Donnerstag, 21. März 2013

Die vergessenen Flüchtlinge des Iraks

Ein großer Teil der mehr als vier Millionen Vertriebenen ist auch zehn Jahre nach Kriegsbeginn einem katastrophalen Schicksal hilflos ausgeliefert
 
von Birgit Cerha
 
Fast täglich dringen alarmierende Meldungen über den anschwellenden Strom von Flüchtlingen aus dem syrischen Kriegsgebiet. Die verzweifelte Not der dem Terror Syriens Entronnenen beginnt erst allmählich das Weltgewissen wachzurütteln. Die syrische Flüchtlingstragödie aber ist nur die jüngste in einer Reihe humanitärer Katastrophen, die die jüngste Geschichte des Mittleren Ostens charakterisiert und die künftige Entwicklungen entscheidend mitbestimmen wird.
Die Geschichte lehrt, dass die Flüchtlinge aus Nahostkonflikten in großen Zahlen keine gesicherte Existenz mehr finden, ja meist nicht einmal angemessene Lebensbedingungen. Die Palästinenser können davon auch nach drei Generationen immer noch ein Lied singen. Und den syrischen Flüchtlingen, die voll Bangen die Zerstörung ihrer Heimat in elenden Lagern Jordaniens oder der Türkei verfolgen, verheißt das Schicksal ihrer irakischen Leidensgenossen eine düstere Zukunft. Die Pein der aus ihren Heimen im Irak Vertriebenen bleibt  der internationalen Gemeinschaft weitgehend verborgen. Hunderttausende Opfer sind seit Jahren ihrem Schicksal hilflos ausgeliefert.
Seit der Geburt ihres Staates vor rund neun Jahrzehnten erlitten die Bürger des Iraks wiederholte Wellen von Zwangsmigrationen, vor allem die Kurden im Norden trieben die Genozid-Attacken des Diktators Saddam Hussein immer wieder zu Hunderttausenden in die Nachbarstaaten. Doch der Flüchtlingsstrom, den der 2003 von den USA angeführte Krieg gegen Saddam vom Zaum brach, übertraf die schlimmsten Tragödien der Region. Die UNO qualifiziert ihn gar als eine der gravierendsten Flüchtlingsprobleme der Welt. Die stärkste Welle wurde 2006 durch das Bombenattentat auf das Schiitenheiligtum, die Al-Askaria-Moschee in Samarra, ausgelöst, das den Auftakt zu einem  grausamen Krieg zwischen arabischen Sunniten und Schiiten bildete. Humanitäre Organisationen sprachen 2007 von 60.000 Irakern, die seit dem Anschlag in Samarra allmonatlich flüchteten. Genaue Zahlen kennt niemand, doch die UNO schätzt, dass zwischen 2006 und 2009 mehr als zwei Millionen Iraker (fast zehn Prozent der Bevölkerung) das Land verließen, die große Mehrheit fand in Syrien und in Jordanien Zuflucht. Die Zahl der Intern-Vertriebenen ((Internally Displaced Persons, IDP) wird auf 2,7 Millionen geschätzt. Die Dunkelziffer ist hoch.
In Jordanien harren die meisten immer noch aus, weil sie, wie  lange auch ihre Leidensgenossen lange auch in Syrien, die Heimkehr in ein immer noch instabiles, von Wellen neuer Gewalt gequältes Land nicht wagen. Jordanien hält zwar seine Grenzen offen, auch für Flüchtlinge aus Syrien, ein Großteil der Iraker aber erhielt keinen formellen Flüchtlingsstatus, lebt verstreut im Land , und findet kaum Unterstützung, Ähnlich stellte sich die Situation in Syrien vor Ausbruch des Krieges 2011 dar. Den meisten Flüchtlingen wird auch die Arbeitsgenehmigung verwehrt.
In Syrien holte die Iraker unterdessen der Horror ein, dem sie daheim entronnen waren. Tausende entschlossen sich deshalb  in den vergangenen Monaten zur Rückkehr. Doch in der Heimat müssen die meisten von ihnen nun das verzweifelte Schicksal von Hunderttausenden IDPs teilen.
Iraks gigantische Fluchtwelle ist das Ergebnis einer bewußt und hemmungslos durchgeführten Strategie „religiöser Säuberungen“ mit direkten Todesdrohungen durch bewaffnete Milizen. Die „International Organisation for Migration“ (IOM) stellt in einer Studie über das Schicksal von einer Million Flüchtlingen fest, dass die meisten aus gemischten  sunnitisch-schiitischen Regionen, insbesondere Bagdads (wo 65 Prozent der IDPs gelebt hatten) stammen. Sie suchten Schutz in den von ihren Gläubensbrüdern bewohnten Gebieten. Viele Schiiten flüchteten aus den zentralirakischen Provinzen in den von Schiiten dominierten Süden, Sunniten aus gemischten Gemeinschaften im Süden in sunnitische Gegenden des Zentral- und Nord-Iraks, während Angehörige religiöser und ethnischer Minderheiten – Christen, Yeziden und Turkmenen – im kurdischen Nord-Irak Sicherheit fanden oder ins Ausland emigrierten.
Intern-Vertriebene, die nicht bei Angehörigen oder Freunden Unterschlupf fanden und auch nicht über genügend  Geld verfügten, um Wohnungen zu mieten, besetzten öffentliche Gebäude oder errichteten notdürftige Unterkünfte an den Rändern der Städte, wo die Slums dramatisch wuchsen. Hunderttausende IDPs leben auch zehn Jahre nach Kriegsbeginn immer noch in diesen Elendsbehausungen, wo sich ihnen seit dem Vorjahr 70.000 Heimkehrer aus Syrien anschlossen. Bis heute hat es die irakische Regierung nicht geschafft, diese Heimatlosen mit den grundlegenden Dienstleistungen zu versorgen, wie eine gesicherte Unterkunft, Storm, Wasser, sanitäre Einrichtungen, Zugang zu Nahrungsmitteln, Gesundheitsversorgung und Schulen Zudem quält diese Menschen die stete Angst, von den Behörden aus ihren Elendsquartieren verjagt zu werden, was mit zunehmender Häufigkeit geschieht.  66 Prozent der IDPs sind laut „International Organisation for Migration“ arbeitslos und besitzen nicht genug Geld für das Lebensnotwendigste, allein in Bagdad dürften dies mindestens 150.000 Menschen sein. Zudem
Der größte Teil der Intern-Vertriebenen hat, ebenso wie die Heimkehrer, keine Chance, in ihre alten Häuser und Wohnungen zurückzukehren, da diese längst von Angehörigen der jeweils anderen Religionsgruppe besetzt sind. Die Regierung hat bis heute den extrem komplexen bürokratischen Prozess zur Wiedererlangung verlorenen Besitzes nicht vereinfacht. Es fehlen dazu Entschlossen, ja überhaupt der politische Wille.  Vor zwei Jahren mahnte das damals führende Mitglied der „Human Rights of IDPs“, der schweizer  Völkerrechtsexperte Walter Kaelin, die Lösung des Vertriebenen-Problems im Irak sei eine „dringende politische Notwendigkeit“, eine zentrale Voraussetzung für Versöhnung und Friedensbildung in diesem zerrissenen Land.
Tatsächlich, so befürchten auch andere Experten, bergen ein ungelöstes internes Flüchtlingsproblem, wachsendes Elend und Hoffnungslosigkeit unter Hunderttausenden Menschen eine gefährlichen Sprengstoff. Iraks Regierung Maliki hat die Dringlichkeit dieser humanitären Tragödien bis heute nicht begriffen und die internationale Gemeinschaft hat die Not der irakischen Flüchtlinge längst in der humanitären Prioritätenliste weit hinuntergesetzt.
Ein anderes dringendes Problem ist das Schicksal von Tausenden Irakern, die  jahrelang ihr Leben riskiert hatten, um die US-Besatzer zu unterstützen. Nach einem von den USA 2008 verkündeten speziellen Immigrantenvisa-Programm sollten innerhalb der nächsten fünf Jahre jährlich 5000 Visa an Iraker und deren Familien erteilt werden, die für die Amerikaner gearbeitet hatten und deshalb zur Zielscheibe des Widerstandes und des Al-Kaida-Terrors wurden. Viele von ihnen wurden in den vergangenen Jahren entführt oder ermordet. Drohungen gegen sie halten auch nach dem vollständigen Abzug der US-Truppen im Dezember 2011 an.  Aufgrund bürokratischer Ineffizienz der US-Visabteilung erhielten bisher nur 5.500, statt wie geplant 25.000 Iraker Visa in die USA und das Programm läuft dieses Jahr aus. Tausende Iraker, die einst im Dienst der Supermacht gestanden waren, bleiben damit weiterhin höchsten Gefahren ausgesetzt.
 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen