Sonntag, 9. Dezember 2012

Mursis Schachzug beschwichtigt Opposition nicht

 Verzicht auf Sondervollmachten kommt zu spät – Ägyptens Streitkräfte  melden sich angesichts anhaltender Konfrontation als starke Kraft zurück
 
von Birgit Cerha
 
Über dem Zentrum von Kairo kreisten Sonntag F-16 Jets der ägyptischen Luftwaffe. Diese seltene Aktion der Streitkräfte, die sich nach ihrer Entmachtung durch Präsident Mursi vor einem halben Jahr aus der politischen Szene zurückgezogen hatten, verleihen der unverhohlenen Warnung der Offiziere vom Samstag zusätzliches Gewicht. Die Armeeführung hatte sich erstmals seit Juli wieder zu Wort gemeldet und in einer insbesondere gegen Mursi gerichteten Warnung eine Intervention angedroht, sollten Mursi und seine Moslembrüder den Streit mit ihren Gegnern nicht durch Dialog schlichten und so verhindern, dass Ägypten „in ein finsteres Tunnel mit katastrophalen Folgen“ schlittere. „Das ist etwas, was wir nicht zulassen werden“, hieß es in einer Erklärung der Militärs.
Es war wohl dieser Druck gewesen, der Mursi Samstag zu einer abrupten Konzession  bewogen hatte. Doch die Annullierung der Sondervollmachten vom 22. November, durch die er sich und seine Entscheidungen über das Gesetz gestellt und den Richtern das Recht abgesprochen hatte, die von Islamisten dominierte Verfassungsgebende Versammlung aufzulösen,  beschwichtigte Mursis Kritiker nicht. Sprecher der „Freien ägyptischen Partei“ und andere Liberale verwarfen diesen Rückzug  als bedeutungsloses „politisches Manöver“ , da Mursi weiterhin auf dem Referendum über den vor einer Woche durchgepeitschten Verfassungsentwurf  beharre. Ein Sprecher Mursis weist darauf hin, dass nach geltender Verfassung der Präsident den von der Versammlung festgesetzten Termin des 15. Dezembers nicht verschieben könne, um der Bevölkerung, wie die Opposition es fordert, mehr Zeit zur Diskussion über die heftig umstrittenen Verfassungsparagraphen zu geben. Mehr Zeit will Mursi seinen Gegnern keinesfalls schenken, da er vor allem befürchtet, die Justiz werde sie nützen, um den Entwurf mit der Begründung für illegal zu erklären, dass er von einer das Volk nicht repräsentierenden Versammlung im Eilverfahren verabschiedet worden sei.
Was als wesentliches Zugeständnis erscheint – Annullierung der Sondervollmachten – hat tatsächlich unterdessen vollends an Bedeutung verloren. Mit diesen diktatorischen Rechten verfolgte Mursi primär ein Ziel: Ägypten eine – von den Vorstellungen der Moslembrüder geprägte – Verfassung zu geben, und die Justiz wollte genau dies verhindern. Ein von der Mehrheit der Bevölkerung gebilligtes Grundgesetz kann aber nicht mehr angefochten werden.
Massiv unter Druck geraten, will Mursi deshalb  nun das Volk entscheiden lassen. Zur Wahl steht am 15. Dezember ein „Ja“ oder ein „Nein“ zum Verfassungsentwurf. Siegt das „Nein“, verspricht der Präsident die Bildung einer neuen Versammlung, die erneut einen Entwurf ausarbeiten soll. Der ganze mühselige Prozess würde wieder von vorne beginnen und Ägypten weiterhin nicht zu Stabilität und ökonomischer Erholung finden – eine Aussicht, die zweifellos großen Bevölkerungskreisen enormes Unbehagen bereitet. Der Opposition versuchte der Präsident mit einem Appell entgegenzukommen, Änderungswünsche anzumelden, sie in einem Annex an den Entwurf zuheften und das – erst noch zu wählende -  Parlament würde diese dann in seiner ersten Sitzung behandeln. Ein Trostpflaster, das niemand ernst nimmt.
Die Chance auf ein „Ja“ am 15. Dezember ist groß, nicht nur wegen der eindrucksvollen Mobilisierungskünste der Moslembrüder. In vielen Moscheen des Landes werden, so fürchten liberale Kreise – die Geistlichen den Verfassungskonflikt zu einer Frage von „Für“ oder „Gegen Gott“ simplifizieren. Anderseits hat Ägyptens höchste islamische Autorität, „Al-Azhar“, den Verfassungsentwurf kritisiert, da er vor allem den Nicht-Muslimen – insbesondere den acht Millionen Kopten – keinerlei Sicherheit im neuen Ägypten bietet. Die Angst, dieser Entwurf ebne den Moslembrüder den Weg zur Theokratie treibt die Gegner zu neuen Protesten, die möglicherweise in einen Generalstreik münden und noch größeren Turbulenzen.

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