Mittwoch, 21. Dezember 2011

Irak: Frei, souverän und konfliktgeladen

Welches Land lassen die USA nach einem blutigen Krieg und fast neunjähriger Besatzung zurück?
(Bild: Falludscha)

von Birgit Cerha

„Die letzten amerikanischen Soldaten werden mit erhobenen Häuptern die Grenzen überschreiten, stolz auf ihren Erfolg….. . So werden die militärischen Anstrengungen der USA im Irak enden.“ Gemeinsam mit dem irakischen Premier Maliki feiert US-Präsident Obama den endgültigen Abzug der US-Besatzungstruppen aus dem Irak als „Sieg“ und der Machthaber am Tigris präsentiert sich stolz als „Retter“ der irakischen Souveränität.

Doch der Schein, den die beiden Führer vermitteln wollen, trügt. Weil ein innenpolitisch auf höchst wackeligen Beinen stehender Maliki eine Verlängerung der US-Truppenpräsenz über den mit dem damaligen US-Präsidenten Bush 2008 ausgehandelten Stichtag des 31. Dezember 2011 hinaus im Parlament nicht durchsetzen kann, reduziert die Supermacht ihre Präsenz in diesem strategisch so wichtigen Ölstaat auf ein Minimum. Einige hundert Soldaten werden bleiben, um die Sicherheit der weltweit größten US-Botschaft in Bagdad zu garantieren – allein dies ein Beweis für das Versagen der Amerikaner, den Irak zu Stabilität und Sicherheit zu führen. Ebenso aus Sicherheitsgründen hat Washington Pläne zur Eröffnung mehrere Konsulate im Land gestrichen, und von den seit Jahren erstrebten Militärstützpunkten, ist schon gar keine Rede mehr. Einige hundert – und nicht Tausende wie erhofft – Militär- und Sicherheitsberater – sollen allerdings den irakischen Einheiten auch künftig zur Seite stehen.
Zerstoben sind die hochfliegenden Träume, die 2003 Bush zum Schlachtruf gegen den irakischen Diktator Saddam getrieben hatten: eine neue „Schweiz des Orients“ sollte der von einem der blutrünstigsten Despoten des vorigen Jahrhunderts befreite Irak werden. Die Segnungen der Demokratie sollten sich „wie ein Buschfeuer“ von den Küsten des Euphrat und Tigris über den ganzen Mittleren Osten ausbreiten. Acht Jahre später erweisen sich solche Ausblicke als Fatamorgana. Die Realität lässt eine gegensätzliche Entwicklung befürchten. Während von irakischem Geschehen völlig unbeeinflusst der „arabische Frühling“ Diktatoren in Nord-Afrika hinwegfegt und andere in politisch tödliche Bedrängnis bringt, sucht der Führer der jungen irakischen Demokratie zu altbewährten Methoden Zuflucht, um die Freiheitslüfte abzublocken: Als im März frustrierte Iraker von ihren neugewonnenen Bürgerrechten Gebrauch machten und gegen die hoffnungslos unzulänglichen Dienstleistungen des Staates demonstrierten, schlugen Malikis Sicherheitskräfte nach saddam’schem Vorbild zu. Die Ermordung eines prominenten Journalisten und Organisators wöchentlicher Proteste gegen Korruption im September 2011 steigert die Ängste vieler, dass Maliki den Irak zur Diktatur zurückführen könnte.
„Ja“, gestehen Iraker offen, „wir können zwar heute weitgehend frei Kritik an politischen Führern üben“, eine Praxis, die Saddam mit dem Tode zu bestrafen pflegte. Doch Angst ist aus den Seelen des 30-Millionen-Volkes nicht gewichen, sie hat sich nur verändert.
Während sich die Folgen des US-Abzugs auf den Irak nicht klar absehen lassen, ist das Bild des fast neunjährigen „amerikanischen Abenteuers“ im Zweistromland umso deutlicher: Ein Krieg, der direkt und indirekt mehr als 100.000 irakischen Zivilisten, rund 4.500 US-Soldaten das Leben kostete und mehr als eine Billion Dollar aus der Washingtoner Staatskasse verschlang, hinterließ eines der potentiell reichsten Länder der Welt in verzweifelter Unterentwicklung und Armut, von den schweren psychischen Schäden gar nicht zu reden, die Verwundeten, Angehörigen von Opfern und Kindern auch die Zukunft zerstören.


Auch nach achteinhalb Jahren ist die durch Kriege und schmerzliche internationale Sanktionen schwer zerstörte Infrastruktur immer noch nicht wieder aufgebaut, Stromausfälle gehören weiterhin zum Alltag und bremsen die wirtschaftliche Entwicklung, das Angebot kann mit dem rasant steigenden Bedarf nicht Schritt halten. Der in Washington stationierte Thinktank „Carnegie Endowment“ identifiziert einen gravierenden Mangel an Koordination zwischen der Zentralregierung in Bagdad und Provinzbehörden, geringe Qualifikation der Angestellten und vor allem den Einsatz von Dienstleistungen als „politische Waffe“ als Hauptgründe für die immer noch katastrophale Versorgung der Bevölkerung durch Staat und Gemeinden.
Mehr als sieben Millionen Iraker leben unter der Armutsgrenze von zwei Dollar im Tag. Die sozialen Nöte, schon seit Beginn der Kriege (gegen Iran und Kuwait ab den 80er Jahren) und internationalen Sanktionen dramatisch, haben sich schockierend verschärft. Hausten in den vergangenen zwei Jahrzehnten 20 Prozent der städtischen Bevölkerung des Iraks in Slums, so sind es heute elf Millionen, das entspricht 53 Prozent der insgesamt 19 Millionen Stadtbewohner. (UN-Habitat: „State oft he World’s Cities 2010, 2011).
Bis 2008 haben Krieg, Bürgerkrieg und Terror rund 15 Prozent der Bevölkerung aus ihren Heimen vertrieben.An die zwei Millionen fristen ein ungewisses Dasein in Nachbarstaaten, 100.000 Flüchtlinge kehrten nach mühseligem bürokratischen Prozess heim und das UN-Flüchtlingshochkommissariat rät den anderen, vorerst lieber abzuwarten. Ebenso konnten mehr als zwei Millionen intern Vertriebene bis heute nicht in ihre Heime zurück.
Nach harten Jahren beginnt sich die schwer vernachlässigte Ölindustrie langsam zu stabilisieren. Bei einer Produktion von 2,9 Mio. Barrel und Exporten von 2,1 Mio. im Tag wird der Irak in diesem Jahr 74,76 Mrd. Dollar verdienen, das entspricht 68 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. („The Special Inspector General For Iraq Reconstruction“, SIGIR, 14.11.2011). Bis 2017 hat sich das Ölministerium eine Produktionskapazität von zwölf Mio. Barrel zum Ziel gesetzt. Experten halten dies allerdings wegen schwerer Mängel in der Infrastruktur für unrealistisch. Zudem schafft die Tatsache, dass sich Bagdad bis heute nicht zu einem nationalen Ölgesetz durchringen konnte für ausländische Investoren starke legalistische Unsicherheiten.
Zwar haben die Iraker seit der US-Invasion in Wahlen, die von unabhängigen Beobachtern als weitgehend „frei und fair“ gepriesen werden, Parlamentsabgeordnete und Provinzräte gewählt, Zeitungen, Nachrichtenagenturen und Fernsehkanäle, NGOs und politische Parteien gegründet, doch Rivalitäten zwischen politischen Bewegungen und unterschiedlichen religiösen und ethnischen Bevölkerungsgruppen blockieren den politischen Prozeß bis zur Groteske. Fast zwei Jahre nach den Parlamentswahlen im März 2010 schaffte es Maliki immer noch nicht, eine vollständige Regierung aufzustellen, riß die Verantwortung für die Führung der so wichtigen Innen- und Verteidigungsressorts an sich und konzentriert damit immer mehr Macht in seiner Hand, während ein tief gespaltenes Parlament kaum mehr Entscheidungen hervorzubringen vermag.
Unter Malikis Führung und dem wachsamen Auge der USA hat es der Irak geschafft, in den zweifelthaften Ruf als einer der korruptesten Staaten der Welt zu gelangen, nimmt unter 178 Ländern den 175. Platz ein. (Transparency International“: „Corruption Perceptions Index 2010). Parlamentspräsident Osama al-Nujaifi klagte jüngst offen, dass sich die Korruption „wie in Oktopus“ durch den Irak fresse und korrupte Mafiagruppen politische Reformen und jeden Fortschritt bremsten. (AFP, 5.10.2011)
