Der Jahrhunderte alte Wettstreit um die Vorherrschaft über Mesopotamien und die Kurdenregion nimmt eine neue gefährliche Wende
(Bild: Zagros-Gebirge)
von Birgit Cerha
Gerechtigkeit für seine sieben Familienmitglieder. Diese Ziel hat sich der in britischem Exil lebende Kurde Sherwan Hussein Mustafa für seine Zukunft gestellt, gleichgültig, wie lange dieses Ringen auch währe. Sherwans Schicksal schockiert und doch ist es kein Einzelfall. Es symbolisiert vielmehr die tragische Existenz der kurdischen Zivilbevölkerung in den Bergregionen des Taurus und Zagros. Über Jahrhunderte wurden sie als Geiseln gehalten in einem oft blutig ausgetragenen Rivalitätskampf zwischen Iranern auf der einen, Griechen, Römern, Byzanz, sowie den Osmanen auf der anderen Seite, ein Kampf um Vorherrschaft und Kontrolle dieser Region, die Europa mit Asien verbindet. Er hält bis heute an.
Sherwan ist entschlossen, sich nicht wie so viele seiner kurdischen Leidensgenossen voll Bitterkeit in sein Schicksal zu fügen, das ihm mit einem Schlag seine Eltern und fünf Familienmitglieder geraubt hat. Es war an einem Tag im August 2011 gewesen, als die Familie, wie stets, ihrer Arbeit auf einem Bauernhof im nordirakischen Kandilgebirge nachging. Da ertönte aus der Ferne der Donner von Explosionen. Türkische Piloten kreisten mit ihren Kampfjets über dem unwegsamen Hochgebirgsgelände und warfen in die Täler und versteckten Winkel der Kandilberge, wie so oft zuvor, Bomben ab, in der Hoffnung, endlich Stützpunkte der Guerillas der „Kurdischen Arbeiterpartei“ (PKK) zu treffen. Die irakische Kurdenfamilie flüchtete in ihrem Pickup in Richtung der etwas entfernter gelegenen Stadt Rania. Unterwegs gerieten sie in die Schusslinie der türkischen Kampfflugzeuge, „die ihre Körper in unzählige kleine Teile sprengten“. So berichtete Sherwan gegenüber „KurdishGlobe (19.9.2011) „Gleichgültig, auch wenn es Jahre dauert“, Sherwan ist entschlossen, mit Hilfe eines Anwaltkomitees von internationalen Gerichten „Gerechtigkeit für meine Familie zu erringen“ und die vielen anderen kurdischen Zivilisten, die Angehörige im Hagel türkischer und iranischer Kanonen verloren. Internationale Gerichte sollen diese immer wiederkehrenden Bluttaten der regionalen Großmächte gegen die im Grenzgebiet lebende kurdische Bevölkerung als „internationales Verbrechen“ gegen die Menschlichkeit verurteilen, damit sie nicht länger als weltweit unbeachtete „lokale Vergehen“ abgetan und ignoriert werden können.
Militäraktion nicht wegen der PKK?
Sherwans Familie starb im August. Im Oktober schlugen die Türken erneut massiv zu, 10.000 Soldaten marschierten in den Nord-Irak ein, nachdem die PKK 24 türkische Soldaten getötet hatte. Diese militärische Reaktion war vorhersehbar, ebenso wie der Schrei der türkischen Bevölkerung nach Vergeltung. Warum die Provokation der PKK? Welche Strategie, welche Ziele werden damit verfolgt? Die Erklärung eines türkischen Generals drängt sich in Erinnerung: Die Armeeführung hätte kein Problem, wann immer sie es für notwendig erachte, Gründe für eine Militäraktion im Nord-Irak zu finden. Und der ehemalige türkische Geheimdienst-Offizier und Stratege Mahir Kaynak meint zum türkischen Einmarsch im Nord-Irak im Oktober, nicht der „Terror der PKK“ habe dafür den Grund geliefert, sondern die Absicht Ankaras, „Irans Einfluss“ in diesem Gebiet „zurück zu drängen“. Kaynak prophezeit angespannte Beziehungen zwischen Iran und der Türkei in den kommenden Jahren. (Zaman, 16.10.2011).
Immer und immer wieder beginnt das blutige Spiel von neuem: Kleinattacken der Guerillas, der PKK, wie deren iranischer Tochter PJAK (Partiya Jiyana Azad a Kurdistane – Partei für ein freies Leben in Kurdistan) gegen Militärziele in der Türkei bzw. im Iran. Es folgen iranische und türkische Gegenschläge aus der Luft, Einmärsche von Truppen der Nachbarländer, Verletzung der Grenzen, der irakischen Souveränität, kurdische Zivilisten werden aus Grenzdörfern verjagt, deren Felder und Vieh mit dem Ziel vernichtet, menschenleere „Sicherheitsgürtel“ an den jenen Grenzen zu schaffen, die Kolonialmächte einst willkürlich zogen und dabei Stämme, Clans, ja auch Familien zerrissen. Die internationale Gemeinschaft zuckt die Achseln: Beide Staaten wehrten sich nur gegen die Gewaltakte von PKK und PJAK.
Doch in Wahrheit positionieren sich Iran und die Türkei im nordirakischen Kurdistan für die Neuauflage eines uralten Rivalitätskampfes um die Vorherrschaft in Mesopotamien und der gesamten Region. Wer wird in das Machtvakuum vorstoßen, wenn sich US-Truppen bis Weihnachten aus dem Irak zurückziehen? Washington, so diplomatische Quellen, drängt die ein säkulares System repräsentierende Türkei, dem wachsenden Einfluss des islamischen „Gottesstaates“ Iran einen Riegel vorzuschieben – in erster Linie im Irak.
Rivalität und Zweckfreundschaft
Als die Fürstendynastie der Safawiden zu Beginn des 16. Jahrhunderts die mehrheitlich von Iranern bevölkerten Gebiete zu einem Königreich zusammenschlossen, auch Minderheiten, wie etwa die Kurden im Westen, darin integrierten und den Großteil ihrer Untertanen zum schiitischen Islam führten, legten sie den Keim zu einem iranischen Nationalbewußtsein. Das erstarkende persische Reich fühlte sich nicht nur von Usbeken im Nordosten, Afghanen im Osten und einflußreichen indischen Großmoguln bedroht, sondern vor allem beständig vom Westen durch das von Sunniten beherrschte Osmanische Reich. Kriege lösten Perioden der Zusammenarbeit ab. So wurden die Iraner und Türken zu natürlichen geostrategischen Gegnern, die zugleich eine essentielle, wiewohl von tiefem Mißtrauen dominierte Freundschaft verbindet. Der Konflikt zwischen den beiden Mächten wurde meist auf dem Boden Mesopotamiens und in Kurdistan ausgetragen. Eine Neuauflage steht nun als Folge dramatischer Turbulenzen im gesamten Mittleren Osten bevor. Er droht eine weit größere Region mit hinein zu ziehen.
Während die Gunst der Geopolitik in den vergangenen Jahren der „Islamischen Republik“ hold war, der Iran dank von den USA geführter Kriege in Afghanistan, vor allem aber im Irak nach dem Sturz seines Erzfeindes Saddam Hussein 2003 seinen Einfluss dramatisch ausweiten konnte, gewann auch die türkische Außenpolitik unter Rezep Tayyip Erdogan an Kraft. Die beiden Mächte verfolgen konträre Visionen für den Mittleren Osten.
Seit dem Aufstieg der islamisch orientierten „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AK) in die Regierung und an die Spitze des Staates 2002 vollzog sich in der Türkei ein sozialer und politischer Wandel. Eine neue Elite strebt nach Ausweitung des ökonomischen und politischen Einflusses im Mittleren Osten, ja in der islamischen Welt insgesamt. Diese „neo-osmanische Politik“, wie sie die Medien unterdessen nennen, stützt sich auf die Weltsicht Ahmet Davutoglu, Erdogans langjährigen Berater und derzeitigen Außenministers, zusammengefasst unter dem Begriff „Null-Probleme“ mit den Nachbarn – ein höchst ehrgeiziges Konzept in der so turbulenten Region, die sich vom Mittleren Osten bis zum Kaukasus und Zentralasien erstreckt. Für Ankaras Strategen liegt die Zukunft in der Vergangenheit, der Wiederbelebung historischer Bande des Osmanischen Reiches mit der arabischen Welt, der Stärkung muslimischer Affinitäten, um „strategische Tiefe“ in der Nachbarschaft zu schaffen, sich als Brücke zwischen Westen und islamischer Welt zu präsentieren und schließlich zu einer Weltmacht aufzubauen.
Demütigende Abfuhr für Erdogan
Zu diesem Ziel betrieb die AK-Regierung eine intensive regionale Diplomatie, stärkte die Wirtschaftsbande mit den Nachbarn, insbesondere mit Iran und Syrien und untergrub damit zugleich die Bemühungen des NATO-Partners USA, diese beiden Staaten international zu isolieren. Trotz der weiterhin lebendigen Freundschaft mit Washington, strebt Erdogan nach einer unabhängigen, nicht mehr voll auf den Westen und die EU orientierten Außenpolitik. Doch mit dem fortschreitenden „Arabischen Frühling“ ist die türkische Strategie der „Null-Probleme“ kläglich gescheitert. „Null-Probleme“ ist in Wahrheit der Euphemismus für „Freundschaft mit Diktatoren“, vom Libyer Gadafi, über den Syrer Assad bis zum Iraner Ahmadinedschad. Die Aktivisten des „Arabischen Frühlings“, die monatelang ihr Leben im Kampf um Freiheit, Menschenrechte und Würde riskierten und immer noch riskieren, verzeihen Erdogan nicht, dass er das Problem der Unterdrückung arabischer Völker durch die mit ihm befreundeten Tyrannen in den jahrelangen Beziehungen ignorierte, ganz zu schweigen von den Schikanen, den Menschenrechtsverletzungen an seiner eigenen kurdischen Bevölkerung.
So erlitt Erdogan eine demütigende Abfuhr, als er sich nach dem Sturz der Autokraten in Ägypten, in Libyen und in Tunesien als der Hüter und Förderer eines zukunftsträchtigen politischen Modells für die islamische Welt präsentierte und damit den Aufstieg zur neuen regionalen Großmacht erhoffte. Diesem Türken, der seine Probleme mit seinen kurdischen Untertanen primär durch Folter, Gefängnis und den Einsatz seiner Armee – vergeblich – zu lösen versucht und dabei die Souveränität des Nachbarstaates regelmäßig verletzt, vertrauen nur wenige in der Region. Da nützt es auch nichts, selbst wenn er sich wortgewaltig um die emotionalsten Sorgen der Araber annimmt, die Palästinenser, und damit Teheran, lautstarker Verfechter palästinensischen Selbstbestimmungsrechts, die Show zu stehlen versucht. Nicht zuletzt hat auch Erdogans Versagen, seinen strategischen Bündnispartner (gegen die PKK) Assad zu Reformen zu drängen den schwachen Einfluß entlarvt, den die heutige Türkei unter den Nachbarn, ja in der gesamten arabischen Welt besitzt. Vielmehr mehren sich die Anzeichen, dass sich Assad die PKK in Syrien warmhält, um sie, wenn nötig, wie einst sein Vater, als starke Karte gegen Ankara auszuspielen.
Die rasche politische Kehrtwende – Distanz zu Assad etwa – hilft wenig, um neues Vertrauen aufzubauen. So hat Ankara viel an diplomatischer Schlagkraft in der Region verloren, während der iranische Gegenspieler zittert, dass sich sein wichtigstes Tor in die arabische Welt, zu den Schiiten des Libanons und zur Grenze des israelischen Feindes durch den wahrscheinlich unvermeidlichen Sturz des Assad-Regimes für immer schließen könnte. Zugleich verteidigt Erdogan sein angeschlagenes außenpolitisches Selbstbewusstsein durch Säbelrasseln etwa im Konflikt um Gasbohrrechte vor dem von türkischen Truppen besetzten Teil der Insel Zypern oder der Drohung, von Israel kritisierte Hilfslieferungen an die wie in einem großen Gefängnis eingeschlossenen Palästinenser in Gaza durch türkische Kriegsschiffe zu schützen.
Durch solch forsches Auftreten auf der Weltbühne wolle sich die Türkei größeren Manövrierraum gegenüber dem Westen verschaffen und diesem klar machen, dass er es sich nicht leisten könne, auf Ankaras Vermittlerrolle zu vernichten, analysiert Sinan Ülgen vom Think Tank „Carnegie Endowment“ („Testing Turkey’s Influence“, 28.9.2011)
Teheran verfolgt türkisches Muskelspiel mit einer Mischung aus Unbehagen und Schadenfreude. „Das säkulare System ist kein gutes Modell“ sticht der Ex-Kommandant der iranischen Revolutionsgarden und Berater des „Geistlichen Führers“ Khamenei , General Rahim Safavi, tief in türkische Wunden. Ankaras Politik sei unvereinbar mit den Idealen der muslimischen Bevölkerung der Türkei. (Tehran Times, 8.10.2011) Dass das iranische Staatsmodell kaum mehr Attraktivität besitzt, tut für ihn nichts zur Sache.
Iranische Drohungen
Unterdessen löste auch Ankaras Zusage an die USA, in Ostanatolien die Stationierung eines NATO-Raketenabwehrsystems zu gestatten, eine Flutwelle von Attacken und Drohungen des iranischen Regimes aus, dessen zentrales außenpolitisches Anliegen totale Unabhängigkeit und eine von westlichen (Groß-)Mächten befreite Region ist. Die Türkei – so wettert Safavi – werde einen „hohen Preis“ bezahlen, wenn sie nicht ihre jüngsten „strategischen Fehler“ korrigiere. (press tv.ir., 20.20.2011) Offene Feindseligkeit dokumentiere die Türkei damit gegenüber der „Islamischen Republik“, die doch zu einer der wichtigsten Wirtschaftspartner aufgestiegen sei und den bilateralen Handel noch auf 30 Mrd. Dollar verdoppeln wolle, heißt es empört in Teheran, wo sich die Führung nicht durch Erdogans Beteuerungen beschwichtigen läßt, dass doch die Raketen gar nichts mit einer möglichen Abwehr iranischer Attacken gegen Israel zu tun hätten. Israel werde auch so untergehen, bemerken trotzig offizielle Kreise in Teheran. Und in die Zweckfreundschaft der beiden Rivalen kühlt immer stärker ab.
Doch wie stets in der Geschichte gibt es auch heute noch einen Bereich, der alle Zwietracht überdeckt: der gemeinsame Wunsch, den staatenlosen Kurden auf ihrem Boden auch nur die kleinste Chance auf ihr legitimes Selbstbestimmungsrecht zu verwehren. Syriens Diktator müsse weichen, wettert Erdogan nun offen, auf Sympathie der syrischen Opposition hoffend und spielt großzügig den Gastgeber für diverse Strategiekonferenzen über die Zukunft des Nachbarstaates ohne dem Assad-Clan. Doch was, wenn in einem neuen Syrien die etwa zwei Millionen Kurden nach irakischem Vorbild Autonomie erhalten? Was, wenn Syrien im Chaos versinkt und die Kurden die jahrzehntelange Knute des Regimes abschütteln und aktiv um ihre Freiheit ringen, auch um die ihrer Brüder und Blutsverwandten in der Türkei? Kaltes Schaudern jagen solche Aussichten den Strategen in Ankara, über den Rücken, ebenso wie jenen in Teheran. Auch die arabische Führung in Bagdad verfolgt das Geschehen mit tiefem Unbehagen. Wer in der Region will schon, dass dieses größte Volk der Welt ohne Staat sich selbst verwaltet? Wäre es da nicht doch besser, Assad die Macht zu erhalten, ihn aber so zu stärken, dass nicht sein strategischer Partner Iran auch jenseits dieser türkischen Grenze das Sagen erhält? Ein schier unlösbares Dilemma, in das der arabische Frühling nun Erdogan gestürzt hat.
Offen beklagt Shalal Gedo, Führer der „Linken Kurdenpartei in Syrien“ (Rudaw, 22.9.2011), Ankara versuche alles, um die syrische Opposition „in seine Dienste zu stellen“, damit „die Kurden nicht in einer neuen syrischen Verfassung geschützt werden“. Berichte, dass syrische Kurden – wiewohl zunächst zaghaft – beginnen, sich unter kurdischem Banner gegen Assad zu mobilisieren, sowie Sympathiebezeugungen der PKK für die bedrängten Brüder im Nachbarstaat lassen die Eröffnung einer neuen Front in dieser turbulenten Region befürchten.
Dunkle Schatten über Kurdistan
Für Erdogan gilt es unterdessen freilich die Felle im Irak, insbesondere im dortigen Kurdistan, vor einem expansiven Iran zu retten, wenn sich durch den US-Abzug für beide neue Chancen auf strategischen Vormarsch eröffnen. Die Kurden sind dieser Neuauflage des geostrategischen Rivalitätskampfes besonders empfindlich ausgesetzt.
Seit dem Sturz des irakischen Diktators Saddam Hussein 2003 haben die Türken einen großen dunklen Schatten über Kurdistan geworfen. Wohl von Washington bedrängt, fügte sich Erdogan schließlich in das Unvermeidliche und akzeptierte das Schreckgespenst der kurdischen Selbstverwaltung. Die bedrohlichen Viren politischer Eigenständigkeit, die sich von dort auf die kurdischen Brüder in der Türkei auszubreiten drohten, bekämpfte Ankara mit kluger und äußerst erfolgreicher Strategie. Wenn es die Autonomie schon nicht verhindern konnte, dann soll sie unter türkischem Segen und totaler Abhängigkeit fortexistieren. Damit läßt sie sich jederzeit bei Bedarf strangulieren. Die Türkei baute eifrig Straßen und Flughäfen, sowie diverse andere strategische Einrichtungen und stellte damit einen Fuss voll in die historisch von ihr beanspruchte kurdische Nachbarregion. Die Hälfte der unterdessen im relativ sicheren Kurdistan niedergelassenen ausländischen Firmen, 1.200 an der Zahl, sind türkische, ein paar Dutzend iranische. 80 Prozent der heute in Kurdistan importierten Waren stammen aus der Türkei, ein kleinerer Teil davon aus dem Iran.
Militärisch ist die Türkei seit den 90er Jahren in Kurdistan präsent, seit jenem unglückseligen Krieg zwischen den Peschmergas des heutigen Präsidenten Kurdistans, Massoud Barzani, und jenen der Patriotischen Union Kurdistans des derzeitigen irakischen Präsidenten Talabani. Mehrmals in den vergangenen Wochen appellierte das Parlament Kurdistans in Erbil an die Türkei, diese einst zum Schutz Barzanis gegen Talabani errichteten Stützpunkte, sowie andere Geheimdiensteinrichtungen zu schließen, damit irakisch-Kurdistan nicht zu einem neuen Schlachtfeld werde. („alsumaria.TV“).
Die historische Feindschaft zwischen Nordiraks Kurden und der Türkei hat sich in eine durchaus ökonomisch fruchtbare Kooperation verwandelt, in der Ankara dem kurdischen Ölreich das Tor zu den westlichen Märkten öffnet und sich dominierenden strategischen Einfluss über das einstige osmanische Wilayet Mosul sichert. Den Verlust dieser Großprovinz mit ihren reichen Ölquellen in der Region Kirkuk an die britischen Eroberer dieses Gebietes 1918 haben türkische Nationalisten bis heute nicht verschmerzt.
„Vasallen“ der Türkei?
Wenn auch die irakische Kurdenführung – vorerst – die materiellen Früchte der intensiven Kooperation mit dem alten Feind der Kurden genießt, in privaten Kreisen Bagdads erheben sich unter arabischen Politikern sorgenvolle Stimmen, die befürchten, Ankara erstrebe die Kontrolle über Nord-Iraks Wirtschaft und Politik, um de facto das ehemalige Wilayet Mosul „in einen eindeutig türkischen Machtbereich einzugliedern“. (United States Institute of Peace“: „The Coming Turkish Iranian Competition in Iraq“, June 2011). Und auch manche kurdische Politiker quält der Verdacht, dass Erdogan Kurdistan in ökonomische Abhängigkeit zwingen wolle, um die Region zu einem „Vasallen“ zu machen.
Auch Teheran beobachtet Ankaras Strategie im Irak mit großem Unbehagen. Schon haben die Türken auch begonnen im überwiegend schiitischen Südirak, dem Kerngebiet iranischen Einflusses, Fuß zu fassen. Und von anderer Seite droht neuer Widerstand gegen das vom Iran angepeilte Ziel eines schwachen, von Schiiten unter seinem dominierenden Einfluss regierten Irak: Saudi-Arabien, sunnitischer Erzrivale in der Region. Der jahrelange Kalte Krieg zwischen beiden Staaten droht nun nach der Aufdeckung eines mutmaßlich vom Iran angezettelten Attentatsversuchs gegen den saudischen Botschafter in Washington zu einem blutigen Stellvertreterkrieg zu entarten, erneut, wie bereits nach dem Sturz Saddam Husseins, auf irakischem Boden. Diplomatische Quellen berichten, Riad sei schockiert über die Absicht US-Präsident Obamas, alle US-Soldaten bis zum Jahresende aus dem Irak abzuziehen und damit, wie die Saudis es verstehen, iranischer Vorherrschaft Tür und Tor zu öffnen. „Iran stellt eine direkte und unmittelbare Bedrohung nicht nur für das (saudische) Königshaus dar, sondern für die Sunniten in der ganzen Region“, warnt ein führendes Mitglied des Regimes in Riad. „Wenn Washington nicht unsere Interessen in der Region schützen kann, dann werden wir dies selbst tun müssen.“ („Wall Street Journal“, 17.10.2011).
Immerhin waren es die Saudis gewesen, die lange den gewalttätigen sunnitischen Widerstand gegen Schiiten – aber auch Amerikaner – im Irak unterstützt und saudische Jihadis in das Kampfgebiet an Euphrat und Tigris entsandt hatten. Auch damals ging es darum, Irans Vormarsch zurückzudrängen.
Den gequälten Irakern, auch den Kurden, die im Norden jahrelang eine Ruhe und Prosperität erlebten wie nie zuvor, stehen turbulente Zeiten bevor. Auf den Berghöhen des Zagros richten Iraner ihre Stützpunkte ein, um jede Bewegung im umkämpften Land zu kontrollieren, die Türken sind schon allgegenwärtig, und die Saudis finden offene Türen. Dazwischen eingequetscht ist der kurdische Erzfeind, der auch unter den irakisch-arabischen Brüdern auf viel Mißtrauen stößt. Iran und die Türkei werden alles daran setzen, nun den uralten Plan zu vollenden: die Errichtung von entvölkerten, verminten „Schutzzonen“ entlang ihrer Grenzen, damit nur sie über die „Freiheit“ irakisch-Kurdistans entscheiden und die Bevölkerung dort als Geiseln halten können.
Dieser Artikel erschien in „Le Monde Diplomatique kurdi“, November 2011
Sonntag, 13. November 2011
Geiseln eines blutigen Rivalitätskampfes
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