Kann das türkische Höchstgericht tatsächlich das
heißumstrittene Ilisu-Staudammprojekt stoppen? – Was bedeutet dies für
Zehntausende Betroffene?
Das Projekt des
Ilisu-Staudamms am Tigris im kurdischen Südosten der Türkei zählt zu den
umstrittensten seiner Art weltweit. Zwei Mal sind die Baupläne an internationalem
Widerstand gescheitert. 2002 zogen sich europäische Finanzgeber zurück und im
Juli 2009 entschieden sich Europäische Exportkreditagenturen aus sozialen
Gründen und der Sorge um enormen Schaden für die Umwelt, ihre bereits
gebilligte Unterstützung dieses gigantischen Projektes aufzugeben. Der geplante
Damm ist Teil des Südostanatolien-Projekts, das den Bau von insgesamt 22 Staudämmen
entlang von Euphrat und Tigris vorsieht.
Doch die türkische
Regierung lässt sich von Kritikern des Ilisu-Dammes nicht überzeugen und hat
bereits vor einiger Zeit mit Bauarbeiten begonnen. Eine 1.820 Meter breite und
135 Meter hohe Kraftwerksmauer soll den Tigris kurz vor der türkisch-irakischen
Grenze zu einem 313 Quadratkilometer großen künstlichen See aufstauen. Wird das
Projekt vollendet, verlieren bis zu 80.000 Menschen ihre Heime, die 10.000 Jahre
alte Stadt Hasankeyf, ein kulturhistorisches Unikat, das die UNESCO aber bis
heute nicht zum Weltkulturerbe erklärte, weil das entsprechende offizielle
Ansuchen vom türkischen Staat bisher ausblieb, wird zu großen Teilen in den
Fluten des Stausees ertränkt, ganz zu schweigen von den unwiederbringlichen
Schäden an der biologischen Vielfalt der Region.
Am 7. Januar ordnete
allerdings der Oberste Gerichtshof der Türkei einen sofortigen Baustopp an und
gab damit einer Klage der türkischen Architekten- und Ingenieurskammer (TMMOB)
recht, dass das Großprojekt den geltenden Landesgesetzen zum Schutz von
Kulturgütern widerspreche. Für Hasankeyf besteht damit neue Hoffnung. Dennoch
bleibt fraglich, ob das Urteil auf Dauer halten wird. Experten, wie der Aktivist
Ulrich Eichelmann, halten es für wahrscheinlich, dass die Regierung in Ankara „den
Beschluss des Gerichts ignoriert und stattdessen im Eilverfahren neue Gesetze
beschließt“.
Zahlreiche NGOs und
Tausende Menschen in der Region bekämpfen seit Jahren den Bau. Sie zu
unterstützen, ist dringender denn je.Ein Interview mit dem türkischen
Wasserbauingenieur Ercan Ayboga gibt wertvollen Aufschluss über den
gegenwärtigen Stand der Entwicklungen in dieser heißumstrittenen Frage.
Wir möchten in diesem
Zusammenhang auch auf internationale Aktivitäten zum Schutz der betroffenen
Menschen, der Umwelt und der Stadt Hasankeyf aufmerksam machen:
Declaration on the Myth of Destructive Dams as Clean Energy and the
Urgent Need to Protect Rivers
Protect Hasankeyf on the Tigris River
Ein Interview mit dem türkischen Wasserbauingenieur Ercan
Ayboga, das a, 8. Januar 2013 in „junge Welt“ erschienen ist, gibt einen wertvollen
Überblick über den gegenwärtigen Stand der Entwicklungen in dieser
heißumstrittenen Frage.
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Tageszeitung junge Welt
08.01.2013
»Die Hälfte der Betroffenen bekommt
gar nichts«
Der Ilisu-Staudamm im kurdischen Osten der Türkei wird zügig
weitergebaut. 80000 Menschen betroffen. Ein Gespräch mit Ercan Ayboga
Interview: Nick Brauns
Ercan Ayboga ist Wasserbauingenieur und Sprecher der
Kampagne zur Rettung von Hasankeyf
Die staatlichen Exportrisikoversicherer Deutschlands,
Österreichs und der Schweiz haben 2009 ihre Bürgschaften für den Bau des
Ilisu-Großstaudamms am Oberlauf des Tigris im kurdischen Ort zurückgezogen,
weil die Türkei die Auflagen für Umwelt- und Kulturschutz sowie Umsiedlungen
nicht erfüllt hatte. Doch 2010 verkündete Ministerpräsident Recep Tayyip
Erdogan den Weiterbau. Wer finanziert und baut nun den Damm, und wie weit ist
der Bau fortgeschritten?
2009 hat die österreichische Andritz die Anteile von
Züblin/BRD und Alstom/CH gekauft und ist somit führend am Bau beteiligt,
zusammen mit vier türkischen Firmen. Die Kredite kommen von drei türkischen
Banken.
Im August 2012 wurden nach über zwei Jahren die
Umleitungstunnel für den Fluß fertiggestellt. Nach offiziellen Angaben soll der
Bau Ende 2014 fertig sein; wir gehen von 2015 aus. Die Füllung des riesigen
Stauraums dauert zwischen sechs Monaten und zwei Jahren. Vier Dörfer sind bis
jetzt komplett umgezogen, die große Umsiedlungswelle hatte vor drei Monaten
begonnen.
Bis zu 80000 Menschen droht durch den Staudammbau die
Vertreibung aus ihren Dörfern oder der Verlust ihres Ackerlandes. Welche
Perspektiven haben diese Menschen?
Sie bekommen in der Regel eine im internationalen Vergleich
geringe Geldsumme. Auch weil sie auf ihr neues Leben nicht vorbereitet werden,
landen sie mittelfristig in der Armut. Es gäbe auch die Möglichkeit, sie
anderswo anzusiedeln – da allerdings unklar ist, wovon sie dort leben sollen,
entscheiden sich die meisten für eine finanzielle Entschädigung. Knapp die
Hälfte der Betroffenen bekommt allerdings gar nichts, da sie kein Land besitzen
und für Großgrundbesitzer arbeiten. Sie werden die größten Verlierer sein.
Gehen die Proteste in der Türkei weiter?
Die Initiative zur Rettung von Hasankeyf organisiert sich in
diesen Wochen nach einer anderthalbjährigen Schwächephase neu und will im
Frühjahr mit großen Protesten loslegen. Die Stagnation der Kampagne ist neben
Motivationslosigkeit auch der allgemeinen Repression des türkischen Staates
gegen die kurdische Demokratiebewegung geschuldet. Vielen Inhaftierten wird der
Einsatz gegen den Staudammbau als Anklagepunkt vorgehalten.
Neben rund 200 Dörfern wird durch den Staudammbau auch die
mindestens 11000 Jahre alte Stadt Hasankeyf überflutet. Wie realistisch ist die
von der Regierung versprochene Versetzung einiger historischer Bauwerke in
einen archäologischen Park?
Dieser Park ist nur eine Farce, er soll die Gemüter
beruhigen. Alle diese Bauwerke werden unwiederbringlich verlorengehen. Es gibt
bisher keine Pläne, wie die Umsetzung geschehen soll. Im März 2012 haben wir
zusammen mit irakischen und iranischen Nichtregierungsorganisationen eine Petition
an die UNESCO gerichtet, damit sie sich dafür einsetzt, Hasankeyf und die
Mesopotamischen Sümpfe im Südirak zum Weltkulturerbe zu erklären. Wir haben
bisher mehr als 60000 Unterschriften dafür gesammelt, aber die UNESCO schweigt
bislang.
Welche Folgen wird die Aufstauung des Tigris für das
Nachbarland Irak haben?
Mehrere Millionen Menschen werden davon betroffen sein, da
die Türkei knapp die Hälfte des Flußwassers für sich behalten will. Die
Trinkwasserversorgung der meisten Städte und die auf Bewässerung basierende
Landwirtschaft hängen vom Tigris ab, und die erwähnten Sümpfe drohen
auszutrocknen. Seit dem Sommer gibt es auch im Irak eine Kampagne gegen Ilisu –
wir haben sie mit angestoßen. Es wird auch eine Klage gegen Andritz geprüft.
Gemeinsam mit irakischen und iranischen Gruppen haben wir zudem das Netzwerk
Ekopotamya gegründet, um grenzübergreifend gegen zerstörerische Großstaudämme
und für eine gerechte Verteilung der Ressourcen zu kämpfen.
http://www.jungewelt.de/2013/01-08/036.php?sstr=ilisu
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Lesen Sie dazu auch das Buch „Hasankeyf und seine Zukunft – Todesurteil für einen Kulturschatz“, das Sie bei uns bestellen können
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