Der Kampf um Würde, Freiheit und Mitbestimmung tritt nach den ersten dramatischen Siegen in eine neue Phase
(Bild: Graffiti von in Demonstrationen getöteten Jugendlichen)
von Birgit Cerha
„Wenn sich der Nil wieder in sein Bett zurückzieht, dann hinterläßt er ein mit neuer fruchtbarer Kraft durchdrungenes Land. Wir stecken noch in der Phase der Überflutung, doch schon erkennen wir grüne Triebe aus dem Boden sprießen.“ Ahdaf Soueif, die berühmte ägyptische Autorin, drückt mit dieser Allegorie aus der Vergangenheit eine Hoffnung aus, an die sich Ägyptens junge Revolutionäre klammern, nachdem sie am 11. Februar 2011 nach nur 18 Tagen den mächtigen Pharao Hosni Mubarak vom Thron gestoßen hatten, doch selbst noch keine Früchte ihrer mutigen Taten ernten konnten.
Wael Ghonim, der als Held der Revolution gefeierte junge Internet-Aktivist, teilt die Enttäuschung seiner Gesinnungsgenossen über den langsamen Wandel am Nil, über eine Entwicklung, die Ägypten um Monate zurückzuwerfen droht. Wieder werden Demonstranten, die sich für demokratische Freiheiten engagieren, getötet oder von der Militärführung als Verräter im Dienste des Auslands gebrandmarkt. Beginnt der Kampf von neuem? Ghanim und viele seiner Mitstreiter aber lassen sich nicht unterkriegen. Die immer neuen Widerstände und Gewaltakte der Sicherheitskräfte stärkten nur seine Entschlossenheit weiter zu kämpfen. Denn zu viel sei bereits erreicht. „Hätte mir jemand vor mehr als einem Jahr gesagt, 27 Millionen Ägypter werden in die Straßen ziehen, Mubarak zum Rücktritt zwingen und anschließend in freier Entscheidung ein Parlament wählen, ich hätte ihn zum Psychiater geschickt.“
Trotz des Blutbads im Fußballstadion von Port Said, für das viele das herrschende Militär verantwortlich machen, trotz der Welle teilweise blutig endender Proteste trotz der über Internet verbreiteten Bilder durch Vogelschrot aus Gewehren von Sicherheitskräften verletzter Demonstranten, trotz vieler Widersprüche der Generäle und großer Ungewissheiten über die wahren Absichten der das neue Parlament dominierenden Islamisten, bleibt Ägypten ein Ort der Hoffnung und neuer Möglichkeiten.
Der Kopte Girgis, der schwere Konflikte zwischen der politisch nun von Islamisten geführten muslimischen Bevölkerungsmehrheit und der christlichen Minderheit heraufziehen sieht, blickt zurück in die Geschichte, als Rebellionen stets von einem starken Führer geleitet wurden. „Diesmal gibt es keinen klaren Anführer. Diesmal erhob sich das ägyptische Volk gemeinsam.“ Doch ein Jahr später ist die Einheit von Tahrir, dem Epizentrum der Revolution im Herzen Kairos, zerborsten. Immer tiefer dringen die Risse in Ägyptens Gesellschaft ein und rauben dem Land die Chance auf die so dringend nötige rasche Stabilisierung.
Drei Hauptströmungen beherrschen heute das Geschehen: das Militär, die Islamisten unter Führung der Moslembruderschaft und die revolutionäre Jugend, „Facebook-Republik“ genannt. Der einst populäre Militärrat hat in den Augen der jungen Demokratie-Aktivisten die Revolution verraten, verfolgt und attackiert die Aktivisten (an die 12.000 Zivilisten wurden seit einem Jahr verhaftet, um von Militärgerichten abgeurteilt zu werden) wirft ihnen zugleich vor, die Revolution „zu verewigen“ und damit das Land in den Abgrund zu treiben. Die Meinung über diese „üble Opposition“ teilt die „Couchpartei“, wie die jungen Aktivisten ein neues Phänomen in der politischen Landschaft nennen, nämlich jene wachsenden Bevölkerungsschichten, die zwar den Sturz Mubaraks befürwortete, doch sich verzweifelt nach einer Rückkehr zur Stabilität und damit ökonomischer Sicherheit sehnen. So gelang es den jungen Demokraten nicht, die Masse der Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen.
Die Moslembrüder und Salafisten, die in den ersten freien Wahlen seit sechs Jahrzehnten fast zwei Drittel der Parlamentssitze eroberten, haben der „Facebook-Republik“ in deren Augen die Revolution „gestohlen“, hatten sie sich doch aus Angst vor Repressionen zunächst von den Demonstrationen ferngehalten, nur um in einem weniger gefährlichen Moment auf „das Pferd“ aufzuspringen und sich mit einem liberale Kräfte keineswegs überzeugenden demokratischen Konzept zu einer dominierenden Stellung im neuen Staat zu sichern?
Die „Facebook-Republik“ , mit unklaren Zielen gespalten, fühlt sich an den Rand gedrängt, zunehmend unter Druck durch das Militär und seit kurzem auch durch die Moslembrüder, die sich als neue durch Wahlen legitimierte Macht verstehen.
Um verlorenen Boden wieder zu gewinnen, haben die revolutionären Bewegungen die „Kazebun“ (übersetzt: sie lügen)-Kampagne gestartet. Sie soll eine skeptische Bevölkerung durch hunderte in den Straßen Kairos und anderer Städte präsentierte Videofilme über die Brutalitäten der Militärs an unbewaffneten Zivilisten aufklären. Tausende Freiwillige zeigen interessierten Passanten auf Brücken, Plätzen, in Gassen und Hinterhöfen grausige Aufnahmen von Verletzungen, in der Hoffnung, mehr und mehr Bürger für ihre Kampagne zum Sturz des Militärrates zu gewinnen. Wie weit dies gelingen mag, wird der 11. Februar zeigen. Werden die Angestellte des öffentlichen Transports, Fabriksarbeiter, Lehrer, Beamte den Aufruf von Aktivistengruppen zum landesweiten zivilen Ungehorsam folgen, durch den das Militär zur sofortigen Übergabe der Macht gezwungen werden soll?
Doch die Moslembrüder „weisen diesen Aufruf zurück“. Neue – gefährliche – Fronten bilden sich am Nil. Die wachsende Animosität zwischen den Islamisten und den säkularen Revolutionären entlud sich erstmals in gewaltsamen Zusammenstößen vor dem Parlament. Stehen die pragmatisch-opportunistischen Moslembrüder tatsächlich im Bunde mit den Offizieren, die in den Augen der demokratischen Protestbewegung sich als nichts anderes entlarvt haben, als eine „Verlängerung des Mubarak-Regimes“? Manches deutet darauf hin: So setzen sich die „Brüder“ für ein Gesetz ein, das den Mitgliedern des Militärrates Immunität für Verbrechen garantiert, die seit ihrer Machtübernahme verübt wurden. Durch solche Anbiederungsversuche wollen sich die jahrzehntelang vom Mubarak-Regime verfolgten Islamisten nicht nur vor erneuten Repressionen schützen, sondern auch nach dem Vorbild der so erfolgreichen türkischen Bruderpartei mehr und mehr die Machtstrukturen des Staates infiltrieren. Aktionen gegen einen neuen gemeinsamen Gegner – die Demokratie-Aktivisten – sind dabei eine wichtige Strategie.
Die Islamisten verschließen auch die Augen vor den Manipulationen der Generäle, die durch immer neue Tricks und vage Versprechungen ihren vollen Rückzug aus der Politik nach sechs Jahrzehnten klar zu verhindern suchen. Um die jungen Revolutionäre zu beschwichtigen, ließ de-facto Herrscher Feldmarschall Tantawi erkennen, er wolle die Präsidentschaftswahlen um ein Monat, auf Mai, vorverlegen, nährte jedoch zugleich latentes Misstrauen, indem der Militärrat ein Gesetz über die Präsidentschaftswahl verabschiedete, ohne, wie vorgesehen, dieses dem Parlament zu präsentieren. Niemand zweifelt unterdessen daran, dass die Generäle alles daran setzen werden, um einem politischen System auf die Beine zu helfen, das ihnen ihre Macht und ihre übermäßigen ökonomischen Privilegien sichert. „Die Offiziere werden immer reicher, warum sollen sie die Macht abgeben, wenn sie heute auf allen Seiten gewinnen,“ meint ein Kairoer Geschäftsmann, der – wie so viele andere – sein Lokal von einem Militär mietet und 20 Prozent des Gewinns abliefern muss. Seit einem Jahr werden Mieter, die nicht bezahlen können oder wollen ins Gefängnis abgeschleppt.
Vor diesem Hintergrund erscheint so manchen der Sturz Mubaraks ein Kinderspiel. So schrieb ein Demokratie-Aktivist auf Twitter: „Wir hatten keine Revolution, um Mubarak zu stürzen; wir vertrieben Mubarak, damit wir eine Revolution beginnen können“ – gegen die in sechs Jahrzehnten zementierte Militärherrschaft.
Mittwoch, 8. Februar 2012
ÄGYPTEN: „Wir stürzten Mubarak, um die Revolution zu ermöglichen“
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