Donnerstag, 15. August 2013

Ägypten: Zurück zum Nullpunkt

Viele fürchten, das Massaker vom Mittwoch werde das Ende des Weges zur Demokratie markieren und dem Land auf unabsehbare Zeit eine neue Diktatur bescheren
 
 von Birgit Cerha
 
Ägypten hält den Atem an. Die exzessive Gewalt, mit der die Polizei mit Rückendeckung durch die Armee Mittwoch zwei Protestcamps der Moslembrüder in Kairo geräumt hatte, versetzt das Land in Schock und panische Angst vor der Zukunft. Noch nie seit dem Sturz der Monarchie 1952 hatten die Bürger am Nil derart ungehemmten Staatsterror gesehen. Auch nicht unter dem weithin verhassten Diktator Mubarak.525 Tote, überwiegend Anhänger des gestürzten Präsidenten Mursi, lautet die offizielle Bilanz, sie dürfte in Wahrheit weit höher liegen und weiter steigen. Denn nicht nur richten Islamisten nun ihren Zorn gegen die wehrlose koptische Minderheit. Sie wollen sich nicht einschüchtern lassen. Schon stand Donnerstag ein Regierungsgebäude in Kairo in Flammen. Die demokratischen Revolutionäre, allen voran Friedensnobelpreisträger Baradei, die auf die Offiziere und General al-Sisi gesetzt hatten, um Ägypten vor einer islamischen Theokratie den Weg zur Demokratie wieder zu finden, sind konsterniert. Baradei zog die einzig mögliche Konsequenz und legte sein Amt als Vizepräsident zurück.
Gravierende  Fehler auf allen Seiten sind die Ursache für Ägyptens Katastrophe. Nach dem Sturz Mubaraks im Februar 2011 hatten sich alle politischen Kräfte zu freien, fairen und transparenten Wahlen verpflichtet. Die Moslembrüder als weitaus bestorganisierte und größte Bewegung versprach, weder in allen Wahlbezirken, noch bei den Präsidentschaftswahlen Kandidaten zu stellen, um nicht die Macht mit einem Schlag an sich zu reißen. Doch sie brachen all ihre Zusagen und nachdem Mursi als erster freigewählter Präsident vor fast 14 Monaten die Macht übernommen hatte, begann er rasch und konsequent die Grundlagen für einen islamistischen Staat zu legen und schaltete schließlich auch die säkularen Kräfte aus vollends aus, nachdem er mit ihnen gemeinsam das Militär aus dem politischen Prozess gedrängt hatte. Er baute einen Ein-Partei-Staat auf und zog gegen seine einstigen revolutionären Verbündeten zu Felder, ließ Blogger und andere jugendliche Aktivisten gegen Mubarak in Gefängnisse  sperren und koptische Lehrer wegen Blasphemie verurteilen. Mursi und seine Moslembrüder tragen einen großen Teil der Schuld am verzweifelten Chaos, in das Ägypten nun geglitten ist.
Doch das Militär unter dem ehrgeizigen Al-Sisi erlag gemeinsam mit den um die Früchte der Revolution betrogenen liberalen Kräften einer fatalen Fehleinschätzung. Die Offiziere bauten darauf, dass Mursis Anhänger Proteste gegen seinen Sturz  nach wenigen Tagen aufgeben würden und das Land  ernsthaft mit dem Übergangsprozess zur Demokratie beginnen könne. Doch in einem vierwöchigen Kräftemessen verhärteten sich die Fronten zusehends, keine Seite zeigte auch nur die geringste Bereitschaft zu Kompromiss und nationaler Versöhnung. Sisi ließ sich von westlichen Vermittlern nicht zur Freilassung Mursis und anderer führender Moslembrüder überreden. Deren Anhänger verweigerten jedes Versöhnungsgespräch, das nicht Mursis Wiedereinsetzung und die Rückkehr zu der von ihm durchgepeitschten Verfassung zum Ziel hatte. Sie wiesen selbst das Vermittlungsangebot der höchsten sunnitischen Autorität, des Großscheichs von Al-Azhar zurück und ließen sich durch Drohungen des Militärs nicht von ihren Proteststreiks abschrecken. Sisis Autorität im In- und gegenüber dem Ausland war damit ernsthaft gefährdet.
Die Moslembrüder hielten an ihrer Maximalforderung unverrückbar fest, weil ihnen die Alternative zu deren Erfüllung attraktiv erschien: Würden sie – was nun geschieht – (demokratische) Opfer massiver Repression, wäre ihnen die Sympathie der demokratischen Welt, die sich mit der Brutalität der Militärs nicht abfinden würde – gewiss und ihr politisches Überleben könnte gesichert sein. Doch auch dies könnte sich längerfristig als Fehlkalkulation erweisen.
Für die Ägypter bedeutet die Hartnäckigkeit der politischen Kräfte eine Katastrophe. Das Land ist gespalten wie noch nie und viele fragen sich, ob sie nach zweieinhalbjähriger Revolution und Hoffnung auf Würde und Freiheit nicht wieder am Nullpunkt angelangt sind.  Eine in Teilen des Landes immer noch lebendige Tradition der Blutrache verheißt  nach den vielen Toten eine düstere Zukunft.
Der Übergangspremier verspricht, so rasch wie möglich wieder den geplanten Weg zur Demokratie einzuschlagen. Doch das Blutbad vom Mittwoch hat für unabsehbare Zeit selbst die kleinste Chance auf Einbindung der Massenbewegung der Moslembrüder in den politischen Prozess zerstört. Ohne sie aber kann Ägypten keine Demokratie aufbauen. Die nächsten Tage könnten Aufschluss über den Weg geben, den das Land nun einschlagen wird: Mehr gewaltsame Proteste der Moslembrüder werden unweigerlich dem Militär den – willkommenen – Vorwand liefern, die Bewegung in den Untergrund zu drängen und mit harter Hand – auch gegen andere Kritiker – zu regieren. Erste Anzeichen einer Verhaftungswelle lassen sich bereits erkennen. Die Rückkehr in die politische Finsternis könnte das allmähliche Ende dieser größten islamistische Bewegung der arabischen Welt bedeuten. Doch die Moslembrüder haben sich in acht Jahrzehnten intensiv in der Kunst des politischen Überlebens geübt. Sie könnten auch in ferner Zukunft aus dem Untergrund sogar gestärkt und radikalisiert hervorgehen und endlich die ersehnte islamistische Autokratie am Nil errichten.

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