Die radikalen Veränderungen in der strategischen Landschaft
stärken Hamas und bieten Ägypten neue Chancen auf die einst verlorene
Führungsrolle
von Birgit Cerha
Die Arabische Liga entsendet eine Delegation in den
Kriegsschauplatz Gaza, um ihre „Solidarität mit den Palästinensern“ zu
dokumentieren. Eine Arbeitsgruppe, so beschlossen die Außenminister auf ihrer
Dringlichkeitssitzung Sonntag in Kairo, soll auch „die Sinnhaftigkeit“ des
Festhaltens der arabischen Führer an ihrer 2002 vorgeschlagenen
Friedensinitiative überprüfen. Die Liga hatte vor einem Jahrzehnt Israel
diplomatische Anerkennung als Gegenleistung für dessen Rückzug aus allen noch
besetzten Gebieten und einer angemessenen Lösung der palästinensischen
Flüchtlingsfrage angeboten. Dieser Plan hatte seither den Eckpfeiler arabischer
Politik gegenüber Israel gebildet.
Während Raketen und Bomben Palästinenser und Israelis in
immer größere Panik treiben, sucht Ägyptens neuer Präsident Mursi mit aller
Energie ein Ende des Blutvergießens, das auch sein Land in einen neuen Krieg
reißen könnte. Massive israelische Attacken mit hohen Kosten an Menschenleben
und hartnäckige Raketenschläge der Hamas zählen längst zu dem sich regelmäßig
wiederholenden blutigen Kräftemessen zwischen den wie in einem riesigen
Gefängnis eingesperrten Palästinensern und dem Judenstaat. Die Wunden von 2008
und 2009 bluten immer noch. Doch diesmal ist es ganz anders.
Hamas‘ Raketen treffen erstmals israelische Großstädte und
Israels unverhältnismäßig brutale Gegenschläge finden vor einer radikal
veränderten arabischen Ordnung statt. Der „arabische Frühling“ hat mit dem Sturz
der pro-amerikanischen Diktatoren in Tunesien und Ägypten und dem in Todeskampf
liegenden wichtigsten Gönner der Hamas, Syriens Präsidenten Assad, die
strategischen Kalkulationen in der Region radikal verändert. Hatten Amerikas
Freunde Mubarak oder Ben-Ali u.a. weitgehend die Augen gegenüber israelischen
Repressionen gegen die Palästinenser geschlossen, um von den USA gestützte
Stabilität und damit auch ihre Macht nicht auf Spiel zu setzen, so ist Gaza nun
Teil eines von Islamisten geführten Landstreifens, der sich von Marokko bis in
die östliche arabische Welt zieht. Zudem hatten die Aktivisten des „arabischen
Frühlings“ stets den Ruf nach Freiheit und Demokratie für sie mit der Forderung
nach denselben Werten für die Palästinenser verbunden. Dies zeigt sich auch
jetzt wieder bei den Demonstrationen zugunsten der Menschen Gaza, die die
gesamte arabische Welt erfassen.
Diese Veränderungen und diese Stimmung stärken Hamas wie nie
zuvor, vor allem auch in ihrem Machtkampf mit der gemäßigteren
Palästinenserführung unter Mahmoud Abbas in Ramallah. Ägyptens Präsident Mursi,
der sich Washingtons Wünschen widersetzte und demonstrativ seinen Premier nach
Gaza entsandte, der anschließende Besuch des tunesischen Außenministers und vor
allem auch der vorangegangene des Emirs von Katar, der Millionen-Hilfe für die
bitterarmen Menschen in Gaza versprach, haben Hamas aus ihrer jahrelangen internationalen
Isolation gerissen und ihr neuen Mut für die Auseinandersetzung mit Israel
verliehen. Hinzu kommt noch die demonstrative Unterstützung des türkischen
Ministerpräsidenten, die eine neue Ära der Kooperation zwischen Ägypten und der
Türkei verheißt. Hamas, kein Zweifel, kann den Verlust seines wichtigsten
Verbündeten Syrien und vielleicht allmählich auch des Irans dramatisch
kompensieren. Selbst aus dem pro-amerikanischen Jordanien kommen freundliche
Töne gegenüber Hamas, gerät doch das Königshaus immer mehr unter Druck der erstarkenden
Moslembruderschaft.
