Sonntag, 13. November 2011

Geiseln eines blutigen Rivalitätskampfes

Der Jahrhunderte alte Wettstreit um die Vorherrschaft über Mesopotamien und die Kurdenregion nimmt eine neue gefährliche Wende

(Bild: Zagros-Gebirge)

von Birgit Cerha


Gerechtigkeit für seine sieben Familienmitglieder. Diese Ziel hat sich der in britischem Exil lebende Kurde Sherwan Hussein Mustafa für seine Zukunft gestellt, gleichgültig, wie lange dieses Ringen auch währe. Sherwans Schicksal schockiert und doch ist es kein Einzelfall. Es symbolisiert vielmehr die tragische Existenz der kurdischen Zivilbevölkerung in den Bergregionen des Taurus und Zagros. Über Jahrhunderte wurden sie als Geiseln gehalten in einem oft blutig ausgetragenen Rivalitätskampf zwischen Iranern auf der einen, Griechen, Römern, Byzanz, sowie den Osmanen auf der anderen Seite, ein Kampf um Vorherrschaft und Kontrolle dieser Region, die Europa mit Asien verbindet. Er hält bis heute an.

Sherwan ist entschlossen, sich nicht wie so viele seiner kurdischen Leidensgenossen voll Bitterkeit in sein Schicksal zu fügen, das ihm mit einem Schlag seine Eltern und fünf Familienmitglieder geraubt hat. Es war an einem Tag im August 2011 gewesen, als die Familie, wie stets, ihrer Arbeit auf einem Bauernhof im nordirakischen Kandilgebirge nachging. Da ertönte aus der Ferne der Donner von Explosionen. Türkische Piloten kreisten mit ihren Kampfjets über dem unwegsamen Hochgebirgsgelände und warfen in die Täler und versteckten Winkel der Kandilberge, wie so oft zuvor, Bomben ab, in der Hoffnung, endlich Stützpunkte der Guerillas der „Kurdischen Arbeiterpartei“ (PKK) zu treffen. Die irakische Kurdenfamilie flüchtete in ihrem Pickup in Richtung der etwas entfernter gelegenen Stadt Rania. Unterwegs gerieten sie in die Schusslinie der türkischen Kampfflugzeuge, „die ihre Körper in unzählige kleine Teile sprengten“. So berichtete Sherwan gegenüber „KurdishGlobe (19.9.2011) „Gleichgültig, auch wenn es Jahre dauert“, Sherwan ist entschlossen, mit Hilfe eines Anwaltkomitees von internationalen Gerichten „Gerechtigkeit für meine Familie zu erringen“ und die vielen anderen kurdischen Zivilisten, die Angehörige im Hagel türkischer und iranischer Kanonen verloren. Internationale Gerichte sollen diese immer wiederkehrenden Bluttaten der regionalen Großmächte gegen die im Grenzgebiet lebende kurdische Bevölkerung als „internationales Verbrechen“ gegen die Menschlichkeit verurteilen, damit sie nicht länger als weltweit unbeachtete „lokale Vergehen“ abgetan und ignoriert werden können.

Militäraktion nicht wegen der PKK?

Sherwans Familie starb im August. Im Oktober schlugen die Türken erneut massiv zu, 10.000 Soldaten marschierten in den Nord-Irak ein, nachdem die PKK 24 türkische Soldaten getötet hatte. Diese militärische Reaktion war vorhersehbar, ebenso wie der Schrei der türkischen Bevölkerung nach Vergeltung. Warum die Provokation der PKK? Welche Strategie, welche Ziele werden damit verfolgt? Die Erklärung eines türkischen Generals drängt sich in Erinnerung: Die Armeeführung hätte kein Problem, wann immer sie es für notwendig erachte, Gründe für eine Militäraktion im Nord-Irak zu finden. Und der ehemalige türkische Geheimdienst-Offizier und Stratege Mahir Kaynak meint zum türkischen Einmarsch im Nord-Irak im Oktober, nicht der „Terror der PKK“ habe dafür den Grund geliefert, sondern die Absicht Ankaras, „Irans Einfluss“ in diesem Gebiet „zurück zu drängen“. Kaynak prophezeit angespannte Beziehungen zwischen Iran und der Türkei in den kommenden Jahren. (Zaman, 16.10.2011).

Immer und immer wieder beginnt das blutige Spiel von neuem: Kleinattacken der Guerillas, der PKK, wie deren iranischer Tochter PJAK (Partiya Jiyana Azad a Kurdistane – Partei für ein freies Leben in Kurdistan) gegen Militärziele in der Türkei bzw. im Iran. Es folgen iranische und türkische Gegenschläge aus der Luft, Einmärsche von Truppen der Nachbarländer, Verletzung der Grenzen, der irakischen Souveränität, kurdische Zivilisten werden aus Grenzdörfern verjagt, deren Felder und Vieh mit dem Ziel vernichtet, menschenleere „Sicherheitsgürtel“ an den jenen Grenzen zu schaffen, die Kolonialmächte einst willkürlich zogen und dabei Stämme, Clans, ja auch Familien zerrissen. Die internationale Gemeinschaft zuckt die Achseln: Beide Staaten wehrten sich nur gegen die Gewaltakte von PKK und PJAK.
Doch in Wahrheit positionieren sich Iran und die Türkei im nordirakischen Kurdistan für die Neuauflage eines uralten Rivalitätskampfes um die Vorherrschaft in Mesopotamien und der gesamten Region. Wer wird in das Machtvakuum vorstoßen, wenn sich US-Truppen bis Weihnachten aus dem Irak zurückziehen? Washington, so diplomatische Quellen, drängt die ein säkulares System repräsentierende Türkei, dem wachsenden Einfluss des islamischen „Gottesstaates“ Iran einen Riegel vorzuschieben – in erster Linie im Irak.

Rivalität und Zweckfreundschaft

Als die Fürstendynastie der Safawiden zu Beginn des 16. Jahrhunderts die mehrheitlich von Iranern bevölkerten Gebiete zu einem Königreich zusammenschlossen, auch Minderheiten, wie etwa die Kurden im Westen, darin integrierten und den Großteil ihrer Untertanen zum schiitischen Islam führten, legten sie den Keim zu einem iranischen Nationalbewußtsein. Das erstarkende persische Reich fühlte sich nicht nur von Usbeken im Nordosten, Afghanen im Osten und einflußreichen indischen Großmoguln bedroht, sondern vor allem beständig vom Westen durch das von Sunniten beherrschte Osmanische Reich. Kriege lösten Perioden der Zusammenarbeit ab. So wurden die Iraner und Türken zu natürlichen geostrategischen Gegnern, die zugleich eine essentielle, wiewohl von tiefem Mißtrauen dominierte Freundschaft verbindet. Der Konflikt zwischen den beiden Mächten wurde meist auf dem Boden Mesopotamiens und in Kurdistan ausgetragen. Eine Neuauflage steht nun als Folge dramatischer Turbulenzen im gesamten Mittleren Osten bevor. Er droht eine weit größere Region mit hinein zu ziehen.

Während die Gunst der Geopolitik in den vergangenen Jahren der „Islamischen Republik“ hold war, der Iran dank von den USA geführter Kriege in Afghanistan, vor allem aber im Irak nach dem Sturz seines Erzfeindes Saddam Hussein 2003 seinen Einfluss dramatisch ausweiten konnte, gewann auch die türkische Außenpolitik unter Rezep Tayyip Erdogan an Kraft. Die beiden Mächte verfolgen konträre Visionen für den Mittleren Osten.

Seit dem Aufstieg der islamisch orientierten „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AK) in die Regierung und an die Spitze des Staates 2002 vollzog sich in der Türkei ein sozialer und politischer Wandel. Eine neue Elite strebt nach Ausweitung des ökonomischen und politischen Einflusses im Mittleren Osten, ja in der islamischen Welt insgesamt. Diese „neo-osmanische Politik“, wie sie die Medien unterdessen nennen, stützt sich auf die Weltsicht Ahmet Davutoglu, Erdogans langjährigen Berater und derzeitigen Außenministers, zusammengefasst unter dem Begriff „Null-Probleme“ mit den Nachbarn – ein höchst ehrgeiziges Konzept in der so turbulenten Region, die sich vom Mittleren Osten bis zum Kaukasus und Zentralasien erstreckt. Für Ankaras Strategen liegt die Zukunft in der Vergangenheit, der Wiederbelebung historischer Bande des Osmanischen Reiches mit der arabischen Welt, der Stärkung muslimischer Affinitäten, um „strategische Tiefe“ in der Nachbarschaft zu schaffen, sich als Brücke zwischen Westen und islamischer Welt zu präsentieren und schließlich zu einer Weltmacht aufzubauen.

Demütigende Abfuhr für Erdogan
Zu diesem Ziel betrieb die AK-Regierung eine intensive regionale Diplomatie, stärkte die Wirtschaftsbande mit den Nachbarn, insbesondere mit Iran und Syrien und untergrub damit zugleich die Bemühungen des NATO-Partners USA, diese beiden Staaten international zu isolieren. Trotz der weiterhin lebendigen Freundschaft mit Washington, strebt Erdogan nach einer unabhängigen, nicht mehr voll auf den Westen und die EU orientierten Außenpolitik. Doch mit dem fortschreitenden „Arabischen Frühling“ ist die türkische Strategie der „Null-Probleme“ kläglich gescheitert. „Null-Probleme“ ist in Wahrheit der Euphemismus für „Freundschaft mit Diktatoren“, vom Libyer Gadafi, über den Syrer Assad bis zum Iraner Ahmadinedschad. Die Aktivisten des „Arabischen Frühlings“, die monatelang ihr Leben im Kampf um Freiheit, Menschenrechte und Würde riskierten und immer noch riskieren, verzeihen Erdogan nicht, dass er das Problem der Unterdrückung arabischer Völker durch die mit ihm befreundeten Tyrannen in den jahrelangen Beziehungen ignorierte, ganz zu schweigen von den Schikanen, den Menschenrechtsverletzungen an seiner eigenen kurdischen Bevölkerung.

So erlitt Erdogan eine demütigende Abfuhr, als er sich nach dem Sturz der Autokraten in Ägypten, in Libyen und in Tunesien als der Hüter und Förderer eines zukunftsträchtigen politischen Modells für die islamische Welt präsentierte und damit den Aufstieg zur neuen regionalen Großmacht erhoffte. Diesem Türken, der seine Probleme mit seinen kurdischen Untertanen primär durch Folter, Gefängnis und den Einsatz seiner Armee – vergeblich – zu lösen versucht und dabei die Souveränität des Nachbarstaates regelmäßig verletzt, vertrauen nur wenige in der Region. Da nützt es auch nichts, selbst wenn er sich wortgewaltig um die emotionalsten Sorgen der Araber annimmt, die Palästinenser, und damit Teheran, lautstarker Verfechter palästinensischen Selbstbestimmungsrechts, die Show zu stehlen versucht. Nicht zuletzt hat auch Erdogans Versagen, seinen strategischen Bündnispartner (gegen die PKK) Assad zu Reformen zu drängen den schwachen Einfluß entlarvt, den die heutige Türkei unter den Nachbarn, ja in der gesamten arabischen Welt besitzt. Vielmehr mehren sich die Anzeichen, dass sich Assad die PKK in Syrien warmhält, um sie, wenn nötig, wie einst sein Vater, als starke Karte gegen Ankara auszuspielen.

Die rasche politische Kehrtwende – Distanz zu Assad etwa – hilft wenig, um neues Vertrauen aufzubauen. So hat Ankara viel an diplomatischer Schlagkraft in der Region verloren, während der iranische Gegenspieler zittert, dass sich sein wichtigstes Tor in die arabische Welt, zu den Schiiten des Libanons und zur Grenze des israelischen Feindes durch den wahrscheinlich unvermeidlichen Sturz des Assad-Regimes für immer schließen könnte. Zugleich verteidigt Erdogan sein angeschlagenes außenpolitisches Selbstbewusstsein durch Säbelrasseln etwa im Konflikt um Gasbohrrechte vor dem von türkischen Truppen besetzten Teil der Insel Zypern oder der Drohung, von Israel kritisierte Hilfslieferungen an die wie in einem großen Gefängnis eingeschlossenen Palästinenser in Gaza durch türkische Kriegsschiffe zu schützen.

Durch solch forsches Auftreten auf der Weltbühne wolle sich die Türkei größeren Manövrierraum gegenüber dem Westen verschaffen und diesem klar machen, dass er es sich nicht leisten könne, auf Ankaras Vermittlerrolle zu vernichten, analysiert Sinan Ülgen vom Think Tank „Carnegie Endowment“ („Testing Turkey’s Influence“, 28.9.2011)

Teheran verfolgt türkisches Muskelspiel mit einer Mischung aus Unbehagen und Schadenfreude. „Das säkulare System ist kein gutes Modell“ sticht der Ex-Kommandant der iranischen Revolutionsgarden und Berater des „Geistlichen Führers“ Khamenei , General Rahim Safavi, tief in türkische Wunden. Ankaras Politik sei unvereinbar mit den Idealen der muslimischen Bevölkerung der Türkei. (Tehran Times, 8.10.2011) Dass das iranische Staatsmodell kaum mehr Attraktivität besitzt, tut für ihn nichts zur Sache.

Iranische Drohungen

Unterdessen löste auch Ankaras Zusage an die USA, in Ostanatolien die Stationierung eines NATO-Raketenabwehrsystems zu gestatten, eine Flutwelle von Attacken und Drohungen des iranischen Regimes aus, dessen zentrales außenpolitisches Anliegen totale Unabhängigkeit und eine von westlichen (Groß-)Mächten befreite Region ist. Die Türkei – so wettert Safavi – werde einen „hohen Preis“ bezahlen, wenn sie nicht ihre jüngsten „strategischen Fehler“ korrigiere. (press tv.ir., 20.20.2011) Offene Feindseligkeit dokumentiere die Türkei damit gegenüber der „Islamischen Republik“, die doch zu einer der wichtigsten Wirtschaftspartner aufgestiegen sei und den bilateralen Handel noch auf 30 Mrd. Dollar verdoppeln wolle, heißt es empört in Teheran, wo sich die Führung nicht durch Erdogans Beteuerungen beschwichtigen läßt, dass doch die Raketen gar nichts mit einer möglichen Abwehr iranischer Attacken gegen Israel zu tun hätten. Israel werde auch so untergehen, bemerken trotzig offizielle Kreise in Teheran. Und in die Zweckfreundschaft der beiden Rivalen kühlt immer stärker ab.

Doch wie stets in der Geschichte gibt es auch heute noch einen Bereich, der alle Zwietracht überdeckt: der gemeinsame Wunsch, den staatenlosen Kurden auf ihrem Boden auch nur die kleinste Chance auf ihr legitimes Selbstbestimmungsrecht zu verwehren. Syriens Diktator müsse weichen, wettert Erdogan nun offen, auf Sympathie der syrischen Opposition hoffend und spielt großzügig den Gastgeber für diverse Strategiekonferenzen über die Zukunft des Nachbarstaates ohne dem Assad-Clan. Doch was, wenn in einem neuen Syrien die etwa zwei Millionen Kurden nach irakischem Vorbild Autonomie erhalten? Was, wenn Syrien im Chaos versinkt und die Kurden die jahrzehntelange Knute des Regimes abschütteln und aktiv um ihre Freiheit ringen, auch um die ihrer Brüder und Blutsverwandten in der Türkei? Kaltes Schaudern jagen solche Aussichten den Strategen in Ankara, über den Rücken, ebenso wie jenen in Teheran. Auch die arabische Führung in Bagdad verfolgt das Geschehen mit tiefem Unbehagen. Wer in der Region will schon, dass dieses größte Volk der Welt ohne Staat sich selbst verwaltet? Wäre es da nicht doch besser, Assad die Macht zu erhalten, ihn aber so zu stärken, dass nicht sein strategischer Partner Iran auch jenseits dieser türkischen Grenze das Sagen erhält? Ein schier unlösbares Dilemma, in das der arabische Frühling nun Erdogan gestürzt hat.

Offen beklagt Shalal Gedo, Führer der „Linken Kurdenpartei in Syrien“ (Rudaw, 22.9.2011), Ankara versuche alles, um die syrische Opposition „in seine Dienste zu stellen“, damit „die Kurden nicht in einer neuen syrischen Verfassung geschützt werden“. Berichte, dass syrische Kurden – wiewohl zunächst zaghaft – beginnen, sich unter kurdischem Banner gegen Assad zu mobilisieren, sowie Sympathiebezeugungen der PKK für die bedrängten Brüder im Nachbarstaat lassen die Eröffnung einer neuen Front in dieser turbulenten Region befürchten.

Dunkle Schatten über Kurdistan

Für Erdogan gilt es unterdessen freilich die Felle im Irak, insbesondere im dortigen Kurdistan, vor einem expansiven Iran zu retten, wenn sich durch den US-Abzug für beide neue Chancen auf strategischen Vormarsch eröffnen. Die Kurden sind dieser Neuauflage des geostrategischen Rivalitätskampfes besonders empfindlich ausgesetzt.

Seit dem Sturz des irakischen Diktators Saddam Hussein 2003 haben die Türken einen großen dunklen Schatten über Kurdistan geworfen. Wohl von Washington bedrängt, fügte sich Erdogan schließlich in das Unvermeidliche und akzeptierte das Schreckgespenst der kurdischen Selbstverwaltung. Die bedrohlichen Viren politischer Eigenständigkeit, die sich von dort auf die kurdischen Brüder in der Türkei auszubreiten drohten, bekämpfte Ankara mit kluger und äußerst erfolgreicher Strategie. Wenn es die Autonomie schon nicht verhindern konnte, dann soll sie unter türkischem Segen und totaler Abhängigkeit fortexistieren. Damit läßt sie sich jederzeit bei Bedarf strangulieren. Die Türkei baute eifrig Straßen und Flughäfen, sowie diverse andere strategische Einrichtungen und stellte damit einen Fuss voll in die historisch von ihr beanspruchte kurdische Nachbarregion. Die Hälfte der unterdessen im relativ sicheren Kurdistan niedergelassenen ausländischen Firmen, 1.200 an der Zahl, sind türkische, ein paar Dutzend iranische. 80 Prozent der heute in Kurdistan importierten Waren stammen aus der Türkei, ein kleinerer Teil davon aus dem Iran.

Militärisch ist die Türkei seit den 90er Jahren in Kurdistan präsent, seit jenem unglückseligen Krieg zwischen den Peschmergas des heutigen Präsidenten Kurdistans, Massoud Barzani, und jenen der Patriotischen Union Kurdistans des derzeitigen irakischen Präsidenten Talabani. Mehrmals in den vergangenen Wochen appellierte das Parlament Kurdistans in Erbil an die Türkei, diese einst zum Schutz Barzanis gegen Talabani errichteten Stützpunkte, sowie andere Geheimdiensteinrichtungen zu schließen, damit irakisch-Kurdistan nicht zu einem neuen Schlachtfeld werde. („alsumaria.TV“).

Die historische Feindschaft zwischen Nordiraks Kurden und der Türkei hat sich in eine durchaus ökonomisch fruchtbare Kooperation verwandelt, in der Ankara dem kurdischen Ölreich das Tor zu den westlichen Märkten öffnet und sich dominierenden strategischen Einfluss über das einstige osmanische Wilayet Mosul sichert. Den Verlust dieser Großprovinz mit ihren reichen Ölquellen in der Region Kirkuk an die britischen Eroberer dieses Gebietes 1918 haben türkische Nationalisten bis heute nicht verschmerzt.

„Vasallen“ der Türkei?

Wenn auch die irakische Kurdenführung – vorerst – die materiellen Früchte der intensiven Kooperation mit dem alten Feind der Kurden genießt, in privaten Kreisen Bagdads erheben sich unter arabischen Politikern sorgenvolle Stimmen, die befürchten, Ankara erstrebe die Kontrolle über Nord-Iraks Wirtschaft und Politik, um de facto das ehemalige Wilayet Mosul „in einen eindeutig türkischen Machtbereich einzugliedern“. (United States Institute of Peace“: „The Coming Turkish Iranian Competition in Iraq“, June 2011). Und auch manche kurdische Politiker quält der Verdacht, dass Erdogan Kurdistan in ökonomische Abhängigkeit zwingen wolle, um die Region zu einem „Vasallen“ zu machen.

Auch Teheran beobachtet Ankaras Strategie im Irak mit großem Unbehagen. Schon haben die Türken auch begonnen im überwiegend schiitischen Südirak, dem Kerngebiet iranischen Einflusses, Fuß zu fassen. Und von anderer Seite droht neuer Widerstand gegen das vom Iran angepeilte Ziel eines schwachen, von Schiiten unter seinem dominierenden Einfluss regierten Irak: Saudi-Arabien, sunnitischer Erzrivale in der Region. Der jahrelange Kalte Krieg zwischen beiden Staaten droht nun nach der Aufdeckung eines mutmaßlich vom Iran angezettelten Attentatsversuchs gegen den saudischen Botschafter in Washington zu einem blutigen Stellvertreterkrieg zu entarten, erneut, wie bereits nach dem Sturz Saddam Husseins, auf irakischem Boden. Diplomatische Quellen berichten, Riad sei schockiert über die Absicht US-Präsident Obamas, alle US-Soldaten bis zum Jahresende aus dem Irak abzuziehen und damit, wie die Saudis es verstehen, iranischer Vorherrschaft Tür und Tor zu öffnen. „Iran stellt eine direkte und unmittelbare Bedrohung nicht nur für das (saudische) Königshaus dar, sondern für die Sunniten in der ganzen Region“, warnt ein führendes Mitglied des Regimes in Riad. „Wenn Washington nicht unsere Interessen in der Region schützen kann, dann werden wir dies selbst tun müssen.“ („Wall Street Journal“, 17.10.2011).

Immerhin waren es die Saudis gewesen, die lange den gewalttätigen sunnitischen Widerstand gegen Schiiten – aber auch Amerikaner – im Irak unterstützt und saudische Jihadis in das Kampfgebiet an Euphrat und Tigris entsandt hatten. Auch damals ging es darum, Irans Vormarsch zurückzudrängen.

Den gequälten Irakern, auch den Kurden, die im Norden jahrelang eine Ruhe und Prosperität erlebten wie nie zuvor, stehen turbulente Zeiten bevor. Auf den Berghöhen des Zagros richten Iraner ihre Stützpunkte ein, um jede Bewegung im umkämpften Land zu kontrollieren, die Türken sind schon allgegenwärtig, und die Saudis finden offene Türen. Dazwischen eingequetscht ist der kurdische Erzfeind, der auch unter den irakisch-arabischen Brüdern auf viel Mißtrauen stößt. Iran und die Türkei werden alles daran setzen, nun den uralten Plan zu vollenden: die Errichtung von entvölkerten, verminten „Schutzzonen“ entlang ihrer Grenzen, damit nur sie über die „Freiheit“ irakisch-Kurdistans entscheiden und die Bevölkerung dort als Geiseln halten können.


Dieser Artikel erschien in „Le Monde Diplomatique kurdi“, November 2011
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Arabische Liga setzt Assad massiv unter Druck

Suspendierung der Mitgliedschaft ist ein schmerzlicher psychologischer Schlag – Öffnet die arabische Entscheidung den Weg zu internationaler Intervention?

von Birgit Cerha

Syriens schwer bedrängtes Regime rutscht nun auch in seiner eigenen, der arabischen Welt, immer tiefer in die Isolation. Attacken gegen die Botschaften Saudi-Arabiens und Katars in Damaskus, sowie die französischen und türkischen Konsulate in Latakia durch Anhänger des syrischen Regimes am Wochenende illustrieren die Entschlossenheit Präsident Assads, sich durch nichts und niemanden vom mörderischen politischen Überlebenskampf abhalten zu lassen. Syrien ist nun in seiner eigenen politischen Umwelt fast total isoliert. Denn nach mehr als acht Monate beispiellosen Blutvergießens mit mindestens 3.500 Toten, entschloß sich die Arabische Liga am Wochenende in Kairo endlich zu einer klaren Position.

Die Entscheidung der Regionalorganisation, Syriens Mitgliedschaft auszusetzen, wenn das Regime Baschar el Assads nicht bis kommenden Mittwoch alle Gewalt gegen die eigene Bevölkerung stoppt und Panzer und schwere Waffen aus den Städten zurückzieht, kam unerwartet. Denn die 22 Mitglieder umfassende Organisation hat sich seit vielen Jahren durch interne Streitigkeiten und fast totale Unfähigkeit zur Konfliktlösung hervorgetan. Nun retteten die vom „Arabischen Frühling“ noch nicht hinweggefegten Regime – zunächst zumindest - die Glaubwürdigkeit der Organisation, indem sie das Morden eines der ihren nicht länger tatenlos hinnimmt. Alle arabischen Botschafter sollen aus Damaskus abgezogen werden und verschärfte Wirtschaftssanktionen drohen. Gegen die Resolution stimmten der unter syrischer Hegemonie stehende Libanon, sowie der Jemen, dessen Präsident einen ähnlichen politischen Todeskampf führt. Der vor acht Jahren von einem brutalen Diktator befreite Irak enthielt sich der Stimme und beweist damit den starken Einfluß des einzig verbliebenen syrischen Bündnispartners, Iran, auf den politischen Entscheidungsprozess in Bagdad.
Das Regime in Damaskus verurteilt die Entscheidung der Liga als „illegal“ und fordert die Einberufung einer Dringlichkeitsgipfels, in der Hoffnung wohl, damit Zeit zu gewinnen. Seit Beginn der Revolten im März setzt Assad auf diese Strategie, zuletzt als er einem Friedensplan der Liga zustimmte, versprach, das Blutvergießen sofort zu beenden, Militär und Panzer aus Städten abzuziehen, Gefangene (weit mehr als 10.000 sind es unterdessen) freizulassen und einen Dialog mit der Opposition über politische Reformen zu beginnen. Statt den Plan in die Tat zu setzen, eskalierte das Regime die Gewalt. Allein in elf Tagen starben mehr als 250 Menschen, so viele wie noch nie in solch kurzem Zeitraum und Assads Behauptung, er erfülle seine Zusagen, indem er bereits 500 Gefangene freigelassen hätte, wird in Ligakreisen als Hohn empfunden. Unterdessen haben die oppositionellen „Lokalen Koordinations-Komitees Syriens“ die Stadt Homs, das derzeitige Zentrum der Rebellion, zu einem „humanitären Katastrophengebiet“ erklärt. „Human Rights Watch“ belegt in einem 63-seitigen Bericht „systematische“ Brutalität des Regimes gegen Zivilisten und verlangt, dass das Regime wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Hag gestellt werden müsse.
Die Suspendierung der Mitgliedschaft versetzt dem Regime, das sich seit Generation als das „schlagende Herz des arabischen Nationalismus“ empfindet, einen schweren psychologischen Schlag. Doch sie wird ein despotisches Regime kaum zu einem Einlenken zwingen, das sein eigenes Ende besiegeln würde. Dieser Druck reicht nicht, um das Morden zu beenden. Deshalb will die Liga kommenden Mittwoch weitere Schritte beschließen. Lenke Assad nicht ein, folgten politische und wirtschaftliche Sanktionen und die Liga werde die UNO zu Hilfe rufen. Ein ähnlicher Schritt der Organisation hatte entscheidend dazu beigetragen, dass westliche Staaten eine Bombenkampagne gegen Libyens unterdessen ermordeten Diktator Gadafi begonnen hatten. Aber „niemand spricht von einer Flugverbotszone“, die einige syrische Oppositionsgruppen verlangen, „betont Katars Außenminister Scheich Hamad bin Jassim. Auch von Bewaffnung der Opposition, die die Liga für kommenden Mittwoch zu Verhandlungen über eine Strategie für den Übergang von Diktatur zu Demokratie in Syrien nach Kairo geladen hat, wollen die arabischen Brüder – vorerst – nichts wissen. Doch die Ultimaten an Assad werden kürzer und der Druck massiver.

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Mittwoch, 9. November 2011

„Iran wird nicht einen Millimeter zurückweichen“

Warum die „Islamische Republik“ eine Eskalation im Atomkonflikt riskiert – Amadinedschad versucht, die revolutionäre Glut neu zu entfachen – Wo steht das Volk?

von Birgit Cerha

„Die iranische Nation ist weise. Sie wird nicht zwei (Atom-)Bomben in einer Welt bauen, die bereits von nuklearen Waffen überschwemmt ist. Aber sie baut etwas, worauf ihr (die USA) nicht antworten könnt: Ethik, Anstand, Monotheismus und Gerechtigkeit.“Einen Tag, nachdem die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) in ihrem jüngsten Bericht dem Iran vorwirft, zumindest bis zum vergangenen Jahr an der Entwicklung einer Atombombe gearbeitet zu haben, heizte Irans Präsident Ahmadinedjad die internationalen Spannungen weiter auf. Der Iran werde in der heißumstrittenen Atomfrage „nicht einen Millimeter zurückweichen“. Zugleich wies Ahmadinedschad die Behauptungen der IAEA als „unausgewogen“ zurück. Sie stützten sich auf falsche Informationen. Zudem brauche der Iran keine Atombombe, um die USA zu vernichten.

In der Region wächst die Nervosität, ein Militärschlag der Israelis oder gar der USA hätte unabsehbare Auswirkungen, für den Iran, aber auch für den gesamten Mittleren Osten. Welche Motive treiben die Führer der „Islamischen Republik“, die aus religiöser Überzeugung offiziell den Einsatz von atomaren Waffen entschieden ablehnen, dieses gefährliche Versteckspiel mit der internationalen Gemeinschaft unbeirrt fortzusetzen? Kein Zweifel, zum nationalen Schutz benötigt Teheran die Bombe nicht, ist der Iran doch umringt von überwiegend schwachen Staaten mit teils gravierend destablisierenden internen Problemen. Keiner erwägt auch nur in seinen kühnsten Träumen eine Invasion der „Islamischen Republik“. Und dennoch deutet alles darauf hin, dass Teheran sich zumindest die Fähigkeit zu einem raschen Bau von Atombomben sichern will.

Welche Motive treiben die „Gottesmänner“, an diesem gefährlichen Kräftemessen mit der internationalen Gemeinschaft festzuhalten? Eine Analyse iranische Aktionen und offizieller Erklärungen lässt einen breiten Konsens für ein Ziel erkennen: den Aufstieg zur führenden Regionalmacht, einer Position, die der Größe der Bevölkerung, deren intellektueller Kapazitäten, den ökonomischen Ressourcen des Landes, seiner Geschichte, Kultur und Identität entspricht. Die Anerkennung dieser Rolle verweigern die umliegenden Staaten den Iranern zumindest seit der islamischen Revolution vor drei Jahrzehnten.

Diese „imperialistische Denkweise“, wie manche Iran-Experten den geostrategischen Ehrgeiz der iranischen Führungselite nennen, findet sich auch in weiten Kreisen der ansonsten tief gespaltenen iranischen Gesellschaft. Viele Iraner dürften sich einig sein, dass ihr Land es verdient so mächtig wie nur möglich zu werden. Diese Gefühle haben sich durch die katastrophale Politik der islamischen Führer, insbesondere im Bereich der Wirtschaft, offenbar wesentlich gesteigert. Während die Iraner in den vergangenen zwei Jahrzehnten, ungeachtet des Öl- und Gasreichtums eine Senkung ihres Pro-Kopf-Einkommens hinnehmen mußten und von der internationalen Gemeinschaft dämonisiert werden, beobachten zumindest jene, die Auslandsreisen unternehmen, voll Bitterkeit die ökonomischen und technologischen Entwicklungen bei Nachbarn etwa in Dubai oder Istanbul. Ungeachtet von den Interessen und Strategien des Regimes, findet sich beim Durchschnittsbürger ein psychologisch bedingtes starkes Interesse an der Machtentfaltung seines Landes, auch wenn die wenigsten mit dem Atomprogramm vertraut sind.

Dennoch hält der Iran-Experte Karim Sadjapour etwa im Westen oft wiedergegebene Behauptungen, die Iraner stünden voll hinter dem Atomprogramm des Regimes für übertrieben. Er weist darauf hin, dass zwei Drittel der Bevölkerung unter 30 ist, in der Zeit unmittelbar nach dem blutigsten Krieg der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, jenem mit dem Irak, geboren und – wie ihre Eltern - wenig Lust an neuen kriegerischen Konflikten verspüren, sondern vielmehr endlich einen wirtschaftlichen Aufschwung erhoffen. Dennoch sehen viele das technologische Know-how auch im Bereich der Atomenergie als wichtigen Faktor in der Entwicklung des Irans zu einem modernen, mächtigen Staat. Zudem würde der Iran als Atommacht in den sehr exklusiven internationalen Club aufsteigen und damit auch endlich auf der Weltbühne die ihm gebührende Anerkennung genießen, eine Aussicht, die auch für regimekritische Bevölkerungskreise Attraktivität besitzt.

Das iranische Regime hingegen stützt sein Streben nach regionalpolitischer Macht nicht primär auf ökonomische Entwicklung, die es jahrzehntelang sträflich vernachlässigt hat, sondern auf Ideologie und militärische Kraft. Der Besitz der Fähigkeit zum raschen Bau der Atombombe, so hofft man in Teheran, werde dem „Gottesstaat“ endlich die heißersehnte Anerkennung als Führungsmacht durch die Regionalstaaten einbringen. Dafür scheut Ahmadinedschad auch nicht den offenen, vielleicht gar militärischen Konflikt mit dem Westen. Irans Präsident, darin sind sich Beobachter einig, hat vielmehr längst erkannt, dass Khomeinis islamisch-revolutionäres Gedankengut nur noch wenige zu befeuern vermag und er setzt verstärkt auf einen auflebenden iranischen Nationalismus, der sich mit dem Islamismus des Regimes verschmelzen und diesem neue Kraft schenken könnte.

Viele seiner zahlreichen Gegner innerhalb der herrschenden Elite konnte der Präsident bisher für seinen kompromisslosen Kurs gewinnen, weil der Iran dafür bis heute keinen schmerzlichen Preis bezahlen, sondern durch den Verbalkrieg vielmehr – so sieht man es zumindest in Teheran – international an Statur gewonnen habe. Doch herrschende Kreise im „Gottesstaat“ haben auch einen Hang zum Pragmatismus. Steigt der Preis für ihre Atomstrategie über die Schmerzgrenze, dann könnte sich ihre Position rasch entscheidend verändern.

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Sonntag, 6. November 2011

Assads schwindende Optionen

Den Syrern steht ein langer, blutiger Zermürbungskrieg bevor bis das Regime zusammenbricht – Die Gefahr eines Bürgerkriegs nimmt stetig zu

Bild: Homs, derzeitiges Zentrum des Widerstands

von Birgit Cerha

Lange hatte die Arabische Liga gebraucht, bis sie Anfang November endlich dem schwer bedrängten syrischen Diktator Baschar el Assad einen Friedensplan präsentierte, der das Land nach acht Monaten des Blutvergießens zur Ruhe bringen sollte. Und Assad akzeptierte. Er versprach, Panzer und Soldaten von den Straßen zurückzuziehen, seit Beginn der Revolte Festgenommene (vielleicht 20.000, niemand weiß es genau) freizulassen und Verhandlungen mit der Opposition zu beginnen. Doch das Sterben geht weiter. In Homs, dem derzeitigen Zentrum des Widerstandes gegen das Regime, seien ganze Gebäude durch Panzerkanonen zerstört worden, berichtet ein Augenzeuge aus der heißumkämpften zentralsyrischen Stadt. „Es gibt kein Brot mehr und Zivilisten, die in den Straßen verwundet werden bleiben liegen und sterben, weil sie niemand retten kann.“ Erneut rief am Wochenende der Generalsekretär der Arabischen Liga, Nabil al-Arabi, das syrische Regime eindringlich auf, das Blutvergießen sofort zu beenden. Ein Scheitern des arabischen Friedensplans werde „katastrophale Folgen für Syrien und die Region“ nach sich ziehen.

Tatsächlich spricht nichts dafür, dass Assad oder auch seine Gegner diesem Plan eine Chance geben wollen. Er kommt viel zu spät. Das Tor zu nationaler Versöhnung ist nach dem Tod von mehr als 3.000 Menschen längst zugeschlagen. Wiewohl über die Zukunft Syriens immer noch weitgehend uneins, ist sich die interne und im Exil lebende Opposition in einem Punkt einig: Baschar el Assad hat durch seine zahllosen unerfüllten Versprechen der vergangenen acht Monate jegliches Vertrauen und durch die mörderische Brutalität seiner Schergen gegen unbewaffnete Demonstranten jegliche Kompromissbereitschaft seiner Gegner verspielt. Für diese gibt es nur mehr ein Ziel: Sturz des Regimes. „Nach Gadafi (Libyens getöteten Diktator) bist du dran, Baschar“, lauten die jüngsten Rufe der trotz aller Gewalt unerschrocken protestierenden Syrer. Die Freilassung von 553 Gefangenen aus Anlaß des muslimischen Festes Eid al-Adha mag die Opposition ebenso wenig umzustimmen, wie die einwöchige Amnestie für Rebellen, die sich den Behörden stellen und ihre Waffen abliefern. Eine Warnung des US-Außenministeriums, das Angebot des Regimes nicht ernst zu nehmen, löste unter den Damaszener Führern helle Empörung über solche „Einmischung“ der Supermacht aus.

Unterdessen sind sich Experten in der Region weitgehend einig, dass den Syrern nun ein langer Zermürbungskrieg bevorsteht, bis das Regime Assad endgültig zusammenbrechen werde. In acht Monaten ist es Assad nicht gelungen, trotz skrupelloser Gewalt, trotz der Bombardierung und Belagerung größerer Städte wie Homs, Hama und Latakia, den Aufstand niederzuschlagen. Doch auch seine Gegner haben nicht die Kraft die Diktatur zu Fall zu bringen. Die Gewalt aber hat unterdessen ein Maß an Eigengesetzlichkeit erreicht, dass Assad kaum noch Optionen offenläßt. Durch die Bombardierung von Städten, die wahllose Tötung von Zivilisten schaufelt sich das Regime sein eigenes Grab und treibt das Land in den Ruin, darin sind sich Analysten in der Region einig.

Unterdessen verstärken sich die ersten Anzeichen eines beginnenden Bürgerkrieges. Am Rande von Aleppo, dem bisher weitgehend ruhig gebliebenen, von Assads Sicherheitskräften umringten kommerziellen Zentrum Syriens, seien, so lokale Kreise, vor wenigen Tagen Angehörige der alawitischen Minderheit ermordet worden. Beginnt nun die blutige Rache der seit Jahrzehnten teils blutig vom Alawiten-Regime unterdrückten sunnitischen Mehrheit? Schon dringen Berichte nach außen, Assad unterstützendes medizinisches Personal weigere sich, verwundete Rebellen zu behandeln.

Seit April, so berichtet das „Internationale Institut für Strategische Studien“ würden Waffen nach Syrien geschmuggelt und „dieser illegale Handel blüht nun, wiewohl vor allem an Zivilisten zur Selbstverteidigung“ und nicht als gezielte Aktion ausländischer Mächte, wie das Regime gerne zur Rechtfertigung seiner eigenen Gewalt behauptet. Die große Mehrheit der Opposition besteht dennoch weiterhin auf Gewaltlosigkeit. So hat der jüngst in der Türkei nach langen turbulenten Verhandlungen als Dachverband der Opposition gegründete „Syrische Nationale Rat“ (SNR), ein Waffen-Angebot des „Libyschen Übergangsrates“ entschieden abgelehnt. Dennoch dürfte auch nach unabhängigen Quellen die vo abgesprungen Offizier Riad Asaad unter türkischem Schutz gegründete „Freie syrische Armee“ stetig wachsen. Asaad behauptete jüngst in einem Interview er kommandiere nun 10.000 desertierte syrische Soldaten. „Wir sind die Zukunft Syriens. Wir schlagen gegen Assads Regime und seine Armee an vielen Orten“. Er wolle, so erklärte Assad, in Nord-Syrien nach dem Vorbild Benghazis in Libyen, eine befreite Zone schaffen, um von dort aus das Regime zu Fall zu bringen. Doch es fehlt an Waffen und Männern, um die rund 200.000 Mann starken syrischen Armee in die Knie zu zwingen. Die Militarisierung des Konflikts aber droht Syrien in einen Bürgerkrieg zu reißen. Schon jetzt sollen nach unabhängigen Quellen im Schnitt pro Tag ebenso viele Soldaten sterben, wie Rebellen.

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