Bau einer zwei Meter hohen Mauer begonnen,
deren Überwindung durch einen Stacheldrahtzaun zusätzlich verhindert werden
soll. Nusaybin gehörte einst zu der größten Kurdenstadt im heutigen Syrien,
Qamishli, bis die Kolonialmächte durch ihre Grenzziehung diese Siedlung teilten
und damit Familien spalteten und Freunde trennten.
Trotz zeitweise beträchtlicher Schwierigkeiten pflegten die
Menschen der beiden Stadtteile über die Jahrzehnte regen Kontakt, und der
beiderseitige Handel ermöglichte ihnen einen halbwegs gesicherten
Lebensunterhalt. Die „Mauer der Schande“, wie die Bürgermeistern von Nusaybin,
Ayse Gökkan das Projekt empört nennt, soll nun die Kurden vollständig
von3einander trennen. Die offizielle Begrtündung, man wollte auf diese Wiese
den Schmuggel und das Eindringen von Al-Kaida-Kämpfern in die Türkei
unterbinden, löst selbst unter unabhängigen Beobachtern zynisches Achselzucken
aus, fördert Ankara doch nach Kräften den Einzug von Jihadis über diese Grenze
in das syrische Kriegsgebiet.
Niemals würden die Kurden in diesen beiden Städten solche
Trennung hinnehmen, betont Gökkan. „Kurden haben die Grenzregion mit ihren
Körpern von Minen befreit. Es ist eine inhumane Situation“, für die die Türkei
im Westen mit der Behauptung, sie müsse
ihr Land vor einem Überschwappen des Krieges schützen, um verständnis
wirbt.
[Bild: Qamishli]
Politische Analysten halten das Mauerprojekt hingegen für ein weiteres Druckmittel gegen die Kurden Syriens, ja nicht Projekte der Selbstverwaltung voranzutreiben. Zu diesem Zweck setzt Ankara auch die irakischen Kurden unter Druck. Die Kraft dazu besitzt es, da die Kurdenführung unter Massud Barzani über die Jahre in starke Abhängigkeit von der Türkei, deren ökonomischer Kooperation und politischem Wohlwollen geriet. Zudem demonstriert Ankara auch seine militärischen Muskeln durch die Staqtionierung von Truppeneinheiten und Panzern im Nord-Irak. So blockiert Barzani immer wieder die Grenze zum syrischen Kurdengebiet, insbesondere für Aktivisten der PYD, für die er wegen der marxistischer Ideologie und Streben nach Vorherrschaft über die Kurden wenig Sympathie hegt. Vor allem geht es Barzani auch darum, in Kandil stationierte PKK-Kämpfer davon abzuhalten, in den Krieg nach Syrien zu ziehen und dort die Schwesterpartei seiner „‘Demokratischen Partei Kurdistans“ (KDP), die KDPSyrien, zugunsten von PYD und damit auch seinen eigenen Einfluß in diesem Gebiet zu schwächen.
Die Grenzblockaden verhindern aber auch, dass humanitäre
Hilfe in dem dringend benötigten Ausmaß die kurdischen Brüder in Syrien
erreicht. Die Rivalitäten zwischen den beiden Greppierungen, dramatisch
verschärft durch die Feindseligkeiten der Türkei und die Haltung der irakischen
Kurden, drohen die historische Chance
der Kurden Syriens in das Reich der unrealisierbaren Träume zu
verbannen.
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