Für keinen der arabischen Führer bietet dieser blutige
Konflikt solche Gefahren und Chancen zugleich, wie für Ägyptens Mursi. Seine
Moslembruderschaft, die ihm vor wenigen Monaten an die Macht in Kairo hievte,
hatte einst Hamas aus der Wiege gehoben und stets engste Beziehungen mit diesen
ideologischen Brüdern gepflegt. Sie hat sich seit vielen Jahren nicht gescheut,
Mubarak wegen dessen Tatenlosigkeit angesichts israelischer Aggressionen in
Gaza zu tadeln. Mursi steht nun unter Zugszwang. Unter keinen Umständen will er
in den Ruf geraten, „ein zweiter Mubarak“ zu sein.
Nachdem er im Juni die Macht am Nil übernommen hatte, schlug
er eine betont pragmatische Politik ein. Er startete eine intensive
Sicherheitsoperation gegen Radikale, die vom Sinai aus Attacken gegen Israel
planten und teilweise auch durchführten. Er begann – auf US-Druck – mit der
Blockade von Tunnels, die Lebensader der Palästinenser in Gaza, durch die aber
auch allerlei neue Waffen in den „Streifen“ gelangen. Er lehnte den
palästinensischen Wunsch nach Errichtung einer Freihandelszone zwischen Ägypten
und Gaza ab und schrieb einen Brief an Israels Präsidenten Shimon Peres. Doch
Kräften in seiner eigenen Partei, wie in der radikaleren islamistischen
Bewegung begannen, dieses politische Festhalten an den Friedensverträgen mit
Israel heftig zu kritisieren. Immer mehr Kommentatoren zogen die
Glaubwürdigkeit der Moslembruderschaft in Frage. Nun, da in Gaza wieder Kinder
durch israelische Bomben sterben finden sich auch Ägyptens säkulare Bewegungen
in einer Front mit den Moslembrüdern.
Der nun ausgebrochene blutige Konflikt bietet Mursi die
Chance, größere Entschlossenheit und Härte zu zeigen, in der Hoffnung, damit
wieder die 1979 durch den Friedensschluß mit Israel für Ägypten verloren
Führungsrolle zurück zu gewinnen. Schon preist der Hamas-Führer Mashaal die demonstrative
Entsendung des ägyptischen Premiers nach Gaza als „neue Vision“ Ägyptens. Im
Gegensatz zu Mubarak, der bei den wochenlangen für die Palästinenser ungeheuer verlustreichen
israelischen Attacken 2008 lange den einzigen Grenzübergang zu Ägypten, Rafah, lange
geschlossen hielt und damit Schwerverwundeten Hilfe verweigerte, erhalten nun
Verletzte in Ägypten medizinische Betreuung, während Mursi seinen Botschafter
aus Israel abzog, ein demonstrativer, wiewohl symbolischer Schritt.
Doch ungeachtet der ungewöhnlich scharfen Rhetorik aus dem
Kairoer Präsidentenpalast („Israel wird einen hohen Preis bezahlen, wenn es
weiter mordet und verstümmelt“), lassen Anzeichen erkennen, dass auch Mursi die
Grundprinzipien der ägyptischen Außenpolitik nicht aufgeben wird. Er wird nicht
einen Bruch mit den USA riskieren, von deren großzügiger Wirtschafts- und
Militärhilfe das Land abhängig ist. Und er wird kaum dem Drängen aus dem Volk
nachgeben und den Rafah-Grenzposten nach Gaza auf Dauer öffnen, in der
Überzeugung, dass nicht Ägypten, sondern Israel für das Überleben der 1,6
Millionen Palästinenser in Gaza die Verantwortung zu tragen hat.
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