Die zahlreichen vagen Formulierungen des Dokuments öffnen Machtmißbrauch und islamistischer Autokratie Tür und Tor
von Birgit Cerha
Der nun zur Abstimmung stehende Verfassungsentwurf „gehört“
laut Friedensnobelpreisträger Mohammed el Baradei „in den Mistkübel der
Geschichte“. Präsident Mursis Anhänger
werten ihn als das beste Dokument in der Geschichte Ägyptens, da es nicht von
einer Expertenelite, sondern von einem gewählten Gremium geschrieben worden
sei, das den wahren Willen des Volkes
repräsentiere. Und sie verschweigen in ihrer Propaganda die Tatsache,
dass ein Drittel der Mitglieder der Verfassungsgebenden Versammlung (die Säkularisten und Christen) aus Protest gegen
das Diktat der Islamisten aus dem Gremium ausgezogen waren.
Das dann von Mursi und seinen Gesinnungsgenossen
durchgepeitschte Dokument umfaßt 46 Seiten, eine elfteilige Präambel und 236
Artikel, die eine Vielzahl von Bereichen – von der Justiz bis zum
Menschenhandel – behandeln. Nach unabhängiger Einschätzung enthält der Entwurf
die für eine Verfassung allgemein nötigen Merkmale. Er charakterisiert den
Staat als unabhängig und demokratisch, betont die Achtung der Menschenrechte
seiner Bürger, den Schutz des privaten
wirtschaftlichen Strebens und sieht ein Präsidentschaftssystem vor, das jenem
Frankreichs ähnelt, dem Staatschef aber sogar noch mehr Macht einräumt und die
Rolle des Premierministers nur vage beschreibt.
Experten bemängeln jedoch vor allem die oft vagen und
mehrdeutigen Formulierungen gerade auch der wichtigsten Verfassungsparagraphen,
die juristischen Streitgesprächen und
Interpretationen freien Raum lassen, insbesondere aber ein beunruhigendes
Vakuum schaffen, dass in beträchtlichem Umfang zum Mißbrauch von Macht genützt
werden kann.
Artikel zehn etwa ermächtigt den Staat zum Schutz der Sitten
und Moral und könnte in seiner
extremsten Auslegung zur Gründung einer islamisch orientierten „Moralpolizei“
führen – ein Faktum, das nicht nur Liberale, sondern vor allem Christen
zutiefst beunruhigt. Darüber hinaus können die wiederholten Phrasen wie
„Menschenwürde“, „nationale Sicherheit“ und „Islamische Scharia“ in der
verschiedensten Weise interpretiert werden.
Artikel 39 betont die „Unverletzlichkeit der
Religionsfreiheit“, reduziert sie aber gleich
auf die drei Religionen Abrahams (Juden, Christen und Moslems). Doch in
Ägypten leben viele Schiiten (die einige islamische Religionsgelehrte als
„nichtislamisch“ verurteilen), Bahais, Agnostiker und Atheisten. Die Verfassung
bietet ihnen keinen Schutz.
Nicht nur die Kopten fürchten zu schutzlosen Bürgern zweiter
Klasse degradiert zu werden, auch Ägyptens Frauen sehen bereits erkämpfte
Rechte bedroht. Ein Artikel hebt das Recht des Staates hervor, das „wahre Wesen
der ägyptischen Familie“ zu schützen , was den Herrschern am Nil die
Möglichkeit bietet, alles zu verhindern, was ihrer Meinung nach der Schwächung
der Familie dient. Ein Artikel betont, dass alle Bürger nach dem Gesetz gleich
seien, aber ein Paragraph aus der alten Verfassung, der die Gleichheit der
Frauen hervorhebt, wurde nicht übernommen. Wie in den bisherigen Verfassungen
legt auch der neue Entwurf die „Prinzipien des islamischen Rechts“ als Basis
der Gesetzgebung fest, was in der Vergangenheit der Interpretation der Scharia
breiten Raum ließ. Nun aber legt ein neuer Artikel fest, dass die „Prinzipien“
nach einer bestimmten theologischen Doktrin definiert werden müssen. Dies
öffnet einer schärferen Durchsetzung der Scharia alle Tore. Zudem erhalten die
islamischen Gelehrten der höchsten sunnitischen Lehranstalt, Al Azhar,
einzigartige Machtbefugnisse. Sie müssen in allen Angelegenheiten des
islamischen Rechts konsultiert werden, was einer Entmachtung der unabhängigen
Justiz gleichkommt. Auch die
Bürgerrechte werden beschränkt, da sie die „Prinzipien der Scharia“ nicht
verletzen dürfen und die Tore zur Knebelung der Meinungsfreiheit öffnen. Journalisten beunruhigt besonders das Fehlen
eines Artikels der die Verhaftung von Autoren wegen ihrer Texte verbietet.
Schließlich garantiert die Verfassung aber – als Verbeugung
Mursis an die Offiziere – die Unabhängigkeit des Militärs, das den
Verteidigungsminister ernennt und dessen Budget auch weiterhin nicht der zivilen
Kontrolle unterworfen wird.
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