Die Billigung von Militäroperationen außerhalb der Grenzen durch das türkische Parlament kann die Krise entschärfen oder zu unabsehbare Konsequenzen führen
von Birgit Cerha
Das türkische Parlament, so Kommentatoren in Ankara, hätte gar keine andere Wahl gehabt, als nach der Tötung von zwei Frauen und drei Kindern im Grenzort Akcakale durch syrische Granaten das Eindringen der Armee in syrisches Territorium zu billigen. Ankara müsse seine“ militärische Abschreckungskraft“ demonstrieren. Doch die Entscheidung des Parlaments sei „keine Kriegserklärung“. Besonnene Kräfte hoffen, dass die nun parlamentarisch bekundete Entschlossenheit der Türken, Vergeltung für derartige Grenzzwischenfälle zu üben, die Situation – zumindest vorläufig – entspannen könnte, nachdem die türkische Luftwaffe zwei Tage lang syrische Positionen attackiert und mindestens fünf syrische Soldaten getötet hatte.
Dennoch, die Gefahr von Fehlkalkulationen, vor allem aber Provokationen, die zu einem offenen Krieg zwischen Syrien und der Türkei mit unabsehbaren Konsequenzen für die gesamte Region führen könnten, ist damit keineswegs gebannt. Die türkische Armee kann jederzeit, ohne nochmals das Parlament zu befragen, die syrische Grenze überschreiten.
Das syrische Regime versucht seit Mittwoch intensiv zu beschwichtigen. Ein Krieg mit der Türkei ist das letzte, was der schwerbedrängte Präsident Assad noch riskieren kann. Dennoch bleibt die Frage offen, ob die syrische Armee bei weiteren Attacken der türkischen Luftwaffe nicht doch zurückschlägt und so eine Eskalation unvermeidlich wird.
Bisher ist ungeklärt, ob die Granaten Mittwoch nicht von Angehörigen der „Freien syrischen Armee“ (FSA) oder anderen von der Türkei unterstützten Rebellen gegen Assad abgefeuert worden waren, entweder im Zuge seit Wochen tobender Kämpfe um die Kontrolle des wichtigen Grenzübergangs Tel Abyad, oder um eine gezielte Provokation der FSA. Die Rebellen fordern seit langem eine, auch vom türkischen Premier Erdogan geplante „Schutzzone“ für Flüchtlinge auf syrischem Gebiet, die nach libyschem Vorbild aus der Luft vor Angriffen der syrischen Armee abgeschirmt werden sollte – ein Szenario, das die Türken nicht allein durchsetzen wollen, für das ihnen jedoch – bisher – die internationale Unterstützung fehlt.
Ankara steckt in einer schweren Zwickmühle. Der Flüchtlingsstrom hat mit fast 100.000 Menschen die von Erdogan schon lange festgelegte Grenze der Aufnahmekapazität beinahe erreicht. Hält er weiter an, sei eine „Schutzzone“ die einzige Möglichkeit, den verzweifelten Menschen zu helfen, stellte der Premier schon lange klar. Doch Ankaras Motive beschränken sich keineswegs auf das Humanitäre.
Erdogan hegt offenes Interesse an einem Sturz Assads, um die geostrategische Position der Türkei entscheidend auszubauen, und ist de facto schon lange in diesen Krieg verwickelt, unterhält Ausbildungslager für syrische Rebellen, die insbesondere aus manchen arabischen Ländern, aber auch dem Westen teils intensive Hilfe bekommen.
Zudem hat der schwer bedrängte Assad vor einigen Monaten der kurdischen Minderheit in Nord-Syrien erstmals Freiraum zu einer beginnenden Selbstverwaltung gegeben. In diesem an die Türkei grenzenden Territorium bekamen so mit der türkisch-kurdischen Guerillaorganisation PKK sympathisierende Gruppen Aufwind. Eine Stärkung der kurdischen Bewegung in Syrien steigert den Druck auf die Türkei, endlich ihr eigenes Kurdenproblem – auf demokratische Weise – zu lösen. Zugleich aber beginnt die PKK sich in Syrien ein neues Sprungbrett für Attacken gegen türkische Ziele zu schaffen. Hier liegt die Hauptsorge der türkischen Armee. Die Entscheidung des Parlaments zum Militäreinsatz in Syrien ermöglicht den Türken nun vor allem auch Aktionen gegen die PKK in Syrien, so wie sie es seit Jahrzehnten im Nord-Irak ungestört mit ungezählten zivilen Opfern tut.
Dennoch, ein offener Krieg mit Syrien im Alleingang birgt für Ankara enorme Risiken. Eine überwältigende Bevölkerungsmehrheit lehnt ein solches Engagement entschieden ab und die internationale Unterstützung fehlt weitgehend. In der arabischen Welt drängt nur Katar auf Intervention, nachdem Saudi-Arabien, wichtigster Helfer der Rebellen, nun einen Kompromiss mit Assads Schutzmacht Iran sucht. Vor allem aber bleibt Russland entschlossen, Assad nicht fallen zu lassen und Erdogan kann es sich nicht leisten, Präsident Putin vor den Kopf zu stoßen. In der Türkei leben mindestens 100.000 Russen, unter ihnen hochqualifizierte Experten in strategischen Projekten. Zudem ist die Türkei der zweitgrößte Kunde des russischen Gaslieferanten Gazprom. Das gesamte türkische Energiesystem stützt sich zu einem großen Teil auf Gas aus Rußland und dem Iran.
Donnerstag, 4. Oktober 2012
Ankaras gefährliches Muskelspiel
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