Freitag, 27. Juli 2012

SYRIEN: Eine Minderheit in Todesangst

Macht ist für Syriens Alawiten eine Überlebensfrage – Bleibt ein eigener „Ministaat“ die „letzte Zuflucht“?

von Birgit Cerha

Die Ferienhotels der syrischen Mittelmeerstädte Tartus und Latakia sind überfüllt. Rund 100.000 Menschen, so schätzen Beobachter, sind in den vergangenen Tagen aus Damaskus, Aleppo und anderen heißumkämpften Regionen Syriens in die relative Sicherheit der Provinzen Tartus und Latakia geflüchtet. Die große Mehrheit sind Alawiten, die hier, viele auch bei Verwandten, in ihrem Kernland Schutz und Sicherheit suchen. Tausende Alawiten aus Damaskus hatten den mühseligen Umweg über die von der mit Syriens Präsidenten Assad verbündeten schiitischen Hisbollah kontrollierten libanesischen Bekaa-Ebene auf sich genommen, weil die direkte Verbindung zu den Mittelmeerregionen im syrischen Nordwesten teilweise von Assads Gegnern kontrolliert ist. Aus Aleppo oder anderen umkämpften Gebieten suchten alawitische Flüchtlinge, darunter auch zahlreiche Deserteure der syrischen Streitkräfte, über die Türkei einen sicheren Weg in die Gebirgsregion, in deren Schutz auch Kardaha liegt, die Heimatstadt des Assad-Clans.

Der eskalierende Krieg zwischen den überwiegend sunnitischen Rebellen und dem Alawiten-Regime Bashar el Assads hat die Minderheit in Todesangst versetzt. „Christen in den Libanon, Alawiten in den Sarg“ lautet ein Slogan, den radikale Anti-Assad-Demonstranten immer und immer wieder brüllen. Die ungeheuerlichen Brutalitäten der Regierungssoldaten, die sich insbesondere gegen Bevölkerungszentren der sunnitischen Mehrheit richten, haben den Hass auf die alawitische Bevölkerungsgruppe beängstigend gesteigert. Berichte über Massaker an Alawiten erscheinen vielen als Vorboten eines bevorstehenden Vernichtungskampfes.

Das Land, das sich von Latakia über Baniyas, Jableh und Tartus bis zu dem die Küstenregion vom Rest der syrischen Ebene trennenden Gebirgszug erstreckt hat den Alawiten in der Vergangenheit Schutz geboten. Wird es ihnen nun eine „letzte Zuflucht“ bieten? Viel wird bereits darüber spekuliert, Bashar el Assad werde sich in letzter Not hierher zurückziehen und einen alawitischen Ministaat errichten, wie er bereits für kurze Zeit vor fast hundert Jahren existiert hatte. Schon kursieren Gerüchte, Assads alter strategischer Bündnispartner Iran hätte dort bereits Kriegsgerät stationiert. Militärexperten werten auch die jüngsten massiven Attacken der Regierungssoldaten auf sunnitische Dörfer und Städte am Rande des alawitischen Kernlandes östlich von Latakia als Teil eines Plans, dieses Gebiet gegen Feinde abzusichern.

Um die Panik der Alawiten voll zu begreifen, ist ein Blick in ihre Geschichte der Unterdrückung und Marginalisierung notwendig. Seit dem neunten Jahrhundert wurde diese Bevölkerungsgruppe in viele lokale und regionale Kriege hineingezogen. Sie wurden von den Kreuzrittern attackiert, die sich schließlich mit ihnen verbündeten. 1120 besiegten sie die Ismaeliten und Kurden, im 13. Jahrhundert wurden sie gnadenlos von den Mameluken unterdrückt und verfolgt, später, nachdem sie sich mehr und mehr in die Bergregionen am Mittelmeer zurückgezogen hatten, auch von den die Region beherrschenden Osmanen attackiert. Abgesehen von kleinen Gruppen, die in Dörfern um Homs und Hama lebten, wagten sich die Alawiten aus ihrer „Hügelwildnis“ nur gelegentlich auf der Suche nach Hilfsarbeiten als Tagelöhner oder Frauen im Haushalt reicher Sunniten hervor. Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches am Ende des Ersten Weltkrieges kodifizierte die französische Kolonialmacht 1920 diese isolationistische Verhaltensweise der Minderheit, die Paris gegen den als bedrohlich empfundenen arabischen Nationalismus der Sunniten zu stärken suchte, durch die Gründung eines souveränen „Alawitischen Territoriums in der Küsten- und Gebirgsregion. Doch selbst französischer Schutz konnte das Scheitern dieses Experiments nicht verhindern. Die Gründe für den Fehlschlag bestehen teilweise heute noch: die Sunniten, die in Latakia und Tartus die Mehrheit bildeten und die dort lebenden christlichen Minderheiten verfügten über einen weit höheren Bildungsstandard als die Alawiten und strebten nach Eingliederung in einen syrischen Staat,die 1936 vollzogen wurde. Auch heute noch leben in der Provinz Latakia, allgemein als alawitisches Kernland bezeichnet, 50 Prozent Sunniten und in der Stadt gar 70 Prozent.

