Dienstag, 6. August 2013

Eine frustrierte Generation


Warum sich die Jugend am Nil nach einem „neuen Ägypten“ sehnt

Von Birgit Cerha
Osama Bisri zieht die Stirn in Falten. Der Gesichtsausdruck des 28-jährigen Ägypters verhärtet sich. Verzweiflung schwingt in seiner Stimme: „Ich will eine Sozialversicherung und eines Tages eine Pension. Ich will nicht ständig mit dem Risiko leben, krank zu werden und ein Vermögen in einem Privatspital zu lassen.“ Und in einem Wortschwall bricht es aus ihm heraus, er spricht von seinen tiefen Frustrationen, seinen quälenden Sorgen vor der Zukunft. Dabei zählt Osama noch zu den Glücklicheren der neuen Generation am Nil. Als Bachelor der Soziologie unterrichtet er in einer Privatschule. Pro Unterrichtsstunde erhält er allerdings einen Hungerlohn von acht ägyptischen Pfund (umgerechnet 0,86 Euro). Arbeitsvertrag gab ihm die Schule aber keinen. Wie viele andere Ägypter mit Hochschulbildung träumt Osama von einer Anstellung im öffentlichen Dienst, wo er all das bekommen könnte, was ihm heute fehlt: die Sicherheit, den Job nicht plötzlich zu verlieren, Sozialversicherung, fixe Arbeitsstunden, ein fixes Gehalt und bezahlten Urlaub. Nur dann kann er auch ans Heiraten denken.
Osama ist einer von Millionen jungen Ägyptern mit quälender Perspektivlosigkeit, 700.000 bis 800.000 junge Schul- und Hochschulabsolventen drängen jedes Jahr neu auf den Arbeitsmarkt in einem erbitterten Wettkampf um nur etwa 200.000 offene Stellen.
Nevine, die 17-jährige Schülerin trägt Jeans und ein T-Shirt. Sie möchte so gerne Karate lernen. Doch die dafür nötige Eintrittsgebühr in einen Kairoer Sportclub kann sie sich nicht leisten. Ihre Mutter rackert sich als Putzfrau ab, kann aber das magere Einkommen ihres Vaters, der als Koch arbeitet, kaum aufbessern.  Ihre ältere Schwester Jasmin hat das Abitur gemacht und arbeitet seit drei Jahren in einer staatlichen Eiscremefabrik. Sie wäre gerne Sekretärin, kann auch Maschinschreiben, aber niemand gibt ihr Arbeit. „Es fehlt mir an Beziehungen“, klagt das Mädchen. Was ist für Jasmin die wichtigste Voraussetzung für ein glückliches Leben? „Ein Zeugnis“, meint sie, um eine  gute Arbeit zu finden.
Auch bitterarme Familien drängen heute ihre Sprösslinge zu Universitätsausbildung, in der Hoffnung, dass sie sich damit in Zukunft ein sicheres Einkommen ermöglichen. Doch das ägyptische Bildungssystem hat sich nicht an die Veränderungen in der Arbeitswelt angepasst, bereitet auch heute immer noch junge Menschen primär für den öffentlichen Dienst vor, der aber längst nicht mehr, wie jahrzehntelang,  alle Universitätsabsolventen aufnehmen kann, ja vielmehr die überbordende Bürokratie drastisch reduzieren müsste. So wächst die Zahl der ausgebildeten jungen Ägypter ohne Jobs dramatsich an. Zweieinhalb Jahre seit Ausbruch der Revolution gegen die 30-jährige Herrschaft Hosni Mubaraks hat sich die Wirtschaftslage dramatisch verschlechtert. Für die jungen Ägypter, die fast die Hälfte der 80-Millionen-Bevölkerung stellen, könnten die Aussichten auf einen Job kaum schlechter sein. Laut „Central Authority for Public Mobilisation and Statistics“ haben derzeit 19 Millionen Ägypter unter 29 Jahren keine Arbeit, die Mehrheit davon junge Frauen. Allein im vergangenen Jahr mussten 1.500 Fabriken ihre Tore schließen und viele andere drastische Entlassungen vornehmen. Der „Human Development Report for Egypt“ schätzte schon für 2010 den Anteil der Arbeitslosen im Alter von 15 bis 29 auf 60 Prozent, davon gehen zwei Drittel weder zur Schule, noch einer Arbeit nach. Diese Gruppe ist besonders stark in den bitterarmen ländlichen Gebieten Oberägyptens zu finden.
Doch auch viele der Glücklicheren, die eine Arbeit gefunden haben, leiden wie Osama unter beschämend schlechter Bezahlung und völlig fehlender sozialer Absicherung.  „Bad Jobs“ nennt die „Weltbank“ diese Schwarzarbeit, die am Nil immer mehr um sich greift und der Jugend die berufliche Perspektive verwehrt.
Die Strömung, die Mubarak und Ägyptens ersten gewählten Präsidenten, den Moslembruder Mursi, von der Macht jagte, wurde von Gruppen wie der „Jugendbewegung des 6. April“ angetrieben. Zeina, eine junge Aktivistin, die vor einigen Jahren aus den USA zurückgekommen war, hatte sich ihr angeschlossen. Nun kehrt sie frustriert der Heimat wieder den Rücken, denn – so sagt sie – sie könne die Instabilität nicht länger ertragen. „Ich bin eine der Glücklicheren hier, gehöre der Oberschichte an und ich besitze einen amerikanischen Pass.  Das Land muss sich stark verändern, um all seine Probleme zu lösen: Arbeitslosigkeit, Armut und die sich immer weiter öffnende Kluft zwischen den Klassen.  Wir sind  in einem Teufelskreis gefangen. Es wird noch Jahre dauern bis sich die Situation verbessert. Ich habe es versucht, aber nun hab ich genug von Ägypten.“ Eine wachsende Schar von Jugendlichen empfindet ebenso. Die Zahl der Auswanderer nach den USA, Großbritannien, aber auch in die arabischen Golfstaaten ist seit dem Sturz Mubaraks drastisch angestiegen.
Viele junge Ägypter sehnen sich nach der Lebensqualität, wie sie ihnen westliche Filme, Medien oder auch Bücher präsentieren. Sie leiden unter den Zwängen, die ihnen ihre konservative Gesellschaft auferlegt, Eltern, Politiker, islamische Geistliche, die oft die Tore zu Wissen und Aufklärung verschließen. Der Traum vom westlichen Ausland hat noch stärker die Jugend in den armen Schichten der Gesellschaft erfasst, wo sich die Hoffnungslosigkeit in den vergangenen zwei Jahrzehnten quälend gesteigert hat.
„Es ist erschütternd zu wissen, dass Emigration nach Nordamerika oder Europa der größte Traum der Jugend ist“, klagt Autor und Geschäftsmann Hany Ghoraba. „Die Szenen verzweifelter Emigranten, die in seeuntüchtigen Booten vor den Küsten Griechenlands oder Italiens mit dem Tod ringen, ist nicht nur herzzerbrechend, sondern ein schmerzhafter Stich ins stolze Herz jedes Ägypters, dessen Heimat einst die reichste war in der ganzen Region, wohin bis vor der Revolution von 1952 Griechen und Italiener Unterkunft und Arbeit fanden. Viele, die  an den Küsten Europas landen, werden zurückgewiesen und viele versuchen es immer wieder von neuem, doch nur wenige erreichen ihr Ziel. Der hohe Preis, den sie (auf der Suche nach einem lebenswerten Leben) zu zahlen bereit sind, lässt das Ausmaß der Not und Hoffnungslosigkeit in der Heimat erkennen.“
Hussein studiert in Kairo Bauingenieur. Er ist sehr fromm, aber nicht fanatisch. Er glaubt fest an Vorbestimmung im Leben und ist deshalb auch sicher, dass er heiraten wird, „wenn die Zeit dafür gekommen ist“. Viele seiner Altersgenossen aber haben solche Hoffnung beinahe schon aufgegeben. Denn selbst junge Ägypter, die seit Jahren arbeiten, können sich angesichts der niedrigen Löhne keine eigenen Wohnungen leisten.  Sie bleiben bei den Eltern, die ihnen meist nach alter Tradition minimalsten Freiheitsraum lassen. Jahrelange Verlobungen scheitern immer häufiger, ebenso Ehen, die erst nach langem Warten geschlossen werden. Ein zynisches Sprichwort macht die Runde: „Wenn Armut an der Türke klopft, dann springt die Liebe aus dem Fenster.“ (Nach jüngsten Schätzungen stiegen die Scheidungen 2010 um fast 80 Prozent, ein Trend, der sich verschlimmert). Während die Zahl der unverheirateten Frauen stark zunimmt, die Neun-Millionen-Grenze erreicht haben dürfte und die erzkonservative Gesellschaft vor neue Probleme stellt, werden in den bitterarmen ländlichen Gebieten arrangierte Ehen mit Millionären aus den Golfstaaten zunehmend zur Heimsuchung. Immer häufiger erliegen diese frustrierten jungen Frauen den radikalen Ideen von salafistischen Geistlichen.
Viele Jugendliche rebellieren  nicht nur gegen die Autokratie am Nil, sondern die Gerontokratie insgesamt, die  Politik, Gesellschaft und auch die Familien  dominiert, sie rebellieren gegen  die geistigen Strukturen der alten Generation am Nil, die ihnen die Zukunft rauben.

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