Siegesmeldungen im internationalen Krieg gegen das Terrornetzwerk sind verfrüht – im blutigen Chaos Syriens öffnen sich neue Möglichkeiten.
Unzählige Male seit die Türme des World Trade Centers in New York am 11. September 2001 Tausende Menschen unter sich begruben und die Spuren des spektakulärsten Terroraktes der jüngsten Geschichte zur Al-Kaida Osama Bin Ladens führten,haben westliche Politiker und so manche Experten das Ende des Terrornetzwerkes verkündet. Schon Jahre vor seiner Ermordung durch ein US-Sonderkommando in seinem pakistanischen Versteck im Mai 2011 galt Bin Laden gemeinhin als irrelevant, isoliert, inaktiv.
Solche Weisheiten erwiesen sich unterdessen als unrichtig, wie 17 in amerikanische Hände gelangte Al-Kaida-Dokumente erkennen lassen. Bin Laden war bis zuletzt in Al-Kaida Operationen verwickelt, wiewohl die Kommunikation zwischen der Zentrale in Pakistan und Aktivisten weltweit vor allem aus Sicherheitsgründen stark begrenzt war. Mit Bin Ladens Tod verlor die Al-Kaida eine Führungsfigur, die sie bis heute nicht ersetzen konnte. Seinem Nachfolger und langjährigen strategischen Kopf des Netzwerkes, dem ägyptischen Arzt Ayman al Zawaheri fehlt das Charisma Bin Ladens, dem es gelungen war, viele junge Männer in der arabischen, aber auch der westlichen Welt und in Südasien mitzureißen und neue Geldquellen zu erschließen. Heute ist die Al-Kaida Zentrale verarmt, da Zawaheri nicht, wie Bin Laden, die Brieftaschen reicher Golfaraber zu öffnen vermag
Durch massiven militärischen Druck der US-Streitkräfte, der von US-Präsident Obama angeordneten Ermordung führender Al-Kaida Prediger und Aktivisten, wie den Anwar al Awlaki im Jemen und den religiösen Vordenker des Netzwerkes, Abu Jahja al Libi hat die Al-Kaida an Schlagkraft eingebüßt. Laut „National Counter Terrorism Center“ liegt die Zahl der weltweiten Terrorakte weit unter jenen des Spitzenjahres 2006. Der letzte erfolgreiche Anschlag in einem westlichen Land fand 2005 in London statt. Zwischen Juli 2011 und Juli 2012 wurden 86 Komplotte westliche Interessen bekannt, nur zwei waren erfolgreich, ein Anschlag auf eine jüdische Schule in Frankreich und ein Attentat in Belgien.
Dennoch: die Terrorbewegung ist viel zu kompliziert, um ihr Ende zu prophezeien. Bin Laden, von Größenwahn getrieben, hatte mit seinem Ruf zum globalen Jihad das Ideal eines utopischen Weltstaates verfolgt, der den radikalen Gesetzen der Sharia, des islamischen Rechts, unterworfen ist. Attacken gegen westliche, vor allem amerikanische Ziele dienten ihm dabei nach Einschätzung der amerikanischen Terrorexpertin Mary Habeck nur als Mittel zum Zweck. Amerikaner sollten dort attackiert werden, wo sie sich diesen Zielen der Al-Kaida entgegenstellten – in Afghanistan, in Saudi-Arabien, im Irak. Terrorattacken in Europa und in den USA sollten vor allem zur Einschüchterung dienen, um den Westn davon abzuhalten, sich in die Angelegenheiten der islamischen Welt einzumischen. Teil dieser Strategie ist freilich auch, Terrorchancen insbesondere im Bereich der Zivilluftfahrt zu ergreifen, wo sie sich bieten.
Bin Laden aber hatte erkannt, dass er angesichts des massiven militärischen Drucks vor allem der USA das Terrornetzwerk dezentralisieren muss, um sein Überleben zu sichern. So entwickelten sich in zahlreichen Ländern Al-Kaida-Ableger, die oft nationale, lokale Ziele verfolgen und in Eigeninitiative handeln und es entstanden neue Gravitationszentren des Jihad. Neben Nord- und Südwasiristan, im unzugänglichen pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet, in dem sich vermutlich Zawaheri und andere Al-Kaida-Führer verstecken,, unterhalten Gleichgesinnte immer noch Aktionszentren im Irak, vor allem aber im Jemen, wo sie ganze Ortschaften unter ihre Kontrolle brachten.
Insbesondere aber gelang es dem Netzwerk, nicht nur seine Präsenz in Nordafrika auszweiten, sondern mehr und mehr Fuß in Westafrika zu fassen. Die in Nigeria und der Sahelzone aktive Boko Haram etwa wird für die Ermordung Hunderter Christen verantwortlich gemacht. Die Al-Schabab kontrolliert Teile Somalias und verübte schwere Bombenanschläge in anderen afrikanischen Ländern. Diese, wie auch andere Gruppen aber handeln meist nicht auf Anweisung der Al-Kaida Zentrale, sondern verfolgen ihre eigene nationale Agenda.
Ein neuer Typ von Jihadis tauchte unterdessen in Europa auf, Einzeltäter, wie Mohammed Merah, der im März in Toulouse sieben Menschen, darunter drei Kinder, an einer jüdischen Schule erschoß. Anlaß zur Sorge über Jihadi-Aktivismus bieten Entwicklungen in England oder Deutschland, wo junge kampfeswillige Männer sich Aktivisten im Sinai anschließen und mit radikalem Gedankengut infiziert wieder heimkehren dürften. Aus England schlossen sich Hunderte Muslime dem Kampf gegen das von radikalen Sunniten als häretisch verdammte Assad-Regime in Syrien an. Im Aufruhr der arabischen Welt gewinnen kampferprobte Jihadis unter kriegerisch unerfahrenen Rebellen neue Freunde, deren tatkräftige Unterstützung hochwillkommen ist. So bietet nun das blutige Chaos Syriens dem anderswo schwer bedrängten Al-Kaida Netzwerk eine hochwillkommene Chance, um eine neue Basis und ein neues Rekrutierungsfeld im Herzen der islamischen Welt aufzubauen.
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