Ägyptens Präsident setzt wichtigen Schritt – Doch viele Hürden liegen noch auf dem Weg zu demokratischen Freiheiten und zur Achtung der Menschenrechte
von Birgit Cerha
Mehr als 12.000 Menschen wurden nach Angaben der Gruppe „Not o Military Trials“ von Militärgerichten abgeurteilt und mindestens 5000 Menschen sitzen noch aus politischen Gründen in Gefängnissen. Wieviele Häftlinge tatsächlich freikommen, bleibt vorerst unklar.
Ägyptische Menschenrechtsaktivisten begrüßen „diesen großen Schritt“, halten ihn jedoch für keineswegs ausreichend, um die jahrzehntelange Ära der Repression am Nil auch tatsächlich zu beenden. Anwälte kritisieren vor allem die vage Formulierung des Amnestie-Dekrets, das zudem nicht sofort die Freilassung aller der Gefangenen vorsieht, sondern Generalstaatsanwalt und Militärankläger auffordert, binnen einen Monats eine Liste jener vorzulegen, die in den Genuss der Amnestie fallen sollen. Damit bleibt die Phrase „Unterstützung der Revolution“ der Interpretation vorbehalten.
Mursis erste hundert Tage haben viele Ägypter insbesondere im Bereich der Menschenrechte und demokratischer Freiheiten enttäuscht. Wiewohl der Präsident selbst als Aktivist der massiv von Ägyptens Herrschern seit den 50er Jahren verfolgten Moslembrüder die Gefängnisse und Folterkammern des Landes am eigenen Leib kennengelernt hatte, setzte er bisher nicht die von den demokratischen Revolutionären radikalen Schritte, um gravierenden Menschenrechtsverletzungen ein Ende zu setzen. Bei seiner Machtübernahme versprach Mursi, das alarmierende Sicherheitsvakuum, das der Sturz Mubaraks aufgerissen hatte, zu beenden. Tatsächlich kehrte die Polizei wieder in voller Stärke in die Straßen der Städte zurück. Doch ihr Wiedererscheinen wurde nicht von den so dringend nötigen substantiellen Reformen im Innenministerium begleitet. Die wachsende Sorge vieler Bürger vor einer Rückkehr von Willkür und Brutalität der Sicherheitskräfte wurde in den vergangenen Wochen durch sich mehrende Zwischenfälle genährt.
Menschenrechtsaktivisten beklagen, dass Mursi nichts unternommen hat, um die Polizeimentalität zu verändern. Dafür spricht auch die Wahl Ahmed Gamal Eddins zum neuen Innenminister. Gamal Eddin hatte unter seinem wegen brutaler Repressionen und Folter zutiefst verhaßten Vorgänger Al-Adly als Sicherheitschef für den Süd-Sinai und Oberägypten gedient, eine Region, in der die Sicherheitskräfte traditionell mit besonderer Brutalität vorgingen. Und tatsächlich mehren sich auch jetzt erneut Berichte von Mißhandlungen in Gefängnissen. Kritiker beklagen auch, dass das Innenministerium – wie in der Vergangenheit – seine Hauptaufgabe im Schutz des Systems und nicht der Bevölkerung sieht. Truppen bewachen Regierungsgebäude und nicht etwa von Kriminellen bedrohte Supermärkte.
Auch die Achtung der Meinungsfreiheit, unter deren Verletzung Mursis Moslembruderschaft in der Ära Mubarak und davor bitter zu leiden hatte, läßt im neuen Ägypten viel zu wünschen übrig. Wie einst unter Mubarak wurden auch in den vergangenen Wochen Journalisten wegen „Beleidigung“ des Präsidenten festgenommen oder eingeschüchtert. Drastisch sprang vor allem aber auch die Zahl jener in die Höhe, die wegen „Mißachtung der Religion“ verfolgt werden. So wurden jüngst sogar ein neun- und ein zehnjähriges koptisches Kind festgenommen, weil sie angeblich Verse des Korans zerrissen hatten. „Human Rights Watch“ zeigt sich zutiefst besorgt über einen – allerdings noch nicht vollendeten – Entwurf einer neuen Verfassung, der eine schwere Bedrohung grundlegender Menschenrechte – mangelnder Schutz gegen Folter, Diskriminierung von Frauen, für Meinungs- und Religionsfreiheit – befürchten läßt.
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