Das Land ist – unversöhnlich – tief gespalten, die
Opposition im Dilemma und kein Ausweg aus der Krise zeichnet sich ab
von Birgit Cerha
„Der echte Ägypter sagt Nein zum Verfassungsentwurf“,. Solch schwarze Aufschriften an Plakat- und
Häuserwänden in Kairo und anderen ägyptischen Städten konkurrieren mit der
Werbung für „die beste Konstitution in der Geschichte Ägyptens“. Eine
emphatische, fast hysterische Kampagne der zwei unversöhnlichen Lager, in die
Ägypten 22 Monate nach Beginn einer so hoffnungsvollen Revolution für Würde und
Freiheit heute gespalten ist, reißt das Land noch weiter auseinander. Präsident
Mursi und seine hochorganisierten islamistischen Anhänger verbinden mit Hilfe
der Moscheen den Samstag zur Volkabstimmung stehenden Verfassungsentwurf mit
dem Glauben an Allah. Die Gegner, die nach groben Schätzungen wohl auch rund 50
Prozent der Bevölkerung hinter sich haben dürften, fürchten den erneuten
Rückfall in Despotie, die sie nach all dem Leid der vergangenen Jahrzehnten unter
allen Umständen verhindern wollen.
Vor wenigen Monaten hatte Mursi im Wahlkampf um die
Präsidentschaft eine Verfassung „für
alle Ägypter“ verheißen. Doch das Dokument, das nun dem Volk zur Billigung
vorliegt, setzt sich über die Wünsche und Grundprinzipien der ägyptischen
Nationalisten, der Liberalen, der Linken und der Christen hinweg. Die Stimmung in beiden Lagern verheißt
Eskalation der Konflikte. Vergeblich versuchte das Militär, untermauert von
vagen Drohungen einer möglichen Intervention, die Wogen zu glätten.
Versöhnungsgespräche, zu denen die Generäle beide Seiten gerufen hatten, wurden
auf unbestimmte Zeit verschoben, weil die Reaktionen auf die Einladung „nicht
das gewünschte Ausmaß erreicht hatten“.
Da Mursi sich weigerte, dem Drängen der erstmals seit dem
Sturz Diktator Mubaraks vereinten Oppositionsgruppen nachzugeben und das
Referendum abzusagen oder zumindest zu verschieben, bis ein Konsens gefunden
ist, wählen die Ägypter am Samstag in einer Atmosphäre extremer Anspannung und
Polarisation . Ägyptische Analysten halten den politischen und sozialen
Kontext, in dem das Votum stattfindet für mindestens ebenso wichtig wie das
Dokument selbst. „Wie können wir über ein im allgemeinen Konsens geschaffenes
Dokument sprechen, wenn die Straße so tief gespalten ist“, schreibt der
Kommentator Ziad Bahaaeddin. „Wie können
wir glauben, dass die Ratifizierung eines solchen Dokuments zu Stabilität und
Entwicklung führt?“ In einer gemeinsamen Erklärung beklagt eine Gruppe von
Universitätsprofessoren die „tiefe ideologische und politische Polarisierung,
die den aufkeimenden demokratischen Übergangsprozess an den Rand des Abgrunds
treibt“. Und diese ägyptische
Intelligenz schiebt offen Mursi die Verantwortung für nicht geschaffenen
Konsens zu. Unter den Verfassern ist
auch ein Präsidentenberater.
Der unter Führung des Friedensnobelpreisträgers Mohammed el
Baradei neugebildete „Nationale
Rettungsfront“ (NRF) aus liberalen, linken und nationalistischen Fraktionen
kritisiert den Entwurf, weil er ihrer Ansicht nach soziale, ökonomische
Bedürfnisse der Bevölkerung vernachlässigt, nicht die Wünsche des ägyptischen
Volkes spiegelt und eine „präsidiale Diktatur“ in Kraft setzen werde.
Die NRF gab ihren ursprünglichen Boykottplan vorerst auf und
wirbt emphatisch für ein „Nein“, da ein Boykott die Verabschiedung der
Verfassung garantieren und der Protest durch ein „Nein“ weit klarer zum Ausdruck käme. Mursi
wirbt für das „Ja“ mit dem Argument, dass ansonsten Ä’gypten wieder an den
Nullpunkt zurückgeworfen wäre. Die Opposition knüpft ihre Beteiligung jedoch an
fünf Bedingungen, darunter jene, dass das Referendum nur an einem Tag – dem 15.
Dezember – stattfindet und nicht, wie nun geplant, in zwei Teilen, da
angesichts eines angedrohten Boykotts der Richter, die eine lückenlose
Überwachung, wie es die derzeit geltenden Verfassungsbestimmungen vorschreiben,
an einem Tag nicht gewährleistet ist.
Das Mursi alle fünf Bedingungen erfüllen wird, erscheint
zweifelhaft und damit steht ein großes Fragezeichen über dem gesamten Prozeß,
der unter Ausländsägyptern bereits begonnen hat. Beobachter halten es für
höchst wahrscheinlich, dass Mursis Moslembrüder dank der starken Disziplin
ihrer Bewegung ein mehrheitliches „Ja“ erreichen. Die Opposition wird dies kaum
akzeptieren und die Spaltung wird sich so noch tiefer in das Land fressen.
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