Der Ausbruch der Alawiten aus dem elenden Leben in den Bergen begann 1970, als der alawitische Offizier Hafez el Assad, der wie andere Angehörige seiner Minderheit von französischer Förderung profitiert hatte, in einem Putsch die Macht übernahm. Er sicherte den Alawiten nicht nur die Schlüssel- und Machtpositionen in den Streit- und Sicherheitskräften des Landes, sondern leitete Jahrzehnte der Stabilität ein. Er baute einen zentralistischen, laizistischen Staat auf, in dessen Administration er nicht nur Angehörige anderer Minderheiten, denen er Recht und Schutz zusicherte, sondern vor allem auch der sunnitischen Mehrheit integrierte, die er vor allem nach der brutalen Niederschlagung eines Aufstandes der (sunnitischen) Moslembrüder 1982 in Hama (mit etwa 20.000 Toten) zu befrieden suchte. Dies gelang ihm wohl nur mit Teilen der durch die Stabilität profitierenden sunnitischen Mittelschicht und Geschäftswelt.

Bis zu Beginn der Rebellion im März 2011 setzte der Sohn und Nachfolger Bashar diesen Kurs weitgehend fort, wobei auch weiterhin politischer Widerstand mit gnadenloser Repression bestraft wurde.

Mit der Wiederbelebung eines Alawitenstaates würde Bashar zwar dem Vorbild seines Großvaters folgen, der sich einst in einem Plädoyer alawitischer Würdenträger an die französische Mandatsmacht für die Unabhängigkeit seiner Bevölkerung eingesetzt hatte. Hafez hingegen hatte sein Leben der vollen Eingliederung seiner Minderheit in einen syrischen Zentralstaat gewidmet. Bisher aber gibt es keine klaren Hinweise darauf, dass Bashar diesem Erbe untreu werden könnte. Dass auch heute ein solcher Ministaat nicht lebensfähig wäre, steht außer Zweifel. Verlöre Assad die Kontrolle über Damaskus, würde wohl das Bündnis mit seinen wichtigsten Schutzmächten, den Russen, die ihren Mittelmeerhafen in Tartus wohl kaum auf Spiel setzten wollten, ebenso zerfallen, wie jenes mit dem Iran, für deren geostrategische Interessen – Zugang zum Libanon und damit zur israelischen Grenze – der gescheiterte syrische Präsident jede Bedeutung verlöre. Auch ökonomisch wäre dieser Staat nicht lebensfähig, leben doch Tartus und Latakia primär von Handel und Tourismus und dem „Ministaat“, dem alle Nachbarn aus Angst vor separatistischen Tendenzen in ihren eigenen Ländern die Anerkennung verweigern würde, bliebe der Zugang zum Inland verwehrt. Er wäre noch quälender isoliert als das bitterarme türkische Nord-Zypern, das immerhin jedoch an der Lebensader zur Türkei hängt.

Die Anti-Assad-Rebellen würden die Entwicklung eines solchen Gebildes nicht dulden. Schon jetzt gibt es Berichte, die „Freie Syrische Armee“ sei in das alawitische Bergland eingedrungen. Zudem sind die etwa 2,5 Millionen Alawiten (rund 12 Prozent der Bevölkerung) keineswegs eine homogene Bevölkerungsgruppe. Es bestand stets, auch während der Herrschaft von Vater Hafez, eine alawitische Opposition gegen die Assads und deren repressive und korrupte Politik. Im Februar hatte sich eine Gruppe von Alawiten aus Homs öffentlich von Assad losgesagt. In Wahrheit herrschten in Syrien nicht „die Alawiten“, sondern nur einige, ein Faktum, das vor allem islamistische Gegner des Regimes gerne übersehen. Nicht zuletzt deshalb sieht ein harter Kern des Regimes nur ein Ziel: sich die Macht unter allen Umständen zu erhalten. Er wird sich wahrscheinlich in allerletzter Not in den Berge am Mittelmeer zurückziehen, um von dort die Endschlacht zu schlagen, deren Ausmaß und Dauer nicht abzusehen ist.

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