Freitag, 14. Dezember 2012

LEXIKON: Ägypten: Eine Verfassung mit vielen Möglichkeiten

Die zahlreichen vagen Formulierungen des Dokuments öffnen Machtmißbrauch und islamistischer Autokratie Tür und Tor

 
von Birgit Cerha
 
Der nun zur Abstimmung stehende Verfassungsentwurf „gehört“ laut Friedensnobelpreisträger Mohammed el Baradei „in den Mistkübel der Geschichte“.  Präsident Mursis Anhänger werten ihn als das beste Dokument in der Geschichte Ägyptens, da es nicht von einer Expertenelite, sondern von einem gewählten Gremium geschrieben worden sei, das den wahren Willen des Volkes  repräsentiere. Und sie verschweigen in ihrer Propaganda die Tatsache, dass ein Drittel der Mitglieder der Verfassungsgebenden Versammlung (die  Säkularisten und Christen) aus Protest gegen das Diktat der Islamisten aus dem Gremium ausgezogen waren.
Das dann von Mursi und seinen Gesinnungsgenossen durchgepeitschte Dokument umfaßt 46 Seiten, eine elfteilige Präambel und 236 Artikel, die eine Vielzahl von Bereichen – von der Justiz bis zum Menschenhandel – behandeln. Nach unabhängiger Einschätzung enthält der Entwurf die für eine Verfassung allgemein nötigen Merkmale. Er charakterisiert den Staat als unabhängig und demokratisch, betont die Achtung der Menschenrechte seiner Bürger, den Schutz  des privaten wirtschaftlichen Strebens und sieht ein Präsidentschaftssystem vor, das jenem Frankreichs ähnelt, dem Staatschef aber sogar noch mehr Macht einräumt und die Rolle des Premierministers nur vage beschreibt.
Experten bemängeln jedoch vor allem die oft vagen und mehrdeutigen Formulierungen gerade auch der wichtigsten Verfassungsparagraphen, die  juristischen Streitgesprächen und Interpretationen freien Raum lassen, insbesondere aber ein beunruhigendes Vakuum schaffen, dass in beträchtlichem Umfang zum Mißbrauch von Macht genützt werden kann.
Artikel zehn etwa ermächtigt den Staat zum Schutz der Sitten und  Moral und könnte in seiner extremsten Auslegung zur Gründung einer islamisch orientierten „Moralpolizei“ führen – ein Faktum, das nicht nur Liberale, sondern vor allem Christen zutiefst beunruhigt. Darüber hinaus können die wiederholten Phrasen wie „Menschenwürde“, „nationale Sicherheit“ und „Islamische Scharia“ in der verschiedensten Weise interpretiert werden.
Artikel 39 betont die „Unverletzlichkeit der Religionsfreiheit“, reduziert sie aber gleich  auf die drei Religionen Abrahams (Juden, Christen und Moslems). Doch in Ägypten leben viele Schiiten (die einige islamische Religionsgelehrte als „nichtislamisch“ verurteilen), Bahais, Agnostiker und Atheisten. Die Verfassung bietet ihnen keinen Schutz.
Nicht nur die Kopten fürchten zu schutzlosen Bürgern zweiter Klasse degradiert zu werden, auch Ägyptens Frauen sehen bereits erkämpfte Rechte bedroht. Ein Artikel hebt das Recht des Staates hervor, das „wahre Wesen der ägyptischen Familie“ zu schützen , was den Herrschern am Nil die Möglichkeit bietet, alles zu verhindern, was ihrer Meinung nach der Schwächung der Familie dient. Ein Artikel betont, dass alle Bürger nach dem Gesetz gleich seien, aber ein Paragraph aus der alten Verfassung, der die Gleichheit der Frauen hervorhebt, wurde nicht übernommen. Wie in den bisherigen Verfassungen legt auch der neue Entwurf die „Prinzipien des islamischen Rechts“ als Basis der Gesetzgebung fest, was in der Vergangenheit der Interpretation der Scharia breiten Raum ließ. Nun aber legt ein neuer Artikel fest, dass die „Prinzipien“ nach einer bestimmten theologischen Doktrin definiert werden müssen. Dies öffnet einer schärferen Durchsetzung der Scharia alle Tore. Zudem erhalten die islamischen Gelehrten der höchsten sunnitischen Lehranstalt, Al Azhar, einzigartige Machtbefugnisse. Sie müssen in allen Angelegenheiten des islamischen Rechts konsultiert werden, was einer Entmachtung der unabhängigen Justiz gleichkommt.  Auch die Bürgerrechte werden beschränkt, da sie die „Prinzipien der Scharia“ nicht verletzen dürfen und die Tore zur Knebelung der Meinungsfreiheit öffnen.  Journalisten beunruhigt besonders das Fehlen eines Artikels der die Verhaftung von Autoren wegen ihrer Texte verbietet.
Schließlich garantiert die Verfassung aber – als Verbeugung Mursis an die Offiziere – die Unabhängigkeit des Militärs, das den Verteidigungsminister ernennt und dessen Budget auch weiterhin nicht der zivilen Kontrolle unterworfen wird.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen