Ein großer Teil der mehr als vier Millionen Vertriebenen ist
auch zehn Jahre nach Kriegsbeginn einem katastrophalen Schicksal hilflos
ausgeliefert
von Birgit Cerha
Fast täglich dringen alarmierende Meldungen über den
anschwellenden Strom von Flüchtlingen aus dem syrischen Kriegsgebiet. Die
verzweifelte Not der dem Terror Syriens Entronnenen beginnt erst allmählich das
Weltgewissen wachzurütteln. Die syrische Flüchtlingstragödie aber ist nur die
jüngste in einer Reihe humanitärer Katastrophen, die die jüngste Geschichte des
Mittleren Ostens charakterisiert und die künftige Entwicklungen entscheidend
mitbestimmen wird.
Die Geschichte lehrt, dass die Flüchtlinge aus
Nahostkonflikten in großen Zahlen keine gesicherte Existenz mehr finden, ja
meist nicht einmal angemessene Lebensbedingungen. Die Palästinenser können
davon auch nach drei Generationen immer noch ein Lied singen. Und den syrischen
Flüchtlingen, die voll Bangen die Zerstörung ihrer Heimat in elenden Lagern
Jordaniens oder der Türkei verfolgen, verheißt das Schicksal ihrer irakischen
Leidensgenossen eine düstere Zukunft. Die Pein der aus ihren Heimen im Irak
Vertriebenen bleibt der internationalen
Gemeinschaft weitgehend verborgen. Hunderttausende Opfer sind seit Jahren ihrem
Schicksal hilflos ausgeliefert.
Seit der Geburt ihres Staates vor rund neun Jahrzehnten
erlitten die Bürger des Iraks wiederholte Wellen von Zwangsmigrationen, vor
allem die Kurden im Norden trieben die Genozid-Attacken des Diktators Saddam
Hussein immer wieder zu Hunderttausenden in die Nachbarstaaten. Doch der
Flüchtlingsstrom, den der 2003 von den USA angeführte Krieg gegen Saddam vom
Zaum brach, übertraf die schlimmsten Tragödien der Region. Die UNO qualifiziert
ihn gar als eine der gravierendsten Flüchtlingsprobleme der Welt. Die stärkste
Welle wurde 2006 durch das Bombenattentat auf das Schiitenheiligtum, die
Al-Askaria-Moschee in Samarra, ausgelöst, das den Auftakt zu einem grausamen Krieg zwischen arabischen Sunniten
und Schiiten bildete. Humanitäre Organisationen sprachen 2007 von 60.000
Irakern, die seit dem Anschlag in Samarra allmonatlich flüchteten. Genaue
Zahlen kennt niemand, doch die UNO schätzt, dass zwischen 2006 und 2009 mehr
als zwei Millionen Iraker (fast zehn Prozent der Bevölkerung) das Land verließen,
die große Mehrheit fand in Syrien und in Jordanien Zuflucht. Die Zahl der
Intern-Vertriebenen ((Internally Displaced Persons, IDP) wird auf 2,7 Millionen
geschätzt. Die Dunkelziffer ist hoch.
In Jordanien harren die meisten immer noch aus, weil sie,
wie lange auch ihre Leidensgenossen
lange auch in Syrien, die Heimkehr in ein immer noch instabiles, von Wellen
neuer Gewalt gequältes Land nicht wagen. Jordanien hält zwar seine Grenzen
offen, auch für Flüchtlinge aus Syrien, ein Großteil der Iraker aber erhielt
keinen formellen Flüchtlingsstatus, lebt verstreut im Land , und findet kaum
Unterstützung, Ähnlich stellte sich die Situation in Syrien vor Ausbruch des
Krieges 2011 dar. Den meisten Flüchtlingen wird auch die Arbeitsgenehmigung
verwehrt.
In Syrien holte die Iraker unterdessen der Horror ein, dem
sie daheim entronnen waren. Tausende entschlossen sich deshalb in den vergangenen Monaten zur Rückkehr. Doch
in der Heimat müssen die meisten von ihnen nun das verzweifelte Schicksal von
Hunderttausenden IDPs teilen.
Iraks gigantische Fluchtwelle ist das Ergebnis einer bewußt
und hemmungslos durchgeführten Strategie „religiöser Säuberungen“ mit direkten
Todesdrohungen durch bewaffnete Milizen. Die „International Organisation for
Migration“ (IOM) stellt in einer Studie über das Schicksal von einer Million
Flüchtlingen fest, dass die meisten aus gemischten sunnitisch-schiitischen Regionen, insbesondere
Bagdads (wo 65 Prozent der IDPs gelebt hatten) stammen. Sie suchten Schutz in
den von ihren Gläubensbrüdern bewohnten Gebieten. Viele Schiiten flüchteten aus
den zentralirakischen Provinzen in den von Schiiten dominierten Süden, Sunniten
aus gemischten Gemeinschaften im Süden in sunnitische Gegenden des Zentral- und
Nord-Iraks, während Angehörige religiöser und ethnischer Minderheiten –
Christen, Yeziden und Turkmenen – im kurdischen Nord-Irak Sicherheit fanden
oder ins Ausland emigrierten.
Intern-Vertriebene, die nicht bei Angehörigen oder Freunden
Unterschlupf fanden und auch nicht über genügend Geld verfügten, um Wohnungen zu mieten,
besetzten öffentliche Gebäude oder errichteten notdürftige Unterkünfte an den
Rändern der Städte, wo die Slums dramatisch wuchsen. Hunderttausende IDPs leben
auch zehn Jahre nach Kriegsbeginn immer noch in diesen Elendsbehausungen, wo
sich ihnen seit dem Vorjahr 70.000 Heimkehrer aus Syrien anschlossen. Bis heute
hat es die irakische Regierung nicht geschafft, diese Heimatlosen mit den
grundlegenden Dienstleistungen zu versorgen, wie eine gesicherte Unterkunft,
Storm, Wasser, sanitäre Einrichtungen, Zugang zu Nahrungsmitteln,
Gesundheitsversorgung und Schulen Zudem quält diese Menschen die stete Angst,
von den Behörden aus ihren Elendsquartieren verjagt zu werden, was mit
zunehmender Häufigkeit geschieht. 66
Prozent der IDPs sind laut „International Organisation for Migration“
arbeitslos und besitzen nicht genug Geld für das Lebensnotwendigste, allein in
Bagdad dürften dies mindestens 150.000 Menschen sein. Zudem
Der größte Teil der Intern-Vertriebenen hat, ebenso wie die
Heimkehrer, keine Chance, in ihre alten Häuser und Wohnungen zurückzukehren, da
diese längst von Angehörigen der jeweils anderen Religionsgruppe besetzt sind.
Die Regierung hat bis heute den extrem komplexen bürokratischen Prozess zur
Wiedererlangung verlorenen Besitzes nicht vereinfacht. Es fehlen dazu
Entschlossen, ja überhaupt der politische Wille. Vor zwei Jahren mahnte das damals führende
Mitglied der „Human Rights of IDPs“, der schweizer Völkerrechtsexperte Walter Kaelin, die Lösung
des Vertriebenen-Problems im Irak sei eine „dringende politische Notwendigkeit“,
eine zentrale Voraussetzung für Versöhnung und Friedensbildung in diesem
zerrissenen Land.
Tatsächlich, so befürchten auch andere Experten, bergen ein
ungelöstes internes Flüchtlingsproblem, wachsendes Elend und Hoffnungslosigkeit
unter Hunderttausenden Menschen eine gefährlichen Sprengstoff. Iraks Regierung
Maliki hat die Dringlichkeit dieser humanitären Tragödien bis heute nicht
begriffen und die internationale Gemeinschaft hat die Not der irakischen
Flüchtlinge längst in der humanitären Prioritätenliste weit hinuntergesetzt.
Ein anderes dringendes Problem ist das Schicksal von
Tausenden Irakern, die jahrelang ihr
Leben riskiert hatten, um die US-Besatzer zu unterstützen. Nach einem von den
USA 2008 verkündeten speziellen Immigrantenvisa-Programm sollten innerhalb der
nächsten fünf Jahre jährlich 5000 Visa an Iraker und deren Familien erteilt
werden, die für die Amerikaner gearbeitet hatten und deshalb zur Zielscheibe
des Widerstandes und des Al-Kaida-Terrors wurden. Viele von ihnen wurden in den
vergangenen Jahren entführt oder ermordet. Drohungen gegen sie halten auch nach
dem vollständigen Abzug der US-Truppen im Dezember 2011 an. Aufgrund bürokratischer Ineffizienz der
US-Visabteilung erhielten bisher nur 5.500, statt wie geplant 25.000 Iraker
Visa in die USA und das Programm läuft dieses Jahr aus. Tausende Iraker, die
einst im Dienst der Supermacht gestanden waren, bleiben damit weiterhin
höchsten Gefahren ausgesetzt.
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