Freitag, 6. Juli 2012

Die wahren Herren des heutigen Libyen

Die ersten freien Wahlen sollen die Basis für ein neues Staatssystem schaffen – Doch primär gilt es, das Ölreich aus den Fängen Zehntausender bewaffneter „Revolutionäre“ zu reißen


von Birgit Cerha

In Tripolis pulsiert das Leben und symbolisiert zugleich die Hoffnung der Menschen auf die Zukunft. Mehr als ein halbes Jahr nachdem Libyens Freiheitskämpfer mit NATO-Hilfe Diktator Gadafi – allerdings in bestialischer Weise – ermordet und das Ölreich aus vier jahrzehntelanger Diktatur befreit hatten, beginnt nun mit den ersten freien Wahlen der Übergang in eine neue Phase des Übergangs. Es ist ein äußerst schwieriger Prozess, dessen Ende noch lange nicht feststeht.

Nach dem brutalen Ende der Diktatur lauern unendliche Gefahren auf Libyens Weg in eine für die Bevölkerung würdevolle und stabile Zukunft. Doch die Bilanz der vergangenen Monate ist keineswegs nur negativ. Ein Blick auf andere Länder des „arabischen Frühlings“ (insbesondere Syrien) läßt Libyen, trotz aller Ungewißheit beinahe als eine Oase der Ruhe erscheinen. Gelegentliche blutige Zusammenstöße zwischen bewaffneten Stämmen und Milizen, arteten nicht bedrohlich aus, weil es dem „Nationalen Übergangsrat“ mit vorsichtiger Diplomatie und sonstigem „Geschick“ stets gelang eine größere Explosion zu verhindern.

Und dennoch: das Land befindet sich in gefährlichem Schwebezustand. Im Gegensatz zu anderen Ländern, wie vor allem Ägypten oder Tunesien, können sich die politischen Nachfolgekräfte in Libyen beim Aufbau eines neuen politischen Systems auf fast keine staatlichen Institutionen stützen, insbesondere nicht auf die Streitkräfte, die Gadafi aus steter Angst vor einem Putsch extrem schwach gehalten hatte. Desertionen hoher Offiziere während der Revolution taten dann noch das ihre.

Bis heute versuchte ein „Nationaler Übergangsrat“ (NÜR), der in den ersten Wochen des Aufstandes im ost-libyschen Benghasi überwiegend von abgesprungenen hohen Funktionären des Regimes gegründet worden war, das Land schlecht und recht in eine neue Zukunft zu führen. Zu Beginn genoß der vom ehemaligen Justizminister Mustafa Abdel Jalil geführte Rat in den Augen eines großen Teils der Bevölkerung „revolutionäre Legitimität“, da es ihm immerhin gelungen war, die entscheidende Unterstützung des Auslandes für den Krieg gegen das Gadafi-Regime zu gewinnen. Doch in den vergangenen Monaten verlor dieses weitgehend selbsternannte Gremium zunehmend an Glaubwürdigkeit, zunehmender Kritik wegen mangelnder Transparenz und Ineffizienz ausgesetzt. Frauen, die eine wichtige Rolle bei der Revolution gespielt hatten, werfen dem Rat krasse Unterrepräsentanz vor und patriarchalisches Verhaltensmuster.

Der Rat, dessen Mitglieder sich nicht der Wahl zu seiner Nachfolgeorganisation, dem 200-köpfigen Nationalkongreß, stellen dürfen, schaffte es vor allem nicht, einen Prozeß zu verhindern, der Libyen de facto der Willkür Zehntausenden bewaffneten Milizionären ausliefert, von Männern, die nur für Freiheit gekämpft hatten, sondern nun auch wahllos viele veremeintliche Anhänger Gadafis quälen: an die 6000 sollen sie nach unabhängigen Schätzungen gefangenhalten und foltern.

Zu Beginn der Kämpfe gegen das Gadafi-Regime hatte der NÜR die „Nationale Befreiungsarmee“ gegründet, in der Hoffnung, aus einer Ansammlung bewaffneter Kämpfer, die nur manchmal von ehemaligen Berufsoffizieren angeführt wurden, eine neue Armee aufbauen zu können, erfüllte sich nicht. Diese lokal oder/und nach Stammeskriterien organisierten Brigaden konnten bis heute nicht für einen ernsthaften Integrationskonzept in eine neue staatliche Streitkräfte gewonnen werden. Zwar meldeten sich etwa 250.000 Libyer für diesen Prozeß oder zumindest eine angebotene Kompensation , die Revolutionskämpfern angeboten werden. In Wahrheit hatten sich nach unabhängiger Einschätzung höchstens 25.000 Libyer am Kampf gegen Gadafi beteiligt. Doch selbst jene, die sich den ernsthaft den neuen Streitkräften anschließen wollen, weigern sich, ihre Waffen abzuliefern und mißtrauen dem NÜR zutiefst. Sie genießen ihren Status als mitunter äußerst mächtige lokale Herrscher, wie etwa jene als Helden geachteten Milizen von der zwar schwer zerstörten doch ökonomisch vielversprechenden Stadt Misrata.

Umgekehrt aber ist der Rat, der über keine schlagkräftigen Sicherheitstruppen verfügt, immer wieder gezwungen, Milizen, wie jene besonders mächtig gewordenen Anti-Gadafi-Helden aus Missrata oder der Zintan, die Ansehen und Macht erworben hatten, weil sie Saif al Islam, den vom Diktator einst zum Nachfolger erkorenen Sohn schnappen konnten und nun gefangen halten, wiederholt zur Beendigung von bewaffneten Konflikten zwischen Stämmen oder Regionen einsetzten. Welchen Preis der Übergangsrat bezahlte, um den Zintani die Kontrolle über den Flughafen von Tripoli zu entwinden und die Freilassung von Mitgliedern des Internatiionalen Komitees vom Roten Kreuz, die die Milizionäre wegen angeblich illegaler Kontakte zu Resten des Gadafi-Regimes“ tagelang festgehalten hatten, zu erwirken, ist ungewiß. Wenig beruhigt jedoch die Tatsache, dass nun Misrata-Milizionäre in Uniformen der Regierungssoldaten den Flughafen kontrollieren.

Die ersten Wahlen sollen, so hoffen die Architekten eines neuen Libyen, Gefühle nationaler Identität, den Glauben an einen gewaltlosen politischen Prozeß stärken, um das Ölland aus den Händen Zehntausender Kämpfer mit ihren riesigen Waffenarsenalten aus der Zeit Gadafis zu retten.

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