„Die USA kann nach eigenem Gutdünken in ein Land einmarschieren, es völlig aus den Angeln heben, Tod und Zerstörung verbreiten, (bewusst oder unbeabsichtigt) Terror zwischen unterschiedlichen religiösen Gruppen und ethnische Säuberungen auslösen, und dann wieder verschwinden – ohne zweimal nachzudenken, was sie zurück lassen“, empört sich der libanesische Kommentator Rami Khouri. („The Daily Star“, 9.11.2011). Was Khouri und andere Washington besonders vorwerfen, ist die Tatsache, dass sie eine gewaltsame Feindseligkeit zwischen Sunniten und Schiiten vom Zaun gebrochen haben, wie sie der Irak bis 2003 nicht gekannt hatte. Sie werde sich durch den Abzug der US-Truppen auch nicht mehr stoppen lassen und könnte die gesamte Region mit sich reißen.
Vor allem aber hinterlassen die Amerikaner ein Staatsgefüge, das auf höchst unsicherem Boden ruht. Nicht nur wurde nach den blutigen Exzessen der Saddam-Ära kein nationaler Versöhnungsprozess insbesondere zwischen Kurden und Arabern eingeleitet, der die Grundvoraussetzung für eine friedliche Zukunft schaffen würde. Nicht nur sind die Streit- und Sicherheitskräfte nach religiösen Gruppen gespalten – eine Entwicklung, die sich als „Achillesferse“ des neuen Irak erweisen könnte. Nicht nur blieb eine Serie schwerwiegender Konflikte ungelöst und schafft damit – wie etwa die explosive Frage der zwischen Kurden auf der einen Seite, der Zentralregierung, arabischen Sunniten, Schiiten und Turkmenen „umstrittenen Gebiete“ – gefährlichen Zündstoff, insbesondere wenn US-Militärs nicht mehr als Vermittler Spannungen entschärfen und Bewaffnete beider Seiten aneinanderprallen. Bis heute ist die interne Grenze zwischen dem autonomen Kurdistan und dem restlichen Irak nicht gezogen, eine Frage, die nach Einschätzung von US-Militärs wie keine andere den Frieden zu gefährden droht. Denn es geht um die reichen Ölquellen von Kirkuk und den auch überwiegend von Kurden bewohnten Gebieten außerhalb der autonomen Region.
Bis heute bleibt die Staatsstruktur umstritten. Das Grundgesetz von 2005 sieht eine Föderation vor, autonome Rechte, die bisher nur Kurdistan für sich in Anspruch nahm. Der Verfassungstext ist schwammig, lässt viele Interpretationen offen. Die Tatsache, dass die Verteilung der Öleinkünfte immer noch nicht gesetzlich geregelt ist, nützt der Premier, um die Regionen zu schwächen und (finanzielle) Macht in Bagdad zu konzentrieren. Neue brisante Konflikte, die die Einheit des Staates zerstören könnten, zeichnen sich ab.
Hatte Maliki 2008 erfolgreich das Streben schiitischer Gruppen in den südirakischen Provinzen Basra und Wasit nach Autonomien zu gründen blockiert und erneute Versuche ignoriert, so sind es nun arabische Sunniten, die Bagdad mit derartigen Forderungen zu schaffen machen. Als der Regierungsrat der rund 1,1 Million Bewohner zählenden Sunniten-Provinz Salahaddin einstimmig beschloss, wie in der Verfassung vorgesehen, die Bevölkerung über die Gründung einer Autonomie entscheiden zu lassen, und sich damit auch finanzielle Eigenständigkeit zu sichern, löste er eine Sensation aus. Hatten sich doch Iraks arabische Sunniten bisher entschieden gegen Föderalismus gestellt. Das Ansuchen sollte automatisch vom Regierungschef akzeptiert werden, doch der Zentralist Maliki denkt nicht daran. Usama Al-Nujaifi ermahnt den Premier, den Willen des Volkes, der tiefer Frustration über die konsequente Ausgrenzung der Sunniten durch Maliki entspringt, zu respektieren. Immer wieder versucht Maliki unter dem Vorwand, Baathisten zu „säubern“, politische Gegner auszuschalten. Dies trifft primär arabische Sunniten. Rund tausend fielen im Oktober einer landesweiten Verhaftungswelle zum Opfer. Solche Verfolgungsjagd dürfte nun das Faß zum Überlaufen gebracht haben. Dem Vorstoß Salaheddins folgt nun auch die Sunnitenprovinz Anbar.
Die Kurden Nordiraks verfolgen das Geschehen mit gemischten Gefühlen. Sie preisen die Vorbildwirkung ihres Selbstverwaltungsgebietes, in dem Ruhe, Sicherheit herrscht und ökonomische Prosperität, wie nirgend sonstwo im Irak. Die Bildung weiterer autonomer Regionen im Irak würde zweifellos die föderale Struktur des Staates stärken und damit der weitgehend selbständigen kurdischen Existenz größere Sicherheit verschaffen. Anderseits liegen einige der umstrittenen Gebiete auch in der Provinz Salahaddin, was Aussichten auf eine Verhandlungslösung mit Bagdad erschweren könnte.
Doch zusätzlicher Sprengstoff sammelt sich an. Erstmals hat ein großer internationaler Ölkonzern, der Amerikaner Exxon-Mobil, sich über Bagdads Drohungen hinweggesetzt und direkt mit der Kurdistan Regionalregierung einen Vertrag über Schürfrechte abgeschlossen. Zwei der insgesamt sechs Explorationsstätten liegen in den „umstrittenen“ Gebieten. Ein empörter Maliki droht Exxon-Mobil Bohrrechte im Süd-Irak zu entziehen. Dabei geht es keineswegs nur um die bisher rechtlich nicht abgesicherte Absicht der Zentralregierung, Ölverträge mit ausländischen Konzernen zu kontrollieren. Es geht auch kurdische Ansprüche auf „umstrittene Gebiete“, die durch die Vergabe von Rechten an Exxon-Mobil untermauert werden. Gibt Maliki nun nach, könnten andere Ölkonzerne, die schon lange ein gieriges Auge auf die reichen ungehobenen Schätze des Nord-Iraks richten, Exxon-Mobils Beispiel folgen und kurdische Eigenständigkeit entscheidend stärken. Gibt der Premier nicht nach und versucht das Abkommen mit Exxon-Mobil zu vereiteln, könnte ihm Kurdistan-Präsident Barzani die für ihn politisch überlebensnotwendige Unterstützung entziehen. (CTC Sentinel, July 2011)
All diese Konflikte brodeln vor dem Hintergrund bedrohlicher Instabilität. In dem von den US-Truppen verlassenen Irak prallen hartnäckige regionalpolitische Interessen aufeinander – türkische gegen kurdische, iranische gegen pro-westliche, saudische gegen schiitische und iranische. Jede dieser Kräfte kann in einem blutigen Stellvertreterkrieg ihre Kämpfer einsetzen. Al-Kaida im Irak, die ihre Geburtsstunde erst nach dem Sturz Saddam Husseins gefeiert und den blutigen Krieg zwischen Sunniten und Schiiten im Land provoziert hatte, ist heute entscheidend geschwächt. An ihre Stelle dürfte mehr und mehr die Jaysh Rijal al-Raiq al Naqshabandi (JRTN) treten, eine sufistische Organisation mit tiefen Wurzeln unter Iraks Sunniten, die einen militanten Zweig entwickelt und sich zunehmend mit Baathisten im Untergrund verbündet hat. Sie ist für zahlreiche Gewaltakte gegen US-Militärs verantwortlich und hat sich zum Ziel gesetzt, die „beiden Besatzer“ des Iraks zu vertreiben, nach dem Abzug der Amerikaner den Rückzug der Kurden. Allerdings gibt es auch Hinweise aus arabischen Geheimdienstkreisen, dass sunnitische Nachbarn, insbesondere Jordanien, Bindungen an JRTN kultivieren, mit dem Hauptziel, Irans Einfluss im Nachbarstaat zurück zu drängen.
Nach Jahren amerikanischer Besatzung ist der Irak von Stabilität, Frieden und aufblühenden Wohlstand immer noch weit entfernt.


Dieser Artikel erschien in Kurdisch in der Dezemberausgabe von "Le Monde Diplomatique Kurdi"

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