Freitag, 25. Oktober 2013

Syriens Kurden: Ein Volk ohne Stimme

Von der Welt kaum beachtet, droht ein Stellvertreterkrieg der so lange unterdrückten Minderheit eine historische Chance auf ihre legitimen Rechte  zu rauben

von Birgit Cerha

„Zu einer Zeit, da die türkische Regierung Banditengruppen unterstützt und einen Krieg gegen“ die Kurden in Syrien führe, „hat das kurdische Volk das Recht, den Kampf in die Türkei zu tragen.“ Mit dieser Drohung bezieht sich Cemil Bayik, Gründungsmitglied der „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) und deren ranghöchster Führer in Freiheit, in seinem Stützpunkt in den nordirakischen Kandil-Bergen auf einen von der Welt ignorierten Stellvertreterkrieg im nordostsyrischen Kurdengebiet. Während die PKK die Bedingungen eines im März vereinbarten Waffenstillstandes einhielte, „hat die Türkei einfach die Frontlinie im Kampf gegen die Kurden nach Syrien verlegt“.   Wenn Premier Erdogan dem Friedensprozess mit den Kurden nicht konkrete Bedeutung gebe (ein Reformpaket des Regierungschefs ist nach Ansicht Bayiks bedeutungslos)  und die Unterstützung islamistischer Jihadis gegen die Kurden in Syrien einstelle,  werde die PKK ihre aus  der Türkei abgezogenen Kämpfer wieder zurück schicken. Ein 30-jähriger Krieg, der bisher mehr als 40.000 Menschen das Leben kostete, droht erneut aufzuflammen.
Als Erdogan dem inhaftierten PKK-Führer Öcalan, auf dessen Stimme Millionen Kurden immer noch hören, vor acht Monaten Friedensgespräche anbot, ging es ihm keineswegs um Gerechtigkeit für die so lange massiv unterdrückten Kurden im eigenen Land. Vielmehr hoffte er, Öcalan zu überreden, dass er Syriens Kurden davon abhalte, dem Beispiel der Brüder im Nordirak zu folgen und ein zweites autonomes Gebiet an der türkischen Grenze zu errichten - ein Alptraum für die Herrscher über 20 Millionen Kurden im Reiche Atatürks, die nichts so sehr fürchten, wie den Bazillus völkischer Selbstbestimmung. Doch Erdogan „hat durch die Unterstützung von Rebellen (gegen Syriens Präsidenten Assad) den Bogen überspannt“, betont der kurdische Aktivist Fehim Isik. Die türkische Syrienpolitik gefährdet nicht nur die Chance auf Frieden mit den Kurden im eigenen Land, sondern schürt einen Krieg in einem ohnedies schon an Grauen kaum zu überbietenden Krieg in Syrien. 
Die etwa vier Millionen Kurden Syriens stehen zwischen allen Fronten, in ihrer Not selbst von ihren Brüdern in den Nachbarstaaten teilweise  ignoriert und gar verraten. Dabei hatten sie, die wie ihre Leidensgenossen im Irak, Iran und in der Türkei auch von ihrer Regierung  jahrzehntelang brutaler Repression, Verfolgung und Assimilierungsdruck als „Bürger zweiter Klasse“, häufig auch „Staatsfeinde“, durch das Baath-REgime ausgesetzt waren, sich in ihrem Streben  nach einem Leben in Würde und Freiheit auf friedliche politische Aktivitäten beschränkt, zugleich aber ihre Herzen und ihre Türen weit offen gehalten für die verfolgten Brüder aus dem Irak und der Türkei, die bei ihnen moralische und praktische Unterstützung und Unterschlupf fanden. Der Dank hält sich in dieser Stunde der Not in Grenzen.
Als Assad vor einem Jahr militärisch zunehmend in die Enge getrieben, seine  Sicherheitskräfte aus der nordöstlichen Kurdenprovinz Hasakah abzog und der Minderheit Selbstverwaltung für Neutralität im Kampf der Opposition zusagte,  übernahmen die Kurden die Kontrolle über eine Reihe von überwiegend kurdischen Städten und Dörfern. Unklar bleibt derzeit, ob Syriens Diktator sich zu diesem Schritt entschloss, weil er die Soldaten in kritischen Kampfgebieten benötigte, oder weil er damit die Kurden auf seine Seite zu ziehen hoffte und zugleich die Türkei für ihre feindselige Politik gegenüber dem Damaszener Regime bestrafen wollte. Tatsächlich waren die Kurden für Selbstverwaltung besser gerüstet als jede andere Bevölkerungsgruppe, inklusive der sunnitischen Mehrheit im syrischen Staat.
Die Kurden nützten diese einmalige Gelegenheit und begannen in jenen Gebieten, in denen sie die Mehrheit der Bevölkerung stellen, kleine Selbstverwaltungszentren aufzubauen. Am 12. September einigten sich Vertreter der beiden größten kurdischen Dachorganisationen, des „Volksrates von Westkurdistan“ (VRWK) und des „Kurdistan-Nationalrates“ (KNR) auf die Errichtung einer lokalen Autonomie in Westkurdistan (wie die Kurden das syrische Kurdengebiet nennen). Neugegründete Komitees bereiten Wahlen für ein Parlament vor, in dem auch in der Region lebende Minderheiten, wie Araber und Christen, vertreten sein sollen. Den Wahlen vorangehen soll ein Referendum über eine Übergangsverfassung, die nun erarbeitet. Ein „System in einem (gesamtsyrischen) System“ wird hier entworfen und die Kurdenvertreter betonen, dass sie nicht nach Unabhängigkeit oder etwa Anschluss an das nordirakische Kurdistan streben, sondern innerhalb eines demokratisch-syrischen Staatssystems als autonom verwaltete Region verbleiben wollen.  „Wir wollen auch keine föderale Struktur“, betont Saleh Muslim, Führer der stärksten syrischen Kurdenbewegung, der „Demokratischen Unionspartei“ (PYD). „Alles was wir wollen, ist Anerkennung unserer politischen und kulturellen Rechte, vor allem des Rechts, uns selbst in unserer Region zu regieren.“
Es erscheint höchst unwahrscheinlich, dass sich die Kurden in Verhandlungen mit der syrischen Opposition über die Zukunft nach Assad mit einer Regelung zufrieden geben, die ihnen weniger Rechte zugesteht, als sie sich jetzt erarbeiten. Doch diese einzigartige historische Chance auf ein Leben in Freiheit und Würde ist von innen wie von außen schwer bedroht. Die historischen Regionalfeinde der Kurden (allen voran die Türkei, der Irak und der Iran, sowie ein Teil der syrischen  Araber) verfolgen diese  Entwicklung mit beträchtlichem Unbehagen. Zwar räumen Bagdad wie Teheran derzeit der Rettung des Assad-Regimes weit höhere Priorität ein als der traditionellen Blockade kurdischer Selbstbestimmung und beide schätzen die Position der Kurden, sich vollends aus dem Kampf um die Macht in Syrien herauszuhalten. Denn die Kurden könnten das Gleichgewicht der Kräfte in diesem Krieg stark zugunsten der Rebellen verschieben.
Anders Ankara, wo kurdischer Aktivismus, egal wo, unter keinen Umständen toleriert wird. Und dies schon gar nicht, wenn die PKK, wie in Nordsyrien, ihre Hand im Spiel hat. Immerhin hatten sich die Türken seit 29 Jahren vergeblich bemüht, die PKK zu vernichten. So löst es in Ankara tiefe Beunruhigung aus, dass es der PYD, der populärsten Kurdenbewegung Syriens, im Nordosten gelang, eine Art Hegemonie aufzubauen und mit wenig zimperlichen Methoden andere kurdische Gruppierungen an den Rand zu drängen. PYD nämlich ist ein Ableger der PKK und wird auch aus der Ferne von Bayik dirigiert. Die von ihr gegründete Volksverteidigungs-Miliz „YGP“, verhält sich im Syrienkrieg strikt neutral und konzentriert sich auf den Schutz der kurdischen Zivilbevölkerung, sowie auf die Stärkung der Hegemonie der PYD. Dabei wird sie insbesondere von islamistischen Rebellen, aber auch von Regierungstruppen immer wieder in Kämpfe verwickelt. Diese gewaltsame Auseinandersetzung mit Jihadis, die das Kurdengebiet unter ihre Kontrolle zu zwingen versuchen, eskalierte in den vergangenen Wochen. Immer mehr extreme Islamisten, insbesondere Kämpfer der Al-Kaida-Gruppen ISIS (Islamischer Staat des Iraks und al-Sham, i.e. Großsyriens) sowie Al-Nusra, dringen von der Türkei nach Norsyrien vor und versuchen der Bevölkerung insbesondere der arabischen Minderheit, dort ihre radikal-islamischen Regeln aufzuzwingen. Damit ist ein Stillhalteabkommen zwischen den Kurden und den Jihadis zusammengebrochen, insbesondere seit diese  salafistischen Gruppen mit menschenverachtender Brutalität auch Zivilisten terrorisieren. Seit vielen Wochen toben in Teilen des Kurdengebietes heftige Kämpfe zwischen ISIS, Al-Nusra auf der einen und YGP-Kämpfern, die sich tapfer schlagen und das Kurdengebiet gegenüber den Eindringlingen verteidigen, auf der anderen Seite.
Aus Sorge, PYD könnte ihre Macht im Nordosten Syriens weiter konsolidieren, zettelte ERdogen einen „Krieg im Krieg“ an. Trotz offizieller türkischer Dementis steht fest, dass Ankara systematisch  Rebellen von ISIS und Al-Nusra für den Kampöf nicht nur gegen Assad, sondern vor allem gegen PYD unterstützt. Kurdische Bewohner der türkischen Grenzregion berichteten gegenüber dem kurdischen Nachrichtenportal „Rudaw“, dass ISIS und Al-Nusra von Stützpunkten auf der türkischen Seite der Grenze den Krieg nicht nur gegen Assads Streitkräfte, sondern zunehmend auch gegen die Kurden in Syrien dirigieren. Sie steckten mit islamistischen Parteien der Türkei unter einer Decke und heuerten kampfwillige junge Männer an, die sie mit Wissen der türkischen Behörden nach Syrien schickten. Der Gouverneur der südosttürkischen Grenzprovinz Gaziantep gestand einem Vertreter des türkischen „Menschenrechts-Vereins“ (IHD) in Adiyaman, dass „Jugendliche von Gaziantep in den Krieg nach Syrien ziehen“, häufig ohne Wissen der Eltern, die sie dann verzweifelt suchten. „Es ist offensichtlich“, betont IHD-Chef Özturk Turkologan, dass der türkische Geheimdienst Soldaten für den Kampf gegen PYD, aber auch gegen die von desertierten Assad-Offizieren geführte „Freie Syrische Armee“ (FSA) rekrutiert und „die Polizei, wie der Geheimdienst überwachen diese Aktivitäten“.
Nach Berichten aus der Region haben türkische Sicherheitskräfte jüngst Minen im Grenzgebiet geräumt und Stacheldrahtsperren entfernt, um die Bewegungen der islamistischen Kämpfer und deren türkischen Mitstreiter nach Syrien, sowie Nachschub von Waffen zu erleichtern. Während im Westen diese Entwicklungen kaum Beachtung finden, beschuldigte jüngst die „Wallstreet Journal“ den türkischen Geheimdienst, wie „Verkehrspolizisten“ den Transport von Waffen nach Syrien zu dirigieren.
Eine besonders hässliche Facette dieses türkischen Kriegsspiels ist der Einsatz kurdischer „Dorfschützer“, die seit Jahrzehnten vom Geheimdienst mit Waffen und Geld ausgestattet, die PKK in der Türkei bekämpfen und nun als „Fünfte Kolonne! Auch gegen die PYD in Syrien eingesetzt werden – eine Strategie, die allen vermeintlichen Friedensbemühungen Erdogans gegenüber den Kurden im eigenen Land Hohn spricht. Während Syriens Kurdenführer Ankara vorwerfen, humanitäre Hilfe für die kriegsgeplagten Bewohner Nordostsyriens immer wieder zu blockieren, weisen sie empört darauf hin, dass sich der türkische Staat eifrig um die medizinische Versorgung von ISIS- und Al-Nusra-Kämpfern sorgt, sie aus Syrien in türkische Spitäler transportieren läßt. Demgegenüber zielen Scharfschützen von türkischem Territorium wiederholt auf Aktivisten von PYD und YGP. Eines ihrer Opfer war Mitte Oktober einer der Söhne Muslims. Der PYD-Führer betont in diesem Zusammenhang sein Streben nach Verständigung mit Ankara und weist darauf hin, dass seine Bewegung niemals an der Türkei Vergeltung geübt hätte und dies auch nicht tun werde.
Wiederholt hatte Erdogan eine „Politik der offenen Tür“ für alle versprochen, die Krieg und Tod zu entfliehen suchten. Doch häufig bleiben die Grenzübergänge insbesondere ins Kurdengebiet geschlossen, selbst für humanitäre Zwecke. Die Isolation der von der internationalen Gemeinschaft weitgehend ignorierten syrischen Kurden verschärfte sich in jüngster Zeit alarmierend. Sie sind hilflos der zynischen Politik Ankaras ausgeliefert, die nun als jüngst Schikane  die Minderheit hinter einer Mauer verriegeln will. Die 900 km lange Grenze zu Syrien, nach dem Ersten Weltkrieg von den Kolonialmächten willkürlich entlang der Eisenbahnlinie nach Bagdad gezogen, bereitet den Türken seit langem Probleme. Mit Stacheldrahtzäunen, Minenfeldern und Wachtürmen, die an einstige Ostblockgrenzen erinnern, versucht Ankara seit Jahrzehnten das Land vom südlichen Nachbarn, der jahrelang der PKK beherbergte, abzuriegeln.  Während die Türken nun den Grenzübertritt für Jihadis entscheidend erleichtern, hat das Militär laut lokalen Medien in der Nähe der Stadt Nusaybin mit dem Bau einer zwei Meter hohen Mauer begonnen, deren Überwindung durch einen Stacheldrahtzaun zusätzlich verhindert werden soll. Nusaybin gehörte einst zu der größten Kurdenstadt im heutigen Syrien, Qamishli, bis die Kolonialmächte durch ihre Grenzziehung diese Siedlung teilten und damit Familien spalteten und Freunde trennten.
Trotz zeitweise beträchtlicher Schwierigkeiten pflegten die Menschen der beiden Stadtteile über die Jahrzehnte regen Kontakt, und der beiderseitige Handel ermöglichte ihnen einen halbwegs gesicherten Lebensunterhalt. Die „Mauer der Schande“, wie die Bürgermeistern von Nusaybin, Ayse Gökkan das Projekt empört nennt, soll nun die Kurden vollständig von3einander trennen. Die offizielle Begrtündung, man wollte auf diese Wiese den Schmuggel und das Eindringen von Al-Kaida-Kämpfern in die Türkei unterbinden, löst selbst unter unabhängigen Beobachtern zynisches Achselzucken aus, fördert Ankara doch nach Kräften den Einzug von Jihadis über diese Grenze in das syrische Kriegsgebiet.
Niemals würden die Kurden in diesen beiden Städten solche Trennung hinnehmen, betont Gökkan. „Kurden haben die Grenzregion mit ihren Körpern von Minen befreit. Es ist eine inhumane Situation“, für die die Türkei im Westen mit der Behauptung, sie müsse  ihr Land vor einem Überschwappen des Krieges schützen, um verständnis wirbt.

[Bild: Qamishli]
Politische Analysten halten das Mauerprojekt hingegen für ein weiteres Druckmittel gegen die Kurden Syriens, ja nicht Projekte der Selbstverwaltung voranzutreiben.  Zu diesem Zweck setzt Ankara auch die irakischen Kurden unter Druck. Die Kraft dazu besitzt es, da die Kurdenführung unter Massud Barzani über die Jahre in starke Abhängigkeit von  der Türkei, deren ökonomischer Kooperation und politischem Wohlwollen geriet. Zudem demonstriert Ankara auch seine militärischen Muskeln durch die Staqtionierung von Truppeneinheiten und Panzern im Nord-Irak. So blockiert Barzani immer wieder die Grenze zum syrischen Kurdengebiet, insbesondere für Aktivisten der PYD, für die er wegen der marxistischer Ideologie und Streben nach Vorherrschaft über die Kurden wenig Sympathie hegt. Vor allem geht es Barzani auch darum, in Kandil stationierte PKK-Kämpfer davon abzuhalten, in den Krieg nach Syrien zu ziehen und dort die Schwesterpartei seiner „‘Demokratischen Partei Kurdistans“ (KDP), die KDPSyrien, zugunsten von PYD und damit auch seinen eigenen Einfluß in diesem Gebiet zu schwächen.
Die Grenzblockaden verhindern aber auch, dass humanitäre Hilfe in dem dringend benötigten Ausmaß die kurdischen Brüder in Syrien erreicht. Die Rivalitäten zwischen den beiden Greppierungen, dramatisch verschärft durch die Feindseligkeiten der Türkei und die Haltung der irakischen Kurden, drohen die historische Chance  der Kurden Syriens in das Reich der unrealisierbaren Träume zu verbannen.

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