Donnerstag, 27. Juni 2013

Ägypter planen die „zweite Revolution“

Massenproteste am 30. Juni sollen Rücktritt Präsident Mursis erzwingen – Wird die Armee intervenieren?

von Birgit Cerha

Am Nil herrscht Hochspannung. Wir d die größte Stabilitätskrise seit dem Sturz Präsident Mubaraks vor fast zweieinhalb Jahren Ägypten in blutige Turbulenzen mit unabsehbarem Ausgang stürzen? Während die Menschen in Kairo unter quälenden sozialen Nöten, Treibstoffmängeln und häufigen Stromausfällen leiden, fürchten viele für kommenden Sonntag das Schlimmste. Armeepanzer haben sich in diversen Stadtvierteln positioniert, und Präsident Mursi ließ um die Haupteinrichtungen des Staates Schutzmauern errichten.

Denn am ersten Jahrestag seiner Amtsübernahme holt diesen ersten freigewählten Präsidenten Ägyptens die Ironie der Geschichte ein. Es wird kein Tag des Triumphes, sondern vielmehr der Beginn einer „zweiten Revolution“, weitgehend von denselben Aktivistengruppen betrieben, die im Februar 2011 Mubarak zu Fall gebracht und den vom gestürzten Diktator jahrzehntelang verfolgten Moslembrüdern den Weg zur Macht geebnet hatten.


Am 30. Juni solleb nach den Vorstellungen jugendlicher Revolutionäre Millionen Ägypter im ganzen Land in die Straßen ziehen und Mursi zum Rücktritt zwingen, so wie einst Mubarak. Die Aktivisten fühlen sich um die Früchte ihrer Revolution betrogen, fest entschlossen, sich nicht durch machtgierige Islamisten auf Dauer vollends aus der politischen Sezen des Landes verjagen zu lassen.. Die Zeichen stehen auf Sturm. Tote und viele Verletzte bei jüngsten kleineren Demonstrationen sind düstere Vorzeichen.


In einer zweieinhalbstündigen TV-Ansprache versuchte Mursi Mittwoch seine aufgebrachten Untertanen zu beschwichtigen, gestand offen Fehler ein, versprach rasche und durchgreifende Reformen, bot seinen Gegnern Gespräche über Änderungen der von ihm im Vorjahr durchgepeitschten Verfassung an und überzeugte niemanden. Die Versprechungen seien nicht neu und schon in der Vergangenheit unerfüllt geblieben, meinen Oppositionelle. Keine Zugeständnisse des Präsidenten, vielmehr die kaum versteckte Drohung gegen „Unruhestifter, die Sicherheit und Stabilität des Staates gefährden“.


Ein Jahr Mursi und der hinter ihm stehenden, ja ihn wahrscheinlich dirigierenden Moslembruderschaft hat Ägypten gefährlich tief gespalten. Zwischen Anhängern der Islamisten vor allem unter der Landbevölkerung und vielen von den neuen Herrschern Enttäuschten, sowie deren deklarierten Gegnern, den Säkularisten, Liberalen, Nationalisten und Sozialisten. Die wachsende Unzufriedenheit hat die lange zersplitterte Opposition geeint. Sie gründete die „Tamarod (Rebellion)-Bewegung und moblisierte in den vergangenen Monaten große Teile der Bevölkerung. In einem eindrucksvollen Aktivismus gelang es den überwiegend jungen Revolutionären, unter der Elite, wie unter den Massen im ganzen Land an die 15 Millionen Unterschriften unter einen Forderungskatalog zu sammeln, der Mursi zum Rücktritt zwingen soll, wenn nicht schon am 30. Juni, dann wollen einige der Oppositionsgruppen so lange demonstrieren, bis sie ihr Ziel erreicht haben.


Eine wachsende Zahl von Ägyptern teilt die Frustrationen der Aktivisten, den Zorn über politische Unfähigkeit des Präsidenten und vor allem seine erfolgreichen Bemühungen die Macht der Moslembrüder am Nil zu zementieren, eine neue Diktatur, unter islamistischen Vorzeichen diesmal, zu errichten. Zugleich blieben alle Versprechen unerfüllt, die Wirtschaft erleidet einen dramatischen Niedergang, die Währung verfällt, der Außenhandel bricht zusammen und die Touristen bleiben zunhemnd aus, während die armen Massen, die soziale Basis der Moslembrüder, bisher vergeblich auf Besserung hofften.


Die „Tamarod“ hat nun die „Front des 30. Juni“ gegründet und ihre politische Vision präsentiert. Danach soll Mursi einer prominenten nationalen Persönlichkeit, die die Ziele der Revolution repräsentiert, als Premierminister alle exekutive Macht übertragen, unter der Voraussetzung, dass dieser neue Führer nicht bei den nächsten Präsidentschaftswahlen kandidiert. Der Chef des Höchsten Verfassungsgerichts soll vorübergehend alle anderen Funktionen des Präsidenten übernehmen. Die Erarbeitung und Durchseertzung eines wirtschaftlichen Rettungsplanes hat allerhöchste Priorität. Die Übergangsphase muß innerhalb von sechs Monaten durch von Richtern und internationalen Beobachtern kontrollierte Präsidentschaftswahlen beendet werden. Danach sind Parlamentswahlen geplant.


Die „Tamarod“ baut auf die Kraft der hinter ihr stehenden Masse, die nach ihrer Einschätzung die Zahl der Wählerstimmen für Mursi bereits überschreitet. Dass sich Mursi und die Moslembrüder aber von derartigen Kalkulationen beeindrucken lassen, ist höchst unwahrscheinlich, haben sie doch jahrzehntelang e Unterdrückung und Verfolgung durchlitten, um endlich die Macht zu erringen. Niemand glaubt, dass sie sie freiwillig wieder aufgeben. Und sie haben bewaffnete Gruppen, einen Teil der gefürchteten Polizei, die eifrig foltert und mordet, wie einst unter Mubarak, auf ihrer Seite.


Schlüsselfrage in diesem gefährlichen Kräftemessen ist die Position der ägyptischen Armee, die Mursi vor fast einem Jahr durch die Garantie ihre enormen Privilegien zu schützen, von der politischen Bühne gedrängt und die sich seither auch tatsächlich aus dem immer wieder dramatisch eskalierenden Geschehen herausgehalten hatte. Fühlen sich die Offiziere ausreichend motiviert, um nun erneut die Zügel an sich zu reißen? Kenner der politischen Szene bezweifeln dies. Die „Tamarod“ aber hoffen, der Oberkommandierende der Streitkräfte, General Abdel-Fattah el-Sissi werde, wie mehrmals angedeutet, friedlich demonstrierende Massen vor Attacken durch militante Anhänger Mursis schützen. Nur ein totaler Zusammenbruch der Ordnung wird wohl das Militär zur Intervention bewegen. Vergangenen Sonntag hatte Sissi beide Seiten gedrängt, innerhalb von einer Woche eine Einigung zu finden, um Blutvergießen zu vermeiden, Und erstmals drohte der sich bisher weitgehend neutral präsentierende General mit einer Intervention, um den Absturz des Staates in ein „dunkles Tunnel“ zu verhindern.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen