Montag, 8. Juli 2013

LEXIKON: Ägypten: Wieviel Legitimität ist legitim?


Wieviel Wahrheit steckt in Zahlen? - Ein "Spiel", das den Willen des Volkes und die tiefe Spaltung des Landes in zwei Teile  reflektiert

von Birgit Cerha
 
Beide Seiten in dem sich dramatisch zuspitzenden Machtkampf in Ägypten berufen sich auf die „demokratische Legitimität“, die sie vertreten. Der gestürzte Präsident Mursi war in den ersten freien Wahlen vom Volk, wiewohl nur mit knapper Mehrheit, gewählt worden und nun durch eine Massenaktion von Millionen von Ägyptern mit Hilfe der Armee gestürzt worden. Die Ereignisse am Nil haben international heftige politische Debatten über die Frage von Legitimität ausgelöst, mit gegensätzlichen Meinungen darüber, ob die Aktion der Armee ein „legitimer Putsch“ gewesen sei, da sie sich auf den Willen der Mehrheit der Ägypter gestützt habe. In den gegenwärtigen Konfrontationen zwischen den beiden Teilen des Landes fordern die Moslembrüder energisch ihre demokratisch errungene Macht zurück, während sich die andere Seite  darüber empört, dass nicht nur die Anhänger Mursis, sondern auch viele westliche Medien  von einem Militärputsch sprechen, wiewohl es sich nur um die mehrheitlich gewünschte  Korrektur einer fehlgeleiteten Revolution handle.
In der Online-Ausgabe der angesehenen „Al-Ahram“ setzt sich Mary Mourad mit dieser in Ägypten höchst emotionalen Debatte auseinander. Und sie ruft wichtige Zahlen in Erinnerung, beginnend mit den Protestdemonstrationen gegen Diktator Hosni Mubarak am 25. Januar 2011. Während der 18 Tage bis zu dessen Sturz sprechen die großzügigsten Schätzungen von höchstens fünf Millionen Menschen, die sich in Straßen und auf Plätzen des Landes gegen ihren autokratischen Herrscher versammelt hatten. Als daraufhin der „Höchste Militärrat (SCAF) die Macht übernahm, sprach niemand von Putsch, weil Mubarak, so hieß´es, nicht demokratisch gewählt worden sei, wiewohl er 2005 nach offiziellen Angaben (allerdings manipulierte) Wahlen mit 88,7 Prozent der Stimmen, d.h. etwa 6,3 Millionen, gewonnen hatte.
Erstmals wurde die Legitimität am Nil schon wenige Wochen später getestet, als SCAF das Volk am 19. März 2011 – auf der Basis der Legitimität der Militärherrscher -  über Änderungen der Verfassung abstimmen ließ. 51 Millionen Ägypter waren wahlberechtigt, 18 Millionen beteiligten sich und 14,1 Millionen (77 Prozent) stimmten für die Verfassungsänderungen.
Mursi  und seine Anhänger berufen sich heute auf eine verfassungsrechtliche Legitimität, die – so Mourad, auf einem der umstrittensten Dokumente beruht, das je in der Geschichte Ägyptens zur Diskussion stand. Mursi hatte sein Wahlversprechen nicht erfüllt, die Zusammensetzung der Verfassungsgebenden Versammlung so abzuändern, dass sie der Bevölkerungsstruktur entspricht. In dem vom Oberhaus des Parlaments gewählten 100-köpfige Gremium stellten die Islamisten die überwältigende Mehrheit. (Die Wahl zum Oberhaus selbst wurde später als verfassungswidrig erklärt.) Mursi peitschte ein Verfassungsdokument, das religiöse Minderheiten und alle säkularen Kräfte entschieden abgelehnt hatten, durch und präsentierte es dem Volk zum Referendum:  Von den 16,7 Millionen Wählern billigten 10,69 Millionen (63,8 Prozent) die neue Verfassung, 6.06 Millionen lehnten sie ab. 10, 69 Millionen entsprechen 20 Prozent der 51 Millionen Wahlberechtigten.
An den  ersten Parlamentswahlen nach Mubarak nahmen im November 2011 27,8 Millionen Wähler teil (sie wurden  vier Monate später für verfassungswidrig erklärt), während die Wahlen zum Oberhaus nur 6.4 Millionen Wähler anzogen. Die „Freiheits- und Gerechtigkeits-Partei“ der Moslembrüder gewann mit 3,7 Millionen Stimmen 58,3 Prozent der Sitze Der Rest der 264 Sitze wurde später durch direkte Ernennungen Präsident Mursis vergeben.
Kurz gesagt: „Ägyptens legislative Autorität war nicht verfassungskonform und repräsentierte nur 6,4 Millionen der 51 Millionen Wahlberechtigten“, stellt Mourad zusammenfassend fest.
Demgegenüber nahmen 22,8 Millionen Ägypter in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen teil, in der Mursi 5,6 Millionen Stimmen auf sich vereinen konnte. Die Wahlbeteiligung in der Stichwahl lag bei 26,4 Millionen. Mursi gewann mit nur knapper Mehrheit von 51,7 Prozent (13,2 Millionen Wählern). Dennoch konnte Mursi innerhalb von drei Monaten bei Meinungsumfragen eine Zustimmung von bis zu 79 Prozent erringen, diese positive Kurve sank jedoch auf 42 Prozent im Februar 2013 und rutschte bis zum ersten Jahrestag der Machtübernahme des Präsidenten am 30. Juni auf 32 Prozent ab. Das entspricht laut Mourad etwa 6,6 Millionen Stimmen. Zur selben Zeit hatte die neue „Tamarod“-Oppositionsbewegung rund 22 Millionen Unterschriften für vorgezogene Präsidentschaftswahlen gesammelt.
„Legitimität“, stellt Ä“Ahram Online“ fest, „wie von Mursi definiert, ruht auf hauchdünner Basis“.
 

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