Ägyptens erstes freigewähltes Parlament steht vor einem gigantischen Berg von Problemen – Außerparlamentarisch geht der Kampf um die Ziele der Revolution weiter
von Birgit Cerha
„Der Zug der Demokratie hat die Station erreicht.“ Mit diesen einleitenden Worten verkündete Abdel Moez Ibrahim, Chef der Obersten Wahlbehörde, am Wochenende die Endergebnisse der ersten freien Wahlen in der 50-jährigen Geschichte der ägyptischen Republik. Die in drei Runden seit November ohne gravierende Zwischenfälle oder Manipulationen gewählte Volksversammlung wird heute, Montag, erstmals zusammentreten und damit eine neue Ära in der modernen Geschichte Ägyptens einläuten.Das Endergebnis bestätigt einen Trend, der sich seit November abzeichnete. Er besiegelt die Wandlung der jahrzehntelang von den Regimes am Nil massiv unterdrückten islamistischen Moslembruderschaft zur führenden politischen Kraft des Landes. Der politische Arm der „Brüder“, die „Partei für Freiheit und Gerechtigkeit‘“ (PFG), eroberte 47 Prozent der 498 Parlamentssitze. Gemeinsam mit der ultrakonservativen salafistischen „Al-Nour“-Partei, die 25 Prozent erreichte, dominieren die Islamisten fast zwei Drittel des neuen Abgeordnetenhauses.
Das Resultat ist ein schwerer Schlag für die jungen Aktivisten, die durch ihren engagierten und mutigen Einsatz vor einem Jahr die Revolution gegen Präsident Mubarak entfacht und geleitet hatten. Sie fühlen sich nun um die Früchte ihres gewaltlosen Kampfes für Freiheit und Demokratie durch die Islamisten, die sich lange aus dem aktiven Widerstand gegen die Diktatur herausgehalten hatten, beraubt. Eine Koalition junger im politischen Prozess völlig unerfahrener Aktivisten konnte sich lediglich etwa sieben Prozent der Sitze sichern, während die traditionelle liberale Partei „Wafd“ und der liberale „Ägyptischen Block“ des koptischen Geschäftsmannes Naguib Sawiris mit rund zehn Prozent die beiden stärksten nicht-islamistischen Parteien im neuen Parlament bilden.
Nur das Ausmaß des islamistischen Erfolges mag überraschen, nicht die grundsätzliche Tendenz, die den tiefen kulturellen Konservativismus der ägyptischen Bevölkerung bestätigt. Zudem hatten sich die Salafisten, wie die Moslembrüder, jahrzehntelang durch intensive – teils von Saudi-Arabien mitfinanzierte – Sozialprogramme unter der breiten Schichte der Armen am Nil beträchtliche Popularität verschafft. Die jungen, überwiegend gebildeten liberalen Aktivisten konnten ihnen nur Visionen von Freiheit und Demokratie, doch keine konkrete Hilfe entgegensetzen. Kein Zweifel, der Weg zu einem modernen demokratischen System im Land der Pharaonen ist noch ein weiter.
Das neue politische Kräfteverhältnis verängstigt Liberale, Linke und vor allem die koptische Minderheit. Die Moslembrüder versuchen die Sorge dieser Kreise, wie auch des Westens, vor einer radikalen Islamisierung Ägyptens seit Monaten zu zerstreuen. Sie präsentieren sich als eine Kraft der Mitte, bereit zur Zusammenarbeit mit allen, vor allem auch den säkularen, politischen Strömungen, um Ägypten, wie sie betonen, ein demokratisches Gesicht zu geben. „Al Nour“ hingegen verfolgt auch offiziell weit radikalere Ziele, besteht insbesondere auf einer bedingungslosen Durchsetzung des islamischen Rechts, der Scharia, und könnte – so fürchten liberale Kreise – sich zu einer Art Moralpolizei aufspielen, die gegen Alkohol und lockere Kleidung von Frauen, insbesondere Touristinnen zu Felde ziehen dürfte, während PFG-Führer den gravierenden ökonomischen und sozialen Problemen des Landes absoluten Vorrang einräumen wollen. Eine enge Kooperation zwischen den beiden Islamistenparteien ist deshalb keineswegs garantiert, wiewohl PFG ängstlich darauf bedacht sein wird, seinen starken konservativen Flügel durch eine allzu liberale Politik nicht an die Salafisten zu verlieren.
Das Parlament tritt ein schweres Erbe aus der Mubarak-Zeit an: gigantische Arbeitslosigkeit, enorme soziale Probleme, bittere Armut, Korruption, nun dramatisch verschärft durch den radikalen Rückgang von Auslandsinvestitionen und Touristen als Folge der politischen Turbulenzen des vergangenen Jahres. Erschwert wird die Aufgabe der führenden Parteien durch die unklare Rolle, die das Parlament in der nächsten und der ferneren Zukunft zu spielen hat. Primäre Aufgabe ist die Bildung eines 100-köpfigen Verfassungskomitees, das nach einem im Vorjahr durch ein Referendum gebilligten Konzept ein neues Grundgesetz zu erarbeiten hat. Dank massiver Proteste insbesondere der liberalen Aktivisten, wich der herrschende Militärrat wieder von dem Plan ab, selbst die Mehrheit der Komitee-Mitglieder zu bestellen. Doch die Offiziere sind entschlossen dem Parlament – zumindest bis zu den für Ende Juni geplanten Präsidentschaftswahlen – nur eine untergeordnete Rolle zu gestatten, sowie in der neuen Verfassung ein Präsidialsystem zu verankern, während die Islamisten, wie auch liberale Kräfte ein starkes Parlament erstreben, um den Aufstieg eines neuen „Pharao“ am Nil zu verhindern.
Den jungen Aktivisten bleibt weiterhin nur der Weg außerparlamentarischer Aktion, um undemokratische Entwicklungen zu blockieren. Wie stark sie noch sind, wird sich am 25. Januar zeigen, dem Jahrestag des Revolutionsbeginns, für den sie zu einer Massendemonstration gegen den anhaltenden Autoritarismus der Militärs rufen. Um ihnen wenigstens ein wenig den Wind aus den Segeln zu nehmen, verkündete der Militärrat Sonntag ein Amnestie für 1.959 von Militärgerichten im Laufe des vergangenen Jahres verurteilten Demonstranten. Wie viele weiterhin in Gefängnissen schmachten weiß niemand.
Sonntag, 22. Januar 2012
Islamisten feiern Triumph der Demokratie
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