Die längerfristigen Auswirkungen der Militärintervention gegen Präsident Mursi auf die Islamisten am Nil und in der gesamten Region
von Birgit Cerha
„Wir müssen die Ordnung wieder herstellen und dem Recht zur Geltung verhelfen“, verteidigt unterdessen der Sprecher der Oppositions-Koalition und möglicherweise künftiger Premier, Mohammed el-Baradei die Inhaftierung Mursis und der gesamten Führung der Moslembruderschaft, sowie die Haftbefehle gegen mehr als 300 Funktionären dieser größten politischen Bewegung Ägyptens. Es sei nur eine vorübergehende Massnahme, um gewaltsame Vergeltungsakte für den vom Militär erzwungenen Machtverlust der Moslembrüder zu verhindern. Wird Baradei recht behalten? Oder plant die Armeeführung nicht vielleicht doch diese gemäßigte islamistische Bewegung zu „köpfen“? Und welche könnte sie dann künftig im Lande spielen?
Kein Zweifel, die einjährige Präsidentschaft Mursis als der katastrophalste Misserfolg in der 85-jährigen Geschichte der Moslembruderschaft, die Gleichgesinnten in der gesamten Region als Vorbild diente und zu zahlreichen Schwesterorganisationen in diversen arabischen Ländern enge Beziehungen unterhält. Dementsprechend bleiben die Folgen nicht auf Ägypten beschränkt.
1928 als eine Reformbewegung gegründet, die sich auf soziale Hilfe, Bildung, gegenseitigen Beistand unter der Bevölkerung und die Verbreitung religiösen Gedankengutes konzentriert hatte, 1952 vom Militär, das sie beim Putsch gegen die Monarchie unterstützt hatte, radikal unterdrückt wurde, entwickelte sich die Moslembruderschaft erst in den vergangenen 20 Jahren zu einer primär politischen Bewegung, nach Jahrzehnten massivster Repression ängstlich bestrebt, ein gemäßigtes, demokratisches Gesicht zu zeigen und den repressiven Staatsapparat nicht erneut herauszufordern. So beteiligten sich die „Brüder“ 2011 erst an den Massenprotesten gegen Diktator Mubarak, als sich deren Sieg abzeichnete. Auch danach hielt die Führung an einer Strategie betonter Vorsicht fest, schwor, nicht die Dominanz des Parlaments anzustreben und keinen Kandidaten bei den ersten Präsidentschaftswahlen ins Rennen zu schicken. Doch die Lockungen der Macht und die Gelegenheiten erwiesen sich als all zu stark. Ihnen erlag Mursi vollends. In diesem einen Jahr an der Spitze des Staates hat er dem gläubigen Fußvolk in Ägypten und darüber hinaus bewiesen, dass der weitverbreitete Slogan der Islamisten „Islam ist die Lösung“ kein Rezept gegen drückende soziale Probleme und wirtschaftliches Chaos bietet.
Verwirrt und ratlos steht die – vorerst? – enthauptete Bewegung nun da. Zunächst bleibt ihr keine Wahl, als ihre Anhänger zum Protest gegen die Entmachtung zu mobilisieren, in der Hoffnung damit nicht an Glaubwürdigkeit in diesen Kreisen zu verlieren. Die Bruderschaft selbst hat schon vor Jahrzehnten der Gewalt abgeschworen und ihre hohen Funktionäre stehen dazu, im Wissen, dass sie mit einer derartigen Strategie den breiten Rückhalt in der Bevölkerung verlieren würde.
Die Bruderschaft ist stolz auf ihre in ihrer langen Geschichte eindrucksvoll gezeigte Kunst der Anpassung. Und sie werden nach einer Periode des Zorns erneut zu dieser Strategie finden, denn eine längerfristige Absenz im politischen Prozess könnte ihnen enorm schaden, vorausgesetzt die neuen Führer des Landes beweisen genügend Weisheit, sie nicht zu isolieren oder gar in den Untergrund zu drängen.
Die Einigkeit der Moslembrüder aber könnte eines der Opfer dieser dramatischen Entwicklungen sein. Schon wenige Monate nach dem Putsch gegen Mubarak war es zu heftigen internen Kämpfen um die Strategie gekommen. Damals hatten sich zahlreiche liberalere Kräfte abgespalten und die „alte (autoritäre) Garde“, zu der auch Mursi zählt, hatte die Reihen geschlossen. Ein Wechsel in der Führung durch Personen mit liberalerem Geiste würde der Bewegung, aber auch Ägypten insgesamt, eine Chance auf eine friedliche Zukunft eröffnen.
Doch die Moslembrüder haben mächtige islamistische Rivalen, allen voran die Salafisten und unter ihnen die „Nour“-Partei. Sie wittert nun ihre Chance, zur stärksten islamistischen Bewegung am Nil aufzusteigen und hatte es schon im vergangenen Jahr geschafft, viele frustrierte Bürger auf ihre Seite zu ziehen. Sie schlug sich nun auf die Seite der laizistischen Opposition und forderte eine Neuwahl des Präsidenten. Doch sie vertritt ein weit radikaleres Konzept als die Moslembrüder. Sie betrachtet den Weg zur Demokratie als „Kufr“(eine Strategie der Verstellung, um das wahre Ziel – in diesem Fall ein islamisches Kalifat – zu erreichen).
Islamische Bewegungen in der Region , wie insbesondere die „Tochter“ der ägyptischen Moslembruderschaft, die palästinensische Hamas, aber auch ihre Gesinnungsgenossen in Jordanien, in Libyen, im Jemen und anderswo verfolgen die Entwicklungen in Ägypten mit tiefem Unbehagen. Vor allem aber bedeutet die Militärintervention gegen einen gewählten islamistischen Präsidenten einen schweren Rückschlag für die Bemühungen, die gemäßigten Jihadi-Strömungen, allen voran die afghanischen Taliban, in einen politischen Prozess einzugliedern. Keineswegs nur am Nil droht nun die Gefahr, dass radikalere islamistische Gruppen der Demokratie noch weniger glauben als zuvor und nur noch auf Gewalt setzen